Kurzes #43 – Eine Geschichte aus den Mooren

von
Armin A. Alexander

Es kündigte sich an, ein regnerischer Tag zu werden, und kaum daß sie die behagliche Geborgenheit des Hauses verlassen hatten, fielen die ersten Tropfen. Gernot beeilte sich, in den Geländewagen einzusteigen, Bernice legte keine Eile an den Tag, die wenigen, eher spärlich fallenden Tropfen schienen ihr nicht die leiseste Aufmerksamkeit wert zu sein.
Im Wagen sitzend, während Bernice gemächlich das Heck umrundete, um zur Fahrerseite zu gelangen, kam Gernot seine Flucht vor den Tropfen selbst ein wenig übertrieben vor. Sie waren zwar ungewöhnlich dick, wirkten als seien sie aus dünnflüssigem Öl, aber man mußte sich schon ein wenig anstrengen, wollte man wirklich von ihnen getroffen werden.
Gernot warf einen Blick auf die niedrige, aus lose und ohne Mörtel aufeinandergelegten Feldbruchsteinen bestehende Mauer, die den eher kärglichen Vorgarten umfriedete und aus deren Ritzen Moos und Gräser wuchsen. Zwischen dieser Mauer und der schmalen Straße, deren Asphalt an einigen Stellen brüchig war – nicht vom Verkehr, außer einem Heu einfahrenden Traktor verirrten sich nur wenige Fahrzeuge hierhin, sondern von der Witterung –, lag nur ein etwa einen Meter breiter Streifen fetten, saftiggrünen Grases, eigentlich mehr eine Art flacher Graben, der aber nie Wasser führte; zu gierig sog der Boden dieser Landschaft jeden fallenden Tropfen auf.
Gernots kondensierender Atmen beschlug schnell die Seitenscheibe. Obwohl bereits Mitte Mai war die Luft noch recht frisch. Er zog den Reißverschluß seiner Jacke noch ein wenig höher.
Bernice stieg wortlos ein und startete den Motor. Als ihr gemütliches, weit außerhalb des kleinen Dorfes liegendes altes Haus ihren Blicken entschwunden war, fielen die Tropfen dichter und sie mußte die Scheibenwischer einschalten. Der Regen trommelte auf das Blech, vermischte sich mit dem gleichmäßigen Singen des Motors und ließ in Gernot ein Gefühl der Behaglichkeit und Geborgenheit aufkommen. In der Ferne fuhr ein Traktor über eine der Wiesen.
Die Schauer ebbte schnell ab. Die Vormittagssonne bahnte sich mühsam einen Weg durch die Wolken, brach sich in den noch vereinzelt fallenden Regentropfen und tauchte für kurz die weite Moorlandschaft in ein bizarres grelles und wäßriges Licht, ließ lange Schatten entstehen, bis sich die nächste Wolke vor sie schob und die Landschaft wieder in das vorherige matte Licht zurückfiel. Der Wind, der in schwachen Böen über das Land strich, schob die Wolken vor sich her, als treibe er eine Herde grauer Schafe über eine endlose blaue Weide. Große, graue Felsen ragten aus dem dichten, in allen nur denkbaren Grüntönen schillernden Teppich aus Moosen, Gräsern und Heidekräutern empor. Dieses Schauspiel wirkte auf einen Fremden faszinierend und unwirklich zugleich. Immer wieder drückte der Wind einzelne Regentropfen an die Scheiben. Bernice hatte die Scheibenwischer abgestellt. Gelegentlich tauchte in der Ferne ein kleiner Hain mit knorrigen Bäumen und Büschen hinter einem der größeren Felsen auf, um nach einer Weile hinter dem nächsten zu verschwinden, wenn die Straße einer Biegung folgte oder durch eine Bodensenke führte.
Erneut brach die Sonne kurz durch die Wolken, um sogleich wieder dahinter, diesmal für länger, zu verschwinden, um abermals einsetzendem Regen das Feld zu überlassen. Der Asphalt glänzte vor Nässe. Die Wolken schienen nach allen Seiten undurchdringlich und Gernot glaubte schon, daß er sich das kurze Durchbrechen der Sonne nur eingebildet hatte. Die Landschaft wurde mit länger werdender Fahrt zwar hügeliger, veränderte aber sonst kaum ihr Aussehen.
Es war eine eigenwillige Landschaft. Obwohl Gernot schon zwei Wochen hier weilte, erschien sie ihm so geheimnisvoll und unwirklich wie bei seiner Ankunft.
Nach Einbruch der Dunkelheit, die hier ihrem Namen alle Ehre machte, nur rund um den Anger des kleinen Dorfes, der einzigen menschlichen Siedlung in dieser fast endlos erscheinenden Weite, gab es einige Straßenlaternen, herrschte hier absolute Stille, die nur durch den Schrei einer Eule, der hier, wie die meisten Geräusche kilometerweit zu hören war, oder eines anderen nachtaktiven Tieres für einen Augenblick durchbrochen wurde. Einige dieser Laute, deren Quelle augenscheinlich im Vorgarten vermutet werden konnte, so deutlich drangen sie an das Ohr, hatten in Wirklichkeit weit hinten in der Heide ihren Ursprung. In Gernots erster Nacht schien der Mond nicht und nachdem er das Licht gelöscht hatte, glaubte er in der endlosen Weite der Dunkelheit gefangen zu sein.
Wie zu Hause, schlief er auch hier bei offenem Fenster und lernte so schnell das dicke schwere Bettzeug schätzen, das hier gang und gäbe war, denn trotz der Jahreszeit wurde es des Nachts empfindlich kühl.
Gernot sah den Wolken nach, die der Wind vor sich her trieb. Ab und an zog ein Vogel über der Heide hinweg. Um sie herum war nur Heide und die Straße schien der einzige Beleg für die Existenz einer menschlichen Siedlung zu sein. Das Gras auf den meisten Wiesen war kurz, viele schienen erst vor kurzem abgemäht worden zu sein, und von einem derart tiefen Grün, das man wohl nur in einer derart niederschlagsreichen Gegend zu sehen bekommt.
Fast alle Wiesen waren vor der Winderosion durch niedrige Wälle aus lose aufeinandergeschichteten unbehauenen Stein geschützt, die stellenweise selbst von Gras und Moosen fast vollständig überwuchert waren. Feldwege durchbrachen gelegentlich diese niedrigen Wälle.
Die Umwelt hier war noch weitgehend intakt, das ganze Gebiet stand schon seit langem unter Naturschutz. Das Moor hatte sich trotz jahrhundertelanger Bemühungen nie trocken legen lassen, soviel auch abfloß, soviel floß auch zu. Der Untergrund, überwiegend aus dichtem Granit, ließ kein natürliches Versickern zu. Eiszeitgletscher hatten durch ihr gigantisches Gewicht eine viele Quadratkilometer messende Mulde hineingedrückt und den Untergrund dabei zusätzlich nachhaltig verdichtet.
»Es gibt hier einige klare Seen«, hatte Bernice Gernot schon am ersten Tag erzählt, »die einen problemlosen Blick auf den felsigen Untergrund zulassen.«
Sie hatte versprochen, sie ihm alle zu zeigen, auch das eigentliche Moor, das inmitten dieser endlosen Heidelandschaft eingebettet lag, vorausgesetzt, daß das Wetter mitspielte, was es seit zwei Wochen nicht getan hatte.
»Bei dieser feuchten und kühlen Witterung liegt fast immer dichter Nebel darüber, lediglich um die Mittagszeit verflüchtigt er sich für einige Stunden«, hatte sie erklärt.
Sie hatte ihm bereits am ersten Tag viel über dieses Land erzählt, auch Verhaltensregeln für einsame Wanderer.
»Außerdem sollte man immer einen Kompaß bei sich führen. Ich habe immer einen in meiner Jackentasche, wenn ich hinausfahre. Auch auf den Feldwegen kann man sich leicht verirren, denn hier sieht wirklich bald jeder Fleck wie der andere aus. Wirklich markante Geländepunkte gibt es hier nicht, auch die kleinen Haine und die großen Felsen, die aus dem Heideboden herausragen, gleichen sich oft wie ein Ei dem anderen.«
Nachdem sie ihm das erste Mal die Umgebung gezeigt hatte, mußte Gernot ihr recht geben.
Auch über die Siedlungsgeschichte berichtete sie ihm manches.
»Gerüchten zufolge sollen hier die ersten Siedlungen schon während der Eisenzeit entstanden sein, doch richtig bewiesen worden ist es bis heute nicht. Es wurden keinerlei Andeutung einer alten Siedlung gefunden. Verbrieft ist aber, daß die ersten zur Zeit Karls des Großen hier siedelten, etwas abseits vom jetzigen Dorf. Viele zog es nicht hierher, das Land ließ sich nicht in Ackerland umwandeln, es ist einfach zu feucht und der Boden zu fest. Doch brachte Viehzucht und Torfstechen ein karges aber ausreichendes Brot. Die zweite, richtige Besiedlungswelle brachte die Reformation. Verfolgte Reformierte flüchteten hierher. Über die Jahrhunderte war dieser Landstrich im Bewußtsein des herrschenden Adels und Klerus in eine Art wohltuende Vergessenheit geraten.«
Plötzlich verlangsamte Bernice das Tempo und bog in einen Feldweg ein, den sie ein gutes Stück entlang fuhr, ehe sie anhielt, anhalten mußte, denn der Weg war weiter nicht befahrbar. Vor ihnen lag ein großer See, dessen Oberfläche der Wind nur leicht kräuselte. An zwei Seiten wurde er von hohen Felsen begrenzt, die mehr als zwanzig Meter steil empor ragten und einen ausreichenden Windschutz boten. Das übrige Ufer war steinig, niedrige Heidesträucher wuchsen zwischen bemoosten Steinen der verschiedensten Größen.
Bernice stellte den Motor ab. Stille umfing schlagartig Bernice und Gernot. Vereinzelte Regentropfen schlugen an die Windschutzscheibe.
»Das ist einer meiner Lieblingsplätze«, sagte Bernice zum ersten Mal wieder etwas, seit sie abgefahren waren. »Es ist der größte See in dieser Gegend, er liegt auch am geschütztesten. Er ist tiefer als es den Anschein hat. Ich wollte dir diesen Platz gerne zeigen.«
Bernice stieg aus, Gernot folgte ihrem Beispiel.
»Gehen wir ein Stück«, entschied sie und ging um den Wagen herum zu Gernot. »Das ist einer dieser kristallklaren Seen, von denen ich dir erzählt habe«, fuhr sie fort und ging vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend zum Ufer. »Sei vorsichtig, man kann hier leicht ausgleiten. So fest wie die Felsen hier zu liegen scheinen sind sie nicht. Der Untergrund ist sehr brüchig.«
Es dauerte etwas bis sie das Ufer erreicht hatten. Bernice blieb auf einer kleinen, kiesigen, festen Fläche stehen, die Hände in die Taschen ihrer Jacke geschoben und schaute über die Wasseroberfläche. Der Wind spielte mit ihren Haaren.
»Dieser See besitzt einen beachtlichen Fischreichtum«, erklärte sie. »Gespeist wird er vom reichlichen Regen und einer Quelle, die zwischen den hohen Felsen dort entspringt und die selbst mit einem Boot nur schwer zu erreichen ist. Die Felsen sind an der Stelle besonders scharfkantig, auch wenn es von hier aus anders aussieht. Das Wasser ist eisig, selbst im Sommer. Die Sonne scheint nie lange genug darauf, um es auch in der Tiefe zu erwärmen. Man darf sich nicht davon täuschen lassen, wenn das Wasser hier am Ufer einmal warm sein sollte. Wenige Meter weiter bekommt man einen Kälteschock. Bei den Felsen ist es sehr tief. Ich war erst einmal nahe der Quelle, vor über zehn Jahren, mit einem Schlauchboot, allein. Die Landschaft hier ist schön, aber auch sehr gefährlich und ich hätte meine Entdeckungsfreude beinahe mit dem Leben bezahlt. Mein Schlauchboot wurde von einem dieser scharfkantigen Felsen unter der Wasserlinie aufgerissen. Zuerst bemerkte ich nichts davon, aber dann drang fast schlagartig Wasser ein. Ich paddelte schneller, fast schon panikartig. Unklugerweise war ich nicht nur mit einem Boot unterwegs, das keine feste Außenhaut besaß, sondern hatte auch keine Schwimmweste mitgenommen. Es war ein wirklich schöner Sommertag, strahlend blauer Himmel. Mit sechsundzwanzig Grad sogar recht heiß für unsere Gegend und das hatte mich unvorsichtig gemacht. Ich war noch rund zweihundert Meter vom Ufer entfernt, da sank das Schlauchboot wie ein Stein und mich umfing das eisige Wasser. Es war ein Schock, ich konnte mich im ersten Moment nicht bewegen, glaubte, daß mein Herz stehen bleiben würde. Zweihundert Meter sind zum Schwimmen nicht viel, und ich war schon immer eine gute Schwimmerin gewesen, aber im eisigen tiefen Wasser kann das eine nahezu unüberwindliche Strecke sein. Für den Moment war ich sogar versucht mich einfach auf den Grund sinken zu lassen, so träge und gleichgültig fühlte ich mich. Aber ich versuchte es trotzdem und hielt durch. Unterkühlt und erschöpft erreichte ich das Ufer. Dort hinten, wo es das erste Mal so flach wird, daß man bis ganz ans Wasser treten kann. Ich war blaugefroren. Ich zog mich als erstes ganz aus, damit mein Körper gänzlich den Sonnenstrahlen ausgesetzt war. Aber so heiß es auch in der prallen Sonne war, so sehr fror ich, als wäre es ein eisiger Januartag. Ich raffte meine nassen Sachen zusammen, ich wollte nicht, daß sie am Ende jemand fand und dadurch von meiner Dummheit erfuhr. Ich schleppte mich zitternd und bebend zu meinem Wagen, riß mir Füße und Waden an den dornigen kleinen Büschen und den spitzen Kieseln blutig. Doch ich fühlte keinerlei Schmerz. Mein Kreislauf schien aus dem Gleis geraten zu sein, mir war flau und ich glaubte, jeden Moment zusammenbrechen zu müssen. Mein Wagen hatte weit über eine Stunde mitten in der sengenden Sonne gestanden und im Inneren herrschten Backofentemperaturen. Wahrscheinlich rettete mir dies auch das Leben. Ich ließ die Fenster geschlossen, zog meine, auf dem Rücksitz liegende Jacke über und startete den Motor, stellte die Heizung auf voll und fuhr langsam nach Hause, wo ich ein ausgiebiges heißes Bad nahm. – Ich habe bisher niemanden etwas davon erzählt, schon gar nicht jemanden, der hier lebt und die Gefahren kennt, wie ich sie eigentlich auch hätte kennen sollen.«
Bernice schwieg. Sie hatte dieses Erlebnis fast ohne Emotionen vortragen, sie hatte Gernot nicht einmal dabei angesehen, ganz so als spräche sie mit sich selbst.
Dann sah sie Gernot an, schaute ihm fest in die Augen. Er hatte für einen Augenblick das Bedürfnis, diesem Blick auszuweichen. Ihre Persönlichkeit war ihm noch nie so stark erschienen. Es war das erste Mal, daß er sich ihr unterlegen fühlte. Sie hatte eine extreme Erfahrung gemacht, der er nichts Gleichwertiges entgegensetzen konnte.
»Du bist der erste Mensch, dem ich das erzähle. Auf meiner Rückfahrt hat mich niemand gesehen, da ich überwiegend Feldwege benutzte und es vermied durchs Dorf zu fahren. Mein Boot liegt noch immer auf dem Grund des Sees. Trotz allem komme ich seit diesem Ereignis noch lieber als davor hierher. Ich habe die Genugtuung, daß ich der Natur hier etwas abgerungen habe: mein Leben, auch wenn das pathetisch klingen sollte. Ich lebe seitdem bewußter. Ich finde, daß du das wissen solltest. – So, und jetzt fahren wir weiter.«
Sie ging zum Wagen zurück. Gernot folgte ihr wortlos. Flink wie eine Gemse bewegte sie sich über die Felsen.
Gernot vermochte nicht zu sagen, warum sie ihm etwas erzählte, was sie bisher noch keinem erzählt hatte, und warum erst jetzt, nach all den Jahren die sie sich schon kannten, gut kannten. Nachdenklich stieg er ein und setzte sich neben sie.
Bernice startete wortlos den Motor. Langsam fuhr sie den Feldweg rückwärts bis zur Straße.

 

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