Kurzes #61 – Der unbekannte nächtliche Anrufer

von
Armin A. Alexander

Das reizvolle Hell-Dunkelmuster, das das durch das Laub der großen Buche gebrochene Sonnenlicht auf den gepflegten Kiesweg warf und das durch den leichten Frühlingswind, der das Laub leise rauschen ließ, einer fortwährenden Änderung unterworfen war, entging Simons Aufmerksamkeit, obwohl er seit mehr als einer viertel Stunde wie gebannt darauf blickte.

Wie üblich zu früh, hätte er allein und entspannt auf dieser Bank sitzend, die vereinbarte Stunde abwarten und sich der Ruhe und der Schönheit dieses Parks, des bilderbuchhaften Frühlingswetters an diesem frühen Nachmittag erfreuen können, aber er saß, innerlich aufgewühlt, auf der Kante, wie ein Pennäler, der vor dem Direktorzimmer auf den mehr oder weniger verdienten Rüffel wartet.

Du bist ein Mann von vierzig Jahren, stehst sozusagen mitten im Leben, hast schon eine Menge Höhen und Tiefen erlebt und doch gebärdest dich wie ein pubertierender Jüngling vor seinem ersten Rendezvous.

Er schüttelte über sein Verhalten den Kopf. Was aber nichts an seiner inneren Unruhe änderte. Andererseits war seine augenblickliche Lage auch nicht gerade alltäglich. Ein blind date ist an sich nichts Ungewöhnliches und sich dazu in einem kleineren Hotel zu treffen, das in einem relativ ruhigen aber dennoch einigermaßen zentral gelegenen Stadtteil lag, ist ebensowenig etwas, über das man sich großartig Gedanken machen müßte. Doch war einem von seinem date außer einer Stimme am Telefon nicht einmal der Name bekannt, konnte das durchaus Anlaß zur Nervosität geben. Bis vor gut einem Monat hätte er sich absolut nicht verstellen, jemals in einem solch aufgewühlten Zustand zu geraten.

Simon hatte sich zumindest tagsüber angewöhnt, nicht mehr sofort abzunehmen, wenn auf der Anzeige des Telefons ›Unbekannt‹ zu sehen war, sondern das Einschalten des Anrufbeantworters abzuwarten. In der Regel hinterließ der Anrufer keine Nachricht, sondern hängte sofort ab, dann handelte es sich wieder einmal um einen unerwünschten Werbeanruf, die mittlerweile die Dimension einer biblischen Heimsuchung angenommen hatten. Hätte es im alten Ägypten bereits Telefone gegeben, wäre als schlimmste der sieben Plagen unzählige tägliche Werbeanrufe über das Land geschickt worden, begleitet von exzessiven Spam-mails.

Abends kam eigentlich nur sein bester und ältester Freund als ›Unbekannt‹ herein, er hatte sich aus dem Telefonbuch austragen lassen. Darum war Simon zuerst versucht »Hallo, altes Haus, du rufst aber spät an« zu sagen, als Punkt Mitternacht das Handgerät läutete, obwohl der Freund nur selten um diese späte Stunde anrief. Doch aus einem nicht näher nachvollziehbaren Grund meldete er sich in aller Förmlichkeit.

Einige Augenblicke herrschte Schweigen, die ihm weitaus länger erschienen als sie tatsächlich waren, lediglich leise und ruhige Atemzügen waren zu vernehmen. Er wollte den Anrufer bereits wegdrücken, da sich hier jemand offenkundig verwählt zu haben schien, doch irgend etwas hielt ihn davor zurück und sein Herzschlag beschleunigte sich leicht.

»Hallo«, antwortete leise und weich eine angenehme Altstimme ein wenig wie aus weiter Ferne, zumindest erschien ihm das so.

»Ja, wer ist denn da«, fragte er immer noch in der Überzeugung, daß die Frau sich verwählt haben mußte.

»Du kennst mich nicht«, antwortete sie ruhig.

»Ich glaube, Sie haben sich verwählt«, sagte er reflexartig.

»Nein, ich habe die richtige Nummer gewählt, es sei denn, du hättest einen anderen Anschluß als –«, sie betonte jede Ziffer seiner Nummer.

»Ja – ich meine nein – das ist mein Anschluß«, war er sichtlich irritiert.

»Siehst du, ich habe mich also nicht verwählt.«

Die offenkundige Genugtuung seiner unbekannten Anruferin ließ ein eigenartiges Gefühl in ihm zurück. Für einen Augenblick war er sogar erleichtert, daß sie sich nicht verwählt hatte.

»Und was kann ich für Sie – dich tun?«

»Mir zuhören. Mit mir reden.«

Er unterdrückte einen unwilligen Seufzer. Nicht daß er kein offenes Ohr für seine Mitmenschen besaß, aber um diese späte Stunde fehlten ihm prinzipiell die Lust und der Nerv dazu, zumal er sich innerlich schon ganz auf sein gemütliches Bett eingestellt hatte. Es lag ihm bereits die nicht allzu höfliche Entgegnung auf der Zunge, daß er nicht die Telefonseelsorge sei – euphemistisch gesprochen – aber er beherrschte sich. Die Stimme strahlte, so sanft sie auch klingen mochte, Entschlossenheit und das Gegenteil von einer Frau aus, die mitten in der Nacht irgend jemanden zum Reden suchte, weil sie die Einsamkeit kaum noch ertragen konnte.

»Ja, gut und über was?«

Kaum hatte er das gesagt, hätte er sich am liebsten auf die Zunge gebissen – eine dermaßen idiotische Antwort zu geben!

Als Antwort folgte ein leises erheitertes und spürbar nachsichtiges Lachen, wie es für gewöhnlich als Reaktion erfolgt, sagt ein Kind in seiner drolligen Naivität irgend etwas gänzlich Unpassendes.

»Lasse dich einfach auf ein Gespräch ein. Das Thema ergibt sich von allein. Oder gehörst du zu den Leuten, die für alles einen zwingenden Grund benötigen, weil sie andernfalls glauben, es handle sich um vergeudete Zeit? Die unfähig sind, sich auf den Augenblick als solchen einzulassen, den Dingen eine faire Chance zu geben, auch wenn sie ihnen vielleicht gar nicht so recht in den Kram passen? Denen dadurch aber vieles entgeht, vor allem das Schöne und wirklich Wichtige?«

»Nein, das wollte ich auch nicht sagen«, beeilte er sich leicht beschämt zu versichern und wußte nicht, warum er deswegen Scham empfand, denn zu diesen Zeitgenossen rechnete er sich absolut nicht.

»Na also. Ich müßte mich schon sehr in dir getäuscht haben, hättest du jetzt bejaht.«

Er lehnte sich entspannt zurück und lauschte der unbekannten Stimme. Jetzt, da er ruhiger war, genoß er sogar ihren angenehm warmen Klang, die Sanftheit, ja die Stimme besaß auch viel Zärtlichkeit. Er fühlte sich bisweilen, als würde er von ihr zärtlich gestreichelt. Doch bestanden für ihn nicht einen Augenblick Zweifel daran, daß SIE die Situation beherrschte.

Fast eine Stunde dauerte das Gespräch, das buchstäblich über Alles und Nichts ging. Am Ende hätte er gar nicht sagen können, über was sie im einzelnen gesprochen hatten und doch hatte er es als alles andere als ein Austausch von Belanglosigkeiten empfunden.

»Ich werde dich wieder anrufen. Es war angenehm, mit dir zu reden«, hatte sie zum Abschluß gesagt, was er als großes Kompliment empfunden hatte.

Es war verständlich, daß er in einer eigenartigen aber keineswegs unangenehmen Stimmung zu Bett gegangen war.

Am nächsten Morgen war er überzeugt, daß er das gestrige Gespräch nur geträumt oder zumindest doch einer einsamen Frau sein Ohr geliehen hatte. Da sein Tag mit Terminen angefüllt war, dachte er kaum noch an die nächtliche Anruferin. Am Abend schien er sie bereits vergessen zu haben und ging früh Schlafen.

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