Kurzes #57 – Der Brief

von
Armin A. Alexander

Kaffeeduft erfüllte wie jeden Morgen seit über fünf Jahrzehnten die kleine, zur Straße hinausliegende Küche im dritten Stock. Auf dem Küchentisch stand ein altmodischer Toastständer mit zwei frischen, leicht gebräunten Scheiben Toast neben einem Glas Erdbeermarmelade, einer Butterdose und einem Teller mit einem Stück Leberwurst und Holländerkäse.
Früher war die Küche um diese Zeit stets von Lärm erfüllt gewesen, schien sie zu klein für die beiden Kinder, ihren Mann und sie selbst zu sein. Wie oft hatte sie sich damals gewünscht, hin und wieder allein frühstücken zu können. Dabei liebte sie die Geschäftigkeit am Morgen, das fröhliche Lachen der Kinder, der stets halbverschlafene Zustand ihres Mannes.
Die Kinder waren größer und ruhiger geworden, waren seltener zum gemeinsamen Frühstück erschienen. Mit ihrem Auszug war es mit einem Schlag ruhiger und ihr Mann noch wortkarger als früher geworden. Sie aßen schweigend. Er las die Zeitung, bis es für ihn Zeit war, zur Arbeit zu fahren.
Als ihr Mann in den Ruhestand getreten war, hatten sie eine Stunde später gefrühstückt. Auch nach seinem plötzlichen Tod hatte sie diese Zeit beibehalten, obwohl sie eine Frühaufsteherin war.
Kamen die Enkelkinder für einige Tage zu Besuch, fühlte sie sich in die Zeit zurückversetzt, als deren Eltern noch klein waren und sich gleich um Jahre jünger.
Doch nun waren auch die Enkelkinder in einem Alter, in dem sie begannen, sich von den eigenen Eltern abzunabeln und besuchten auch sie seltener. Sie wußte, daß die geselligen Frühstücke mit Kinderlärm nun unwiderruflich vorbei waren, denn um der Lebendigkeit möglicher Urenkel standzuhalten, würde sie zu alt sein.
Sie goß sich eine Tasse Kaffee ein und setzte sich. Sie bestrich einen Toast mit Butter, wobei ihr Blick auf die alte Küchenuhr über der Tür fiel. In wenigen Minuten würde leise und doch vernehmlich zweimal kurz hintereinander die Klingel bei Webers zu hören sein, deren Name als erste auf der Klingelleiste stand. Jedem im Haus war die Art, wie die Klingel betätigt wurde, vertraut. Nur der Briefträger, der seit bald zwanzig Jahren die Post in ihrem Viertel austrug, betätigte sie auf diese Weise. Er kam fast immer zur selben Zeit, denn er führte seine morgendliche Tour mit beinahe schlafwandlerischer Sicherheit durch.
Wenige Augenblicke nach dem Klingeln würde der Summer ertönen und der Briefträger kurz darauf sein sonores »Post!« durchs Treppenhaus schallen lassen. Dann würden mehrmals, die an der linken Wand in drei Reihen angebrachten Briefkästen klapperten. Anschließend würde wieder die Haustür ins Schloß fallen und der Briefträger seine morgendliche Runde fortsetzen.
Früher war sie, sobald sie die Haustür ins Schloß fallen hörte, aufgestanden, hatte den Briefkastenschlüssel, an dem ein grüner Plastikanhänger befestigt war, auf dem in bereits leicht verblaßter, akkurater Handschrift verfaßt, »Briefkasten« stand, vom Schlüsselbrett genommen und war hinuntergegangen, um nach der Post zu sehen.
Ihre Eltern und die ihres Mannes, die nicht viel vom Telefon gehalten hatten, ihre beiden älteren Schwestern, denn Ferngespräche waren lange Zeit teuer gewesen, hatten regelmäßig geschrieben. Doch mit der Zeit wurden persönliche Briefe seltener. Die Eltern starben und Ferngespräche wurden billiger, so daß auch ihre Schwestern immer seltener schrieben. Mit ihren Kinder und ihren Enkelkinder telefonierte sie ausschließlich. Längst lagen fast nur noch Rechnungen und Reklame im Briefkasten, oder aber es kam nichts.
Das Telefon war ja auch eine praktische Errungenschaft, aber sie vermißte das intime eines Briefes. Für einen Brief muß man sich Zeit nehmen, gleichermaßen zum Lesen wie zum Schreiben. Gedanken werden meist ausformuliert, nicht nur angerissen, wie oft im mündlichen, wenn der nächste Gedanke sich schon aufdrängt, während der vorherige noch nicht ausgesprochen ist. Einen Brief kann man mehrmals lesen und in Ruhe auf ihn antworten.
Sie hatte gerade einen zweiten Toast mit Butter bestrichen, als sie das bekannte Klingeln hörte. Sie sah erneut auf die Uhr. Kaum fünf Minuten über der gewöhnlichen Zeit. Vernehmlich hallte das Klappern der Briefkästen durchs Treppenhaus, dann fiel die Haustür wieder ins Schloß.
Sie aß ihren Toast und trank noch eine zweite Tasse Kaffee. Dann ging sie, wie jeden Tag in den letzten fünfzig Jahren, nach unten zum Briefkasten.
Als sie ihn aufschloß, war sie überzeugt, daß er leer sein oder höchstens Reklame enthalten würde. An letzteres dachte sie sofort, als sie einen Umschlag herausholte. Beinahe flüchtig blickte sie darauf.
Doch das war keine Reklame. Sie erkannte die Handschrift von Thomas, ihrem jüngsten Enkel, die noch halb Kinderschrift war. Der Umschlag fühlte sich dick an.
Mechanisch schloß sie den Briefkasten und ging nach oben. Sie konnte es kaum erwarten, den Brief zu öffnen und zu lesen, was Thomas ihr geschrieben hatte.
Sie setzte sich an den Küchentisch, goß sich noch eine Tasse Kaffee ein. Das Lesen des Briefes wollte sie ausgiebig genießen.

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