»Alte« Krimis – »Matto regiert« von Friedrich Glauser

von
Armin A. Alexander

Interpretationen

Aus der schweizerischen Heil- und Pflegeanstalt Randlingen im Kanton Bern gelingt dem Patienten Pieterlen die Flucht. Zur gleichen Zeit verschwindet Ulrich Borstli, der alte Direktor der Anstalt, spurlos. In seinem Büro sind Spuren eines Kampfes und ein wenig Blut auf dem Boden zu finden. Dessen Stellvertreter Dr. Ernst Laduner bittet den kantonalen Polizeidirektor, daß Wachtmeister Studer in diesem Fall ermittelt, da Laduner »gedeckt sein wolle, gedeckt von der Behörde. Und über das Wort ›gedeckt‹ hatte der kantonale Polizeidirektor noch einen Witz gemacht, der ziemlich faul war und nach Kuhstall roch.« Dr. Laduner holt den Wachtmeister persönlich von zu Hause ab.

Studer benötigt ein wenig, bis er sich erinnert, unter welchen Umständen er dem Arzt zum ersten Mal begegnet ist. Studer war seinerzeit von den unkonventionellen Methoden mit denen der junge Laduner in der Anstalt für Schwererziehbare in Oberhollabrunn bei Wien beeindruckt hat. »[–] Studer sah eine kleine Stube vor sich, darin acht Buben, zwölf- bis vierzehnjährig. Das Zimmer war ein Schlachtfeld. Der Tisch demoliert, die Bänke zu Brennholz zerkleinert, die Scheiben der Fenster zersplittert. Er stand unter der Tür und sah, wie gerade ein Bub auf einen andern mit dem Messer losging. »Ich mach dich hin!« sagte der Bub. Und in einer Ecke stand Dr. Laduner und sah zu. Als er Studer in der Türe bemerkte, winkte er ganz sanft mit der Hand ab – Machen lassen! Und der Bub warf plötzlich das Messer von sich, begann zu heulen, traurig und langgezogen, wie ein geprügelter Hund, während Dr. Laduner aus seiner Ecke hervorkam und mit ruhiger, sachlicher Stimme sagte: »Bis morgen ist dann das Zimmer in Ordnung und die Scheibe eingesetzt – Ja?« Und der Knabenchor sagte: »Ja!« [–]« Doch Dr. Laduner scheint sich verändert zu haben »[–] Damals in Wien hatte der Arzt noch nicht das Maskenlächeln getragen, das Lächeln, das aussah, als sei es vor einem Spiegel aufgeklebt worden– Und dann: vielleicht war der Eindruck falsch, kontrollieren ließ er sich nicht, aber es schien doch, als hocke Angst in den Augen des Dr. Laduner. [–]«

Studers Aufenthalt in der Heil- und Pflegeanstalt wird auch eine Konfrontation mit einem unrühmlichen Kapitel der eigenen beruflichen Vergangenheit. Einer der Insassen ist Herbert Caplaun, der Sohn des Obersts Caplaun, der seinerzeit dafür gesorgt hat, das Studer als Folge einer Ermittlung in einer Bankaffäre von seinem Posten als Kommissar zu Unrecht zurücktreten und als ›einfacher‹ Fahnder neu anfangen mußte. »[–] Es handelte sich um jenen Oberst Caplaun, von dem der Polizeidirektor in gemütlichen Stunden manchmal sagte, er würde niemanden lieber in Thorberg wissen [–]« Thorberg, genauer Schloß-Thorbeg, ist ein bekanntes Gefängnis im Kanton Bern, Studers Heimat- und Wirkungsort als Fahnderwachtmeister. Dr. Laduner hat sich des jungen Caplaun persönlich angenommen. »[–] Ein typischer Fall von Angstneurose. Kein Wunder, bei dem Vater! Und übrigens säuft der Herbert Caplaun. [–]«

Studer spürt von Anfang an, daß dieser Fall seine besonderen Tücken und Geheimnisse besitzt und wohl nichts so ist, wie es Anschein hat, oder wie von den Beteiligten versucht wird, diesen zu erwecken. Während Studer gegen das Klinikpersonal Vorbehalte auf Grund ihres Verhaltens pflegt, faßt er schnell Sympathie für den rothaarigen Pfleger Gilgen. Doch auch Gilgen hat eine besondere Rolle in der Affäre, wie sich später herausstellt.

Der verschwundene Direktor soll eine Beziehung zu einer jungen Schwester gehabt, überhaupt der jungen Weiblichkeit zugetan sei. Vor seinem Verschwinden am Abend während einer internen Feier soll er einen Anruf von einer Frau erhalten haben. Einen Anruf, der nachweislich klinikintern erfolgte.

Direktor Borstlis Leiche wird am Fuß der Treppe gefunden, die zum Heizkessel hinunterführt. Anscheinend ist er auf Grund eines Fehltritts unglücklich die Treppe hinuntergestürzt, doch für Studer weist viel daraufhin, daß er gestoßen worden ist, was den Fall noch ein wenig undurchsichtiger werden läßt als er ohnehin zu sein scheint.

Der Direktor bleibt nicht das einzige Opfer, auch der Pfleger Gilgen wird wenig später tot aufgefunden. Studer spürt, daß die unmittelbar beteiligten Personen mehr wissen und in anderen Beziehungen zueinander stehen, als sie bereit sind zuzugeben. Auch Dr. Laduner ist nicht so offen gegenüber Studer wie er vorgibt zu sein. Seelische Abgründe tun sich dem Wachtmeister auf und nicht nur bei den Insassen. Studer zweifelt zeitweise selbst, ob das, was er wahrnimmt, wirklich so ist, und nicht auch Matto von ihm langsam Besitz ergreift, was ist überhaupt wahr und was nicht. Durch ein langes Gespräch mit Dr. Laduner Studer begibt sich Studer in die Tiefen der eigenen Seele. Bald überschlagen sich die Ereignisse und der Fahnderwachtmeister beginnt klarer zu sehen.

Das Motiv für den Mord am alten Direktor und die darauf erfolgten ist so überraschend wie logisch für das Wesen einer Anstalt wie die Heil- und Pflegeanstalt Randlingen, die ihre eigenen Realitäten und ihre eigenen Wahrheiten hat und hinterläßt nicht nur bei Studer einen eigenartigen Nachhall.

 

»Matto regiert« dürfte der wohl bekannteste Roman mit Wachtmeister Studer sein, und mit Sicherheit derjenige, der bei seinem Erscheinen 1936 in der Schweiz die meiste Aufmerksamkeit erfahren hat. Hat er doch zu einer Reformation der schweizerischen Psychiatrie geführt. Friedrich Glauser hat hier seine persönlichen Erfahrungen verarbeitet, schließlich hatte er selbst auf Grund seiner Morphinsucht mehrfach in der Psychiatrie verbringen müssen und lange unter Vormundschaft gestanden. Eine Erfahrung, die er in seinem – auf Grund seines frühen Todes im Alter von nur 42 Jahren am 8. Dezember 1938 am Vorabend seiner Hochzeit – leider nur schmalen literarischen Werk immer wieder thematisiert und sei es nur beiläufig.

Wachtmeister Studer reiht sich in die Gruppe der Antihelden ein, die einen durchaus angenehmen Gegensatz zu den streng rationalen Detektiv-Figuren der Kriminalliteratur wie Conan Doyles Sherlock Holmes oder Poes Dupin oder die vorbildlichen Kommissare und Inspektoren eines Edgar Wallace oder eines Louis Weinert-Wilton oder Dorothy L. Sayers Lord Peter Wimsey und die ihre Geburt in den 1930er Jahren erleben. Die Verwandtschaften zu einem Sam Spade von Dashiell Hammett oder eines Philip Marlowe von Raymond Chandler sind offensichtlich und haben ihre eindeutige Ursache in den veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen. Da Studer jedoch Schweizer und kein Amerikaner ist, zudem ein mehr oder weniger biederer Familienvater mit Tochter und einer pfiffigen Frau, wird er nach seinem erzwungenen Ausscheiden als Folge einer Intrige aus dem höheren Polizeidienst nicht Privatdetektiv, sondern beginnt noch einmal von vorne als einfacher Fahnder, mit Kontakten ins Ausland, wohlwissend, daß er über den Wachtmeister nicht hinauskommen wird, aber er besitzt die Genugtuung, daß ihm nur die wirklich verzwickten Fälle anvertraut werden und er weitgehend freie Hand dabei hat, Genf, Zürich und Bern sind nun einmal nicht New York oder Los Angeles oder San Francisco. Doch auch in der an sich beschaulichen Schweiz ereignen sich hin und wieder außergewöhnliche Verbrechen, so daß Studer seine besonderen kriminalistischen Fähigkeiten in verschiedenen Fällen zur Anwendung bringen kann. Einer davon führt ihn bis nach Nordafrika.

 

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