Kurzes #32 – Nächtliche Schritte

von
Armin A. Alexander

Der folgende Text ist ein kurzer Auszug des Roman »Adalberts Erbe«. Zur Zeit noch in Bearbeitung.

Während der Nacht schlief Malte unruhig. Er hatte die Tür zu seinem Zimmer geschlossen als fürchtete er, die Leere im Haus könnte in der Nacht auch sein Zimmer besetzen.
Zuvor hatte er lange wach gelegen, versucht sich mit einem Buch abzulenken. Das Fenster hatte er leicht geöffnet gelassen. Von den verwilderten Sträuchern, die vor dem Haus wuchsen, stieg süßlich herber Duft ins Zimmer. Das Zirpen der Grillen war in der Stille gut zu vernehmen – ein Geräusch, das er in der Stadt vermißte. Das Laub der beiden Buchen rauschte leise im seichten Nachtwind.
Es war ihm gelungen zwei Seiten an einem Stück in seinem Buch zu lesen – er hatte sich jenen Band mit orientalischen Märchen aus der Bibliothek geholt – als ihn näherkommende Schritte aufhorchen ließen. Normalerweise gewöhnliche Geräusche wie das Vorbeifahren eines Autos oder Schritte auf dem Pflaster waren zu nächtlicher Stunde in dieser Seitenstraße derart selten, daß sie sofort aufhorchen ließen.
Verständlich, daß das langsam näherkommende rhythmische Klacken hoher Absätze auf Betonplatten seine Aufmerksamkeit weckte. Sofort stellte er sich von einem Schmunzeln begleitet vor – da ihm seine Vorstellung etwas reichlich klischeehaft erschien –, wie diese Frau von ihrem Liebhaber kam, noch ganz in der Erinnerung an die angenehmen sinnlichen und erfüllten Stunden, noch den Geruch des Geliebten am Körper.
Doch so richtig wollte ihm eine romantische Vorstellung nicht gelingen. Zu sehr war er mit den Gedanken bei seinem verstorbenen Patenonkel, zudem machte ihm die bereits vor über drei Monaten erfolgte Trennung von einer Frau nach beinahe dreijähriger Beziehung immer noch zu schaffen. Zwar hatte das Ende ihrer Beziehung sich durchaus lange zuvor angekündigt, obwohl er es damals nicht hatte wahrhaben wollen, aber als sie dann doch die Beziehung beendete, hatte es ihn überrascht und geschmerzt, obwohl ihm bewußt war, daß er eigentlich nur noch Freundschaft für sie empfunden hatte. Dennoch lauschte Malte weiterhin den sich nähernden Schritten, bis deren Urheberin entweder vorbei oder in eines der umliegenden Häuser gegangen wäre.
Als die Schritte ungefähr auf der Höhe seines Hauses angelangt waren, verstummten sie plötzlich. Die Frau war offenkundig stehen geblieben. Vermutlich war das Haus gegenüber ihr Ziel und in wenigen Augenblicken würde er dessen Tür gehen hören, wenn sie diese nicht so leise schloß, daß er nichts davon mitbekam.
Doch blieb das Geräusch einer ins Schloß gezogenen Haustür aus. Nach wenigen Minuten, einem bedeutend längeren Zeitraum als selbst in der unübersichtlichsten Tasche benötigt wurde, um nach dem Hausschlüssel erfolgreich zu suchen, vermutete er, daß sie wirklich die Haustür so leise geschlossen hatte, daß es ihm entgangen war. Mit einem gleichgültigen Achselzucken versuchte er sich wieder auf sein Buch zu konzentrieren.
Er hatte kaum einen weiteren Absatz gelesen, da erinnerte er sich plötzlich an die Schöne vom Friedhof am Nachmittag, die er fast vergessen hatte. Eine interessante Frau, keine Frage. Schade, daß man Frauen wie ihr eher selten begegnet auch in der Stadt, wo sie doch häufiger anzutreffen sein sollten. Zumindest mußte sie beruflich erfolgreich sein, um sich in ihrem Alter bereits derart teure Garderobe leisten zu können. Wenn es nun diese Frau war, deren Schritte er vorhin gehört hatte? Für einen Moment formte sich vor seinem geistigen Augen das Bild, wie sie die Hände in den Taschen ihrer langen Lederjacke – ohne dunkle Brille – gemächlich durch seine Straße ging, entlang der hohen Mauer vor seinem Haus. Doch er verwarf dieses Bild sofort, wenn auch nicht ohne Bedauern. Aber dann müßte sie ja vor seinem Tor stehengeblieben sein und noch immer dort stehen, wofür es nun wirklich nicht den geringsten Grund gab. Jene nächtliche Spaziergängerin von vorhin konnte jedoch nur auf der gegenüberliegenden Seite geschritten und ins Haus gegenüber gegangen sein, alles andere wäre unrealistisch.
Malte atmete tief durch, bedauerte es ein wenig, wie banal das Leben leider nur allzuoft ist, und widmete sich wieder seinem Buch.
Er las einen weiteren Absatz und noch einen und schon hatte er wieder zwei Seiten geschafft. Doch so richtig müde wurde er nicht, obwohl er am Morgen ungewohnt früh aufgestanden war, und keine der Nächte, seit er den Brief vom alten Notar erhalten, wirklich durchgeschlafen hatte.
Da erschollen die Schritte unmittelbar nach einem leichten Scharren auf dem Pflaster von neuem und entfernten sich langsam, und wie es ihm schien – nachdenklich; insofern man Stimmungen anhand von Schrittgeräuschen beurteilen kann. Die Frau war also nicht in das Haus gegenüber gegangen, sondern mußte die ganze Zeit über auf dem Gehweg vor seinem oder dem gegenüberliegenden Haus gestanden haben. Wie ein leichter Schock durchfuhr es ihn, daß seine wilde Spekulation vielleicht gar keine solche sein könnte. Doch er verwarf den Gedanken sofort wieder, schließlich war er noch nie ein Anhänger des Solipzismus gewesen.
Malte warf einen Blick auf die Uhr. Es war später als er vermutet hatte. Er versuchte sich zu erinnern, wann die Schritte plötzlich verstummt waren, konnte sich aber nur ungefähr daran erinnern. Wie dem auch sei, sie mußte annähernd eine Stunde vor dem Haus gestanden, ohne sich gerührt zu haben. Das war auch ohne seine romantische Phantasie eigenartig genug. Warum stand jemand mitten in der Nacht – selbst wenn es eine angenehme Frühlingsnacht war – vor einem Haus ohne hineinzugehen? Es sei denn, er wartete auf jemanden – aber kaum mitten in der Nacht und fast eine Stunde lang. Wenn sich innerhalb der zurückliegenden Jahre nichts geändert hatte, wohnte im Haus gegenüber nur ein altes Ehepaar, in den Häusern rechts und links daneben ein pensionierter Arzt und ein älterer Architekt mit seiner Frau, die Kinder waren erwachsen und schon ein Jahr bevor Malte das letzte Mal hier zu Besuch gewesen war, ausgezogen. Wenn diese Frau Gast in einem dieser Häuser war, warum war sie dann nicht hineingegangen?
Malte schüttelte den Kopf. Was ging es ihn an? Ganz gleich was ihm zu diesem Thema einfiel; es waren in jedem Fall reine Spekulationen, eine so wahrscheinlich oder unwahrscheinlich wie die andere. Schließlich wußte er nichts über diese Frau und ihre Gründe, warum sie solange auf dem Gehweg gestanden hatte.
Malte mußte herzhaft gähnen. Die Müdigkeit schien letztlich doch ihren Tribut zu fordern. Er schlug das Buch zu und legte es auf den Nachttisch. Dann schaltete er die Nachttischlampe aus. Im Dunkeln liegend – die Straßenlaterne, die unweit seiner Einfahrt stand, erhellte das Zimmer schwach – dachte er nur noch kurz an die vermeintlich mysteriösen Schritte, bis sie wieder der geheimnisvollen Person mit der er das Erbe seines Patenonkels teilen sollte, Platz machten; das war in Maltes Augen wirklich mysteriös.

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