Lese-Empfehlungen – J. W. Goethe

von
Armin A. Alexander

Interpretationen

In dieser Rubrik gebe ich Empfehlungen, welche Werke von einem bestimmten Autor und aus welchen Gründen ich als besonders lesenswerte empfinde. Wie nicht anders möglich ist diese Auswahl subjektiv, wie alle Empfehlungen von Texten, die man »unbedingt« gelesen haben sollte, – gerne auch ein wenig hochtrabend als Literatur-Kanon bezeichnet 😉 – selbst die Heranziehung weitgehend objektiver Kriterien ändert daran nur bedingt etwas.

 

Den Anfang mache ich mit der wohl größten Identifikationsfigur für die deutsche Literaturgeschichte schlechthin – Johann Wolfgang von Goethe (28.8.1749–22.3.1832), vergleichbar in seiner Wirkung mit William Shakespeare (ca. 23.4.1564–23.4.1616) für die englische. Shakespeare ist an dieser Stelle nicht ohne Grund erwähnt, schließlich war Shakespeare für den Dramatiker Goethe ein wichtiger Inspirator, neben dem altgriechischen Drama. Die Gründe hierfür legt er in seinem autobiographischen Werk »Dichtung und Wahrheit« Band 1 und Band 2 (hier ausführlich) dar. Seines Erachtens hatte das deutsche Theater seiner Zeit wenig Innovatives zu bieten, wie man heute sagen würde. Tatsächlich fällt es aus heutiger Sicht auch belesenen Zeitgenossen schwer, deutsche Dramatiker vor der sogenannten Goethe-Zeit aufzuzählen. Auch wenn er sich anfänglich besonders von Shakespeare inspirierte fühlte, so wendete er sich später stärker seinem zweiten Ideal zu, des altgriechischen Dramas. Gut zu sehen beim Faust; während der erste Teil, überwiegend vom Shakespearschen Theater inspiriert ist, sind beim durchaus sperrigen zweiten Teil, sind die Bezüge zur altgriechischen Tragödie unverkennbar und nicht nur, weil über weite Strecken die Themen dort entliehen worden sind. Wenngleich meist nur der erste Teil als Lektüre empfohlen wird, meine ich, daß für das Verständnis des Dramatikers Goethe beide Teile gelesen werden sollten. Auf Grund der besonderen Länge des zweiten Teils wird man kaum Gelegenheit bekommen, diesen ungekürzt auf der Bühne erleben zu können – es würden mehrere durchschnittliche Theaterabende benötigt werden.

Jedoch geht es mir an dieser Stelle weniger um Goethe als Dramatiker, sondern um Goethe als Romancier, obgleich seine Liebe zum Theater sich durch sein gesamtes Prosawerk zieht.

 

In »Wilhelm Meisters Lehrjahre« (1795), der Prototyp, des vielleicht deutschesten Literaturgenres schlechthin, dem Bildungsroman, und meiner ersten Empfehlung seines Prosawerkes, ist der junge Wilhelm Meister vom Theater derart ergriffen, daß sein ganzes Denken und Handeln daran ausgerichtet zu sein scheint. Seine Faszination fürs Theater führt ihn in die Welt hinaus und läßt ihn Erfahrungen sammeln – eine Liebesbeziehung, aus der ein Kind hervorgeht, eine vermeintliche Waise, um die er sich kümmert und deren Familiengeschichte wiederum besondere Verbindungen zu seinem Leben besitzt – die ihn vom im guten Sinn naiven Jüngling zum verantwortungsvoll und vorausschauenden Erwachsenen werden lassen. Wenngleich er der Meinung ist, daß seine Handlungen überwiegend rein von den Umständen geprägt sind, so lenkt doch der Abbé im Hintergrund seinen Weg, wie dieser Wilhelm gegen Ende ausführlich darlegt, die Thematik der besonderen Beziehung von Lehrer und Schüler, daß der Lehrer den Schüler lenkend begleitet, ohne daß dieser sich bevormundet fühlt, sondern vorrangig beratend zur Seite steht.

Wie der Faust so besitzt auch der Wilhelm Meister eine längere Entstehungsgeschichte, die beide auf eine Urfassung zurückgreifen können, die beide erst Jahrzehnte nach Goethes Tod veröffentlicht wurden – »Urfaust« (1887), »Wilhelm Meisters theatralische Sendung« (1911). Die Urfassung seien auch deshalb empfohlen, um nicht nur die Entwicklung der Werke nachzuvollziehen, sondern auch um die Entwicklung, die Bildung ihres Autors. Goethe selbst hat ja sein Leben als Gesamtkunstwerk betrachtet.

 

»Die Wahlverwandtschaften« (1809) spiegeln den »reifen« Goethe wider und den Zwiespalt in der sich ein reifer Mann befindet, wenn er seine Liebe zu einer weitaus jüngeren Frau entdeckt, und dies seine als gefestigt geglaubte Ehe vor große Herausforderungen stellt. Zugleich erlebt er die Gattin von einfühlsamer und verständnisvoller Seite, mehr Freundin als »hintergangene« Ehefrau. Als sicher geglaubte Auffassungen geraten ins Wanken und müssen neu überdacht werden, Goethes vielleicht leisestes und gerade daher eindrucksvollstes Prosa-Stück und nicht zuletzt ein weiterer Bildungsroman, doch diesmal nicht vom Jüngling zum Erwachsenen, sondern vom Erwachsenen zum wirklich reifen Menschen.

 

(Alle Links führen zu den Online-Ausgaben auf Projekt Gutenberg-DE)

 

 

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