Kurzes #66 – Die »Gouvernante«

von
Armin A. Alexander

Für Lars war sie in erster Linie ›die Gouvernante‹. Tatsächlich hieß sie Lisbeth Schmitz-Grewe, war Mitte vierzig, geschieden und arbeitete seit etwas mehr als einem Jahr in der gleichen Abteilung.

Ihren Spitznamen hatte sie von Lars auf Grund ihres Auftretens und ihrer Art sich zu kleiden bekommen. Sommers wie winters trug sie über die Knie reichende hell- oder dunkelbraune schlichte Röcke zu meist hellen hochgeschlossenen langärmligen Blusen, ihre Strümpfe – wahrscheinlich eher Strumpfhosen als Strümpfe, wie Lars sich sogleich verbesserte, denn er konnte sich nicht vorstellen, daß eine Frau wie Lisbeth Schmitz-Grewe etwas anderes als langweilige spießige Strumpfhosen aus dem Discounter tragen könnte, obwohl weder ihre Röcke noch ihre Blusen oder ihre Schuhe auf irgendeine Weise billig wirkten – waren ausnahmslos hautfarben und von mittlerer Stärke, wobei Lars sich über blickdichte auch nicht gewundert hätte. Ebenso erschien es ihm als Tatsache, daß sie schlichte unerotische weiße Unterwäsche trug. Ihre Schuhe mit in der Regel halbhohen Absätzen – an kühleren Tagen trug sie zumeist Stiefel – verrieten dagegen eine schlichte Eleganz.

Sie schien eine Vorliebe für enganliegende schwarze, braune, graue oder beige überwiegend mittellange Handschuhe aus feinem Leder zu haben, die sich wie eine zweite Haut um ihre Hände schmiegte. Lars konnte sich nur an wenige, wirklich warme Tage erinnern, an denen er sie ohne Handschuhe gesehen hatte. Was in ihm die Vermutung hatte entstehen lassen, ob sie nicht einen ausgeprägten Fetisch für Lederhandschuhe besaß. Ganz so abwegig war der Gedanke nicht, hatte er doch mehrmals beobachten können, wie sie ihre Handschuhe auf eine besondere, fast schon zärtlich selbstverliebte Weise überstreifte, wobei ihn jedes Mal ein leichter wohliger Schauer durchlief und er glaubte, für einen Augenblick ein verklärtes Lächeln über ihre ansonsten beherrschte Mimik laufen zu sehen. Im Gegenzug schien sie stets einen Seufzer des Bedauerns unterdrücken zu müssen, sobald sie diese auszog.

Lars konnte sich nicht helfen, aber gerade ihre Handschuhe und besonders die, denen anzusehen war, daß sie häufig getragen wurden, gaben ihrer Erscheinung etwas Damenhaftes. Dieser Eindruck war unabhängig davon, daß für Lars Handschuhe ein unverzichtbares Accessoire für eine Dame sind.

Ob Lisbeth Schmitz-Grewe ohne weiteres als attraktive Frau bezeichnet werden konnte, wußte Lars nicht wirklich zu sagen. Jedoch konnte er zwei Dinge an ihr bedenkenlos als schön bezeichnen; ihre schlanken unberingten gepflegten Hände mit den kurzen unlackierten Nägeln und die angenehm geschwungenen Waden mit den auffallend schmalen Fesseln – mehr sah er durch ihre langen Röcke von ihren Beinen ja nicht.

Sobald sich die Gelegenheit bot, es ›unauffällig‹ tun zu können, warf Lars nur zu gerne einen Blick auf Lisbeth Schmitz-Grewes Beine. Auch wenn er ihre beinahe wadenlangen Röcke gerne ›kritisierte‹, so sagten sie ihm grundsätzlich mehr zu als kurze, die einen ungehinderten Blick auf die Beine ihrer Besitzerin gewähren. Lars war ein Bewunderer schöner Frauenbeine und als solcher liebte er auch das Geheimnisvolle, das sich den Blicken nicht sogleich verrät. Den Rest gab er lieber seiner Phantasie anheim.

Lisbeth Schmitz-Grewe war weder klein noch groß, weder übermäßig schlank noch wirklich mollig, weder flachbrüstig knabenhaft noch mütterlich üppig. Die breiten schwarzen Ledergürtel, die sie gewöhnlich trug, ließen ihre Taille etwas schmaler und ihre Hüften ein wenig breiter erscheinen. Das mittellange dunkelblonde Haar, in dem sich bereits verschiedentlich graue Strähnen entdecken ließen, trug sie prinzipiell streng nach hinten zu einem Knoten frisiert. Ihr Make-up war so dezent, daß es fast schien, als lege sie keines auf. Ihre vollen Lippen, die sich gerne einmal spöttisch kräuselten, waren stets ungeschminkt. Die meisten Leute bedachte sie aus ihren blauen Augen über die randlose Brille hinweg mit einem Blick, der einschüchternd wirkte, wobei Lars nicht einmal mit Bestimmtheit sagen konnte, ob sie es mit Absicht tat oder es nur eine über die Jahre entstandene Marotte von ihr ohne tieferen Sinn war.

Den Kollegen begegnete sie grundsätzlich mit distanzierter Höflichkeit. Sie redete nur selten mehr als notwendig, war aber zugleich nicht wirklich ungesellig, hin und wieder war sie einer kleinen Plauderei gegenüber nicht abgeneigt, wie Lars bereits mehrfach selbst erfahren durfte. Dabei wäre Lars nie in den Sinn gekommen, daß Lisbeth Schmitz-Grewe sich häufiger mit ihm als mit den übrigen Kollegen über mehr als nur das beruflich Notwendige austauschte. Aber auch ihm erzählte sie so gut wie nie etwas aus ihrem Privatleben.

Tauschten sich montags die Kollegen darüber aus, was sie am Wochenende unternommen hatten, hielt Lisbeth Schmitz-Grewe sich beinahe demonstrativ im Hintergrund und schien alle mit einem fast schon bemitleidenswerten Blick zu bedenken, weil sie zu glauben schienen, daß irgend jemand, außer ihnen selbst, ihre, im Grunde langweiligen, meist familiären Unternehmungen interessieren könnten. Lars dachte im Prinzip ähnlich, aber er hätte es nie offen gezeigt, sondern hörte mit höflicher Aufmerksamkeit zu. Selbst verspürte er nicht das geringste Bedürfnis etwas von seinen Wochenendaktivitäten zu berichten. Da er, neben Lisbeth Schmitz-Grewe, der einzige in der Abteilung war, der derzeit weder Familie noch eine feste Partnerschaft besaß, schien auch keiner von ihm eine aktive Teilnahme an den Gesprächen zu erwarten.

Keiner der Kollegen schien auf irgendeine Weise an Lisbeth Schmitz-Grewes Distanziertheit Anstoß zu nehmen. Allerdings hätte sich auch keiner getraut, ihr gegenüber selbst kleine Anspielungen zu machen, denn ihr wurde mehr Achtung als dem Abteilungsleiter Bremer entgegengebracht, der selbst gehörigen Respekt vor Lisbeth Schmitz-Grewe zu haben schien.

Vielleicht trotz oder gerade weil sie so wenig von sich preisgab, faszinierte die gut zehn Jahre ältere Lisbeth Schmitz-Grewe Lars auf besondere Weise.

 

Lars erwachte an diesem Mittwochmorgen leicht zerschlagen. Nachdem er mitten in der Nacht von einem heftigen Gewitter aus dem Schlaf gerissen worden war, hatte er lange gebraucht, bis er wieder einschlafen konnte. Der fast tropische Regen, der im Gefolge des Gewitters über der Stadt niedergegangen war, war gegen Morgen in einen feinen Landregen übergegangen. Nichts schien darauf hinzudeuten, daß das schöne Frühsommerwetter der letzten Tage so bald zurückkehren könnte. Zudem hatte es sich merklich abgekühlt, jedoch nicht so, daß die wärmenden Pullover wieder aus dem Schrank herausgekramt werden mußten.

Als er, noch immer leicht verschlafen, an der Haltestelle unweit der Firma aus dem Bus stieg, hatte der Regen eine Pause eingelegt. Der Himmel präsentierte sich aber weiterhin Grau in Grau und es schien nur eine Frage der Zeit zu sein, bis der Regen wieder einsetzte.

Von einem herzhaften Gähnen begleitet wollte er gerade die Einfahrt zum kleinen Parkplatz vor dem Verwaltungsgebäude betreten, als Lisbeth Schmitz-Grewe in ihrem, nicht mehr allzu neuen aber gepflegten, kleinen roten Auto an ihm vorbei auf den Parkplatz fuhr.

Zwar gab es für die Mitarbeiter keine festen Stellplätze, doch Lisbeth Schmitz-Grewe parkte stets auf demselben Platz, den ihr niemand streitig zu machen schien. Ganz gleich, wann sie kam; auf ›ihrem Platz‹ stand nie ein anderes Fahrzeug.

Aus einem unerfindlichen Grund blieb Lars stehen und sah ihr zu, wie sie souverän einparkte, den Motor abstellte, schwungvoll die Fahrertür öffnete und mit damenhafter Eleganz ausstieg. Dabei rutschte ihr der Rock für einen Moment so weit hoch, daß er das linke Knie sehen ließ.

Lars glaubte zuerst sich getäuscht zu haben, denn es schien, als reichten die schwarzen, sich wie ein Handschuh um ihre Beine schmiegenden Stiefel aus feinem Leder bis zu den Schenkeln hinauf. Diese Möglichkeit war für Lars so wenig wahrscheinlich, daß er es für ein Schattenspiel an diesem trüben Morgen hielt und sie wohl eher schwarze fast blickdichte Strümpfe trug.

Er bekam keine Gelegenheit, seine Beobachtung bestätigen zu können, denn Lisbeth Schmitz-Grewe schloß bereits die Tür ihres Autos ab und der, wie üblich, wadenlange Rock ließ nur sehen, daß die Absätze ihrer Stiefel, auf denen so sicher wie auf flachen Sohlen ging, nicht nur für ihre Verhältnisse ungewöhnlich hoch waren.

Er sah ihr nach, wie sie zum Eingang schritt. Dabei wiegte sie die Hüften auf eine damenhafte und zugleich auch ein wenig kokette Weise, ihre große Ledertasche in der Rechten mit einer leichten Lässigkeit haltend.

Von hinten störte ihn an ihr eigentlich nur ihre strenge Frisur, ansonsten fand er sie betörend in dem langen hellbraunen Rock, der bei jedem Schritt ein reizvolles Faltenspiel bot, der kurzen taillierten Jacke mit den dreiviertellangen Ärmeln, die einen ungehinderten Blick auf ihre langen schwarzen Lederhandschuhe ermöglichte. Ihm war schon früh aufgefallen, daß sie Jacken mit dreiviertellangen Ärmeln stets in Verbindung mit fast ellenbogenlangen Lederhandschuhen trug.

Selbst als sie längst das Verwaltungsgebäude betreten hatte, sah er ihr noch nach. Er konnte sich nicht helfen, sie wirkte an diesem Morgen ungeheuer faszinierend auf. Und diese Faszination zog sich nicht aus dem, was er beim Aussteigen glaubte beobachtet zu haben, auch nicht aus der Tatsache, daß die Absätze ihrer schicken Stiefel ungewohnt hoch waren, sondern daß er zum ersten Mal eine starke erotische Ausstrahlung von ihr ausgehend gespürt hatte. Beinahe war er geneigt anzunehmen, daß es sich bei jener Frau nicht um Lisbeth Schmitz-Grewe, sondern um jemand anderen gehandelt haben könnte. Aber das war absurd.

»Träumst du, oder wartest du auf jemanden«, riß Holgers fröhliche Stimme ihn aus seinen Gedanken.

Holger war der einzige von den Kollegen mit dem er auch außerhalb der Firma Kontakt pflegte. Beide waren im gleichen Alter.

Das einzige was ihn an Holger störte, war dessen beinahe schon penetrante morgendliche Frische. Lars war zwar kein ausgesprochener Morgenmuffel, aber vor der Frühstückspause ging er es lieber ein wenig gemächlich an.

Lars murmelte irgend etwas zur Entschuldigung, was Holger jedoch nicht weiter beachtete, denn er ließ sich bereits über das Wetter aus, während sie gemeinsam das Verwaltungsgebäude betraten.

Auf dem Weg vom Treppenhaus zu seinem Büro, das am Ende des Flurs lag, mußte Lars an der kleinen Küche vorbei. Lisbeth Schmitz-Grewe, noch in Jacke und Handschuhen, schaltete gerade den Wasserkocher ein, um das Wasser für ihren Morgentee heiß zu machen. Dabei wandte sie ihm das Profil zu und er glaubte, etwas Aufgekratztes in ihrer Mimik zu erkennen, während sie ansonsten am Morgen eher gelangweilt wirkte.

Er schüttelte kaum merklich den Kopf, die schlecht verbrachte Nacht spielte seiner Phantasie vermutlich erneut einen Streich.

In seinem Büro warf er, wie jeden Morgen, einen kurzen Blick aus dem Fenster. Der Regen hatte wieder eingesetzt.

Er holte sich aus der Küche eine Tasse Kaffee und hielt sich ein wenig länger als gewöhnlich dort auf, als er sah, daß das Wasser im Kocher siedete. Er hätte es nie zugegeben, am wenigsten vor sich selbst, doch er wartete darauf, daß Lisbeth Schmitz-Grewe hereinkommen würde, um ihren Tee aufzubrühen.

Er brauchte nicht lange zu warten. Sie grüßte ihn freundlich und schenkte ihm sogar ein Lächeln, was sie eher selten tat und das ihn eigentümlich berührte, während sie das heiße Wasser in eine Tasse goß, in der bereits ein Teebeutel lag.

Sie tauschten allgemeine Floskeln übers Wetter aus, währenddessen er bemüht war, nicht zu auffällig auf ihre Stiefel zu schauen, die zwar liebevoll gepflegt, aber nichtsdestotrotz häufig getragen wurden, obwohl er sich nicht darin erinnern konnte, daß sie diese schon einmal im Büro angehabt hatte.

Als sie mit ihrer Tasse, in der noch der Teebeutel zog, die kleine Küche verließ, sah er ihr aufmerksam nach.

Der breite schwarze Ledergürtel mit der schlichten Schnalle betonte ihre Hüften, auch wenn es ihm noch schwerfiel zu glauben; Lisbeth Schmitz-Grewe – durch ihre hohen Absätze nur unwesentlich kleiner als er – wiegte die Hüften auf eine durchaus betörende und kokette Weise, als mache sie es für einen Bewunderer, was ihn nun vollends irritierte.

Nachdenklich ging er in sein Büro zurück. Weil er an diesem Vormittag einen dringenden Vorgang bis zur Mittagspause zu bearbeiten hatte, besaß er kaum Gelegenheit, näher über seine Beobachtungen nachzudenken.

Nach der Mittagspause wurde die Zeit für ihn lang. Im Grunde hatte er im Augenblick wenig zu tun. Aber Bremer darum zu bitten, sich den Nachmittag freinehmen zu können, verspürte er auch keine große Lust. Der ergiebige Landregen machte keinerlei Lust auf irgend etwas. Darum konnte er auch im Büro bleiben und das tun, was er schon immer machen wollte, den Schreibtisch aufräumen zum Beispiel.

Doch irgendwie fehlte ihm auch dazu die Lust und statt dessen sah er in den Regen hinaus. Das gleichmäßige Brummen des Lüfters seines Rechners hatte etwas Einschläferndes.

Lisbeth Schmitz-Grewe kam herein, um den wöchentlichen Beitrag für die Kaffeekasse einzusammeln. Eine Tätigkeit, die von den Kollegen lange abwechselnd und stets mit Nonchalance betrieben worden war. Mit dem Ergebnis, daß immer irgend etwas fehlte und die Kasse gerade dann leer war, wenn neuer Kaffee oder Tee oder Kekse hätten gekauft werden müssen. Kaum war Lisbeth Schmitz-Grewe in ihre Abteilung versetzt worden, hatte sie die Sache in die Hand genommen. Und obwohl sie alle weniger in die Kasse einzahlten als früher, gab es jetzt stets ausreichend Kaffee, Tee und Kekse.

Er war über diese Abwechslung nicht nur wegen seiner augenblicklichen Langeweile dankbar, sondern er stellte fest, daß ihm heute ihre Gesellschaft auf eine besondere Weise angenehmer als bisher war. Sie schien aufgekratzter als üblich zu sein. Und wieder glaubte er, daß ein leises Lächeln um ihre vollen weichen Lippen spielte. Überhaupt schien er heute viel stärker das Weibliche in ihr zu sehen.

Als sie mit ihrer Liste unter dem Arm und der schwarzledernen Börse in der Hand, in der sie das Geld der Kaffeekasse aufbewahrte, verließ, meinte er, daß sie diesmal geradezu auffällig provokant die Hüften wiegte, und die Vermutung, daß sie für einen Bewunderer tat, wurde fast zu einer kleinen Gewißheit.

Kaum hatte sie das Büro verlassen, verflog der Zauber aber auch schon und er war überzeugt, sich das nur eingebildet zu haben. Es gelang ihm einfach nicht, sich Lisbeth Schmitz-Grewe vorbehaltlos als kokette Verführerin vorzustellen, die sich und ihren Körper vorbehaltlos bejahte, weil sie wußte, welch schöne Gefühle er ihr verschaffen konnte.

Er rief seine Emails ab – es waren nur wenige und unwichtige dazu – stützte den Kopf auf den Arm auf, blickte in den Regen hinaus und ließ die Gedanken schweifen.

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