Kurzes #29 – Ein Spaziergang

von
Armin A. Alexander

Tillmann fühlte sich mehr im Urlaub als in einem neuen Haus. Des Morgens stand er nicht sofort auf, sondern sah zum Fenster, durch das er das Laub der großen vor dem Haus stehenden Buche sehen konnte. Ein durch das leicht geöffnete Fenster hereindringender Luftzug spielte mit der Gardine. Die Sonne warf einen hellen Fleck auf den Boden vor dem Bett. Der Gesang der Vögel war das vorherrschende Geräusch, lediglich vom entfernten Brummen eines Traktors durchbrochen. Die Aussicht, daß am kommenden Samstagmorgen Solveig neben ihm liegen würde, steigerte seine innere Zufriedenheit noch ein wenig.

Nach einem ausgiebigen Räkeln stand er auf. Er duschte schnell und ging in die Küche hinunter. Während er ein belegtes Brot aß und eine Tasse Tee dazu trank, sah er aus dem Küchenfenster, das ihm einen ungehinderten Blick auf das gegenüberliegende Haus gestattete, von dem er nur wußte, daß es von einer Frau bewohnt wurde. Gesehen hatte er sie noch nicht.

Er überlegte, ob er sich noch ein Brot mit Camembert machen sollte, als seine Nachbarin aus dem Haus trat und gemächlich zum Briefkasten ging, der neben dem niedrigen Gartentor angebracht war. Sie schloß ihn auf und entnahm sie ihm eine Zeitung und einen Brief, wobei sie ihm das Profil zuwandte. Den Brief öffnete sie sogleich, benutzte dazu einen der Schlüssel als Brieföffner. Sie las ihn, was ihm Zeit gab, sie in Ruhe zu betrachten.

Sie war relativ groß, zum Molligen neigend. Allerdings war das überschlanke Schönheitsideal, das mehr an Magerkeit grenzte, nie seine Sache gewesen. Das lange üppige schwarze Haar trug sie nachlässig im Nacken zusammengebunden, als wäre sie erst vor wenigen Minuten aufgestanden und hätte noch keine Zeit gefunden, sich zu kämmen. Zum leichten roten Pullover trug sie eine hautenge dunkelblaue ein wenig speckige Lederhose und Schuhe mit halbhohem Absatz. Während sie den Brief aufmerksam las, schüttelte sie mehrmals den Kopf, wobei ein amüsiertes Lächeln ihre vollen Lippen umspielte. Begleitet von einem Kopfschütteln steckte sie den Brief leicht achtlos wieder in den Umschlag und ging ins Haus zurück.

Er trank seinen Tee aus und setzte sich mit einem Buch auf die Terrasse. Ab und zu las er einige Absätze, die meiste Zeit jedoch genoß er den Bilderbuchfrühlingstag, die Ruhe, die nur vom Gesang der Vögel und dem entfernten Brummen eines Traktors durchbrochen wurde, der auf irgendeinem Feld seine Furchen zog. Hier schien es keine Eile zu geben und alles ausschließlich dem Rhythmus der Jahreszeiten unterworfen zu sein. Er fragte sich, warum er nicht schon vor Jahren auf die Idee gekommen war, der lärmenden und hektischen Großstadt den Rücken zu kehren. Beruflich war er schließlich nicht an die Stadt gebunden, die vom örtlichen Bahnhof in etwas mehr als einer Stunde problemlos erreicht werden konnte.

Nachdem er etwa zwei Stunden gemütlich auf der Terrasse verbracht hatte, entschloß er sich zu einer Erkundung der näheren Umgebung. Bisher hatte er noch nicht viel davon gesehen.

Wenige Meter hinter dem Haus ging die Straße abrupt in einen schmalen Feldweg über, dessen Asphalt an vielen Stellen brüchig geworden war.

Er achtete nicht weiter darauf. Sein Blick galt der Umgebung, dem nahen Waldrand zur linken Seite. Zur rechten lagen die fast in voller Blüte stehenden Weizenfelder. Hinter ihnen begann in rund zwei bis dreihundert Metern Entfernung ebenfalls der Wald. Eines der Weizenfelder reichte fast bis an Tillmanns Grundstück, nur durch einen etwa fünf Meter breiten verwilderten Grünstreifen getrennt. Hinter dem Haus seiner Nachbarin schloß sich der Wald fast unmittelbar an, nur durch eine relativ breite, teilweise von hohem Gras bewachsene Schneise getrennt.

Der Feldweg verlief in einem großzügigen Bogen. Zur Linken lag jetzt ein Rübenfeld. Tillmann fragte sich, wie lange der Weg noch asphaltiert war, oder was in diesem als asphaltiert galt. Er hatte den Eindruck, daß es ruhiger wurde je weiter er sich vom Ort entfernte. Nur noch Vogelgesang und leises Blätterrauschen, das von einem leichten, kaum wahrnehmbaren Wind herrührte. Der Traktor war nicht mehr zu hören. Der Wald näherte sich dem Weg und verdrängte die Felder.

Tillmann hatte den Rand des letzten Feldes erreicht. Der Wald säumte jetzt zu beiden Seiten den immer noch asphaltierten Weg. Lediglich ein beidseitiger breiter Grünstreifen trennte ihn vom Waldrand, wodurch der Feldweg den Charakter einer Zufahrtsstraße bekam. Zudem stieg er steiler an, aber nicht so steil, daß das Gehen anstrengend geworden wäre.

Der Wald – rechts überwiegend hohe dicht stehende Tannen, links etwas luftigerer Mischwald – beschattet den Weg. Während die Tannen nur wenig Sonnenstrahlen bis zum Boden dringen ließen, brach sich das Sonnenlicht auf faszinierende Weise im Laub des Mischwaldes. Immer wieder blieb Tillmann stehen, betrachtete ausgiebig das sich ihm bietende Lichtspiel und atmete tief die frische Waldluft ein.

Wie lange er bereits unterwegs war, konnte er nicht sagen – wie üblich hatte er keine Uhr dabei – als plötzlich der Tannenwald auf der rechten Seite endete und holzumzäunten sonnendurchfluteten Weideflächen Platz machte, diese jedoch von allen Seiten vom Wald begrenzt wurden.

Er ging den spürbar flacher verlaufenden asphaltierten Weg weiter entlang, der plötzlich auf einer Kuppe endete. Er ging nicht in einen unbefestigten Weg über, sondern hörte einfach an einer Rasenfläche auf.

Er ging auf dem Rasen noch einige Meter weiter. Aber der Weg setzte sich nirgends fort und der nahe Waldrand ließ keine Lücke erkennen, die auf einen Weg wies.

Er blieb stehen und sah sich um. Er befand sich auf der höchsten Stelle der Lichtung und besaß einen guten Überblick über die Weiden. Er würde am Wochenende Solveig hier hinaufführen. Es würde ihr sicherlich gefallen. Er fragte sich, wie oft sich jemand hierher verirrte und wie oft die Weiden von ihren Besitzern angefahren wurden.

Er ging wieder zurück. Er hatte weiter unten einen unbefestigten Weg gesehen, der in den Mischwald hineinführte.

Bergab geht es erfahrungsgemäß schneller und doch wunderte Tillmann sich, daß er jenen Weg nicht erreichte. Entweder lag er noch ein gutes Stück bergab, als er sich erinnern konnte – da er oft stehengeblieben war, um das Lichtspiel im Unterholz zu betrachten, konnte der Weg ihm weniger weit vorgekommen sein – oder er war bereits an ihm vorbeigelaufen. Er glaubte schon, daß er nicht mehr weit von den Feldern vor seinem Haus entfernt war, obwohl nichts darauf hindeutete, daß der Weg bald aus dem Wald hinausführte, da erblickte er einen in den Mischwald hineinführenden Weg. Ob es der war, den er meinte oder ein anderer, den er übersehen haben mochte, störte ihn nicht. Entdeckerfreudig betrat er den Weg, der schon nach wenigen Meter in leichten Mäandern verlief.

Er schritt fröhlich und mit sich und der Welt in Einklang aus. Er fühlte sich fast wie im Paradies. Es fehlte eigentlich nur eine passende Eva. Bis Freitag würde er sich noch gedulden müssen. Obwohl Solveig ja nicht in erster Linie kam, um mit ihm durch die Natur zu spazieren.

Er ließ die Blicke ausgiebig nach rechts und links schweifen. Erst nach einiger Zeit fiel ihm auf, daß er nicht mehr allein war, sondern vor ihm in einiger Entfernung eine Frau ging. Er konnte sich durch die relativ große Entfernung täuschen, aber es schien seine Nachbarin zu sein. Sie ging gemächlich aber entschlossen und schien in Gedanken versunken.

Er ging schneller und nach wenigen Minuten hatte er soweit aufgeholt, daß seine Einschätzung zur Gewißheit wurde – es war seine schöne Nachbarin. Das Haar hatte sie noch immer nachlässig im Nacken zusammengebunden. Wie auch die Lederhose die gleiche zu sein schien. Nur trug sie jetzt flache Schuhe und eine taillierte Lederjacke.

Er verringerte den Abstand auf vielleicht dreißig Meter. Er war neugierig, welchen Weg sie gehen würde.

Sie schien sich allein zu fühlen. Sie waren zwei einsame Spaziergänger an einem schönen Frühlingsnachmittag. Sie schien keine Eile zu haben, zum Haus zurückzukehren, wechselte nach einiger Zeit auf einen Weg, der sie tiefer in den Wald hineinführte.

Er war so in die Betrachtung seiner schönen Nachbarin versunken, daß es für ihn überraschend kam, als sie plötzlich gut einhundert Meter oberhalb ihrer beiden Häuser auf dem Forstweg, der hinter ihrem Haus vorbeiführte, standen. Er folgte ihr noch ein Stück, ehe er stehen blieb. Ein über ihn hinweg fliegender Vogel lenkte für einen Moment seine Aufmerksamkeit auf sich.

Als er wieder geradeaus sah, war seine Nachbarin, die sich ungefähr auf der Höhe ihres Hauses befunden hatte, nicht mehr zu sehen. Er wartete einige Minuten ab, dann ging er weiter. Das Rätsel über ihr Verschwinden löste sich schnell. Er entdeckte eine Tür im Zaun hinter ihrem Haus. Aus Angst, er könnte von ihr bemerkt werden, wenn er zu lange hier stehenblieb, ging er weiter, bis ein Weg abzweigte, der direkt auf die Zufahrtsstraße zu seinem Haus führte.

Die Sonne stand bereits tief über dem Horizont. Langsam ging er zum Haus zurück. Obwohl er lange Spaziergänge gewöhnt war, merkte doch, daß er lange gelaufen war.

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