Kurzes #73 – Ein Bewunderer

von
Armin A. Alexander

Die Beine der Frauen sind wie Zirkel, welche den Erdball in allen Himmelsrichtungen ausmessen
und ihm sein Gleichgewicht und seine Harmonie geben

aus « L’homme qui aimait les femmes »
von Franí§ois Truffaut

 

Würde er gefragt, wie er sich sehe, so würde er ohne sonderlich nachzudenken und mit einem gewissen Stolz, vorausgesetzt, der Betreffende habe sein Vertrauen erweckt, antworten: als ein Verehrer schöner Beine, begleitet von einem Lächeln, das den dezenten Genießer verrät.

Je nach Naturell würde die Reaktion darauf von verständnislosem Kopfschütteln über eine derart wunderliche Eigenart bis hin zur Freude, einen Gleichgesinnten im Geiste getroffen zu haben, reichen. Wir gehen einmal davon aus, daß unser Frager sich vom Wesen her in der Mitte bewegt. Höflich würde er erwidern, doch mit unüberhörbarem Unterton, der keinen Zweifel daran ließ, daß er es nicht ganz nachvollziehen könne, weshalb er darin für sich etwas Besonderes sehen würde, schließlich erfreuen sich doch die meisten Männer an schönen Frauenbeinen, wenn sie auch selten zu sehen seien, und nicht nur, weil viele Frauen, vor allem die es sich ›leisten‹ könnten, lieber Hosen als Röcke tragen.

Unser Freund würde über eine in seinen Augen derart naive Aussage nachsichtig lächeln. Und geradewegs mit einem durchaus missionarischen Eifer dem anderen zu erklären versuchen, wie einseitig doch der allgemeine Schönheitsbegriff sei. Nicht nur weil den Leuten von allen Seiten suggeriert wird, was schön zu sein hat, ohne daß jemals auch nur im Ansatz ernsthaft versucht wird, das zu begründen. Zudem, würde unser Freund ruhig und nicht weniger eindringlich fortfahren, gibt es per se keine wirklich häßlichen Frauenbeine, einmal von Krankheit und der Nachlässigkeit ihrer Besitzerinnen gezeichneten abgesehen.

Hier würde er eine Pause machen, seine Worte auf den anderen wirken lassen und vielsagend lächeln.

Nach dieser leichten Einschränkung würde unser Freund vielleicht auf diese Weise fortfahren: Es gibt kräftige Beine, muskulöse Beine und stämmige Beine, was nicht das gleiche ist; schlanke Beine, lange Beine, kurze Beine, schlichtweg normale Beine, die weder das eine noch das andere sind, die eigentlich alle Merkmale enthalten, von denen aber keines derart überwiegt, daß es eine Einordnung in eine Kategorie rechtfertige. Es lassen sich darüber hinaus beliebig viele Kategorien entwickeln, die jede für sich einen besonderen Reiz betone.

An dieser Stelle würde dem Fragenden wohl zum ersten Mal bewußt werden, wie eingeschränkt seine Perspektive bisher gewesen ist. Somit ist seine Neugier geweckt, mehr von dem Bewunderer zu erfahren. Und wie jeder Bewunderer, so spricht auch der unsere nur zu gerne über seine Passion, hat er einen geneigten Zuhörer gefunden.

Er würde diesem erzählen, daß er nicht unbedingt die kurzen Röcke bevorzuge, obwohl sie eine nahezu ungehinderte Sicht auf die Beine ihrer Besitzerin gewähren, dafür jedoch der Phantasie so gut wie keinen Raum mehr lassen. Ein Bewunderer liebt schließlich nicht wenig das Geheimnisvolle, das sich den Blicken eben nicht sogleich offenbart. Ihm sagen die über die Knie reichenden Röcke, die nahezu wadenlangen, mehr zu. Die nur die untere Hälfte der Waden zeigen, den Beginn dieser mal mehr weniger ausgeprägt geschwungenen Linie, und die Fesseln. Den Rest gibt er lieber seiner Phantasie anheim. Zarte Strümpfe in allen Farben und hochhackiges Schuhwerk, bevorzugt mit schlanken, nicht zwingend dünnen Absätzen, sind seinen Augen ein Labsal. Aber auch flache Schuhe können unter Umständen einen reizvoll harmonischen Abschluß bilden. Klobiges Schuhwerk jedoch stößt ihn ab, kann selbst ein ungewöhnlich vollkommenes Bein in seinen Augen entstellen, wenngleich auch das wiederum seine Verehrer findet.

Nachdem sich unser Bewunderer seiner Schwärmerei hingeben, seinen Zuhörer gefesselt und er vorerst geendet hat, könnte eigentlich nur noch eine Frage gestellt werden; an welchen Orten er seiner Passion frönt.

Überall, würde unser Freund, dem dies etwas sehr naiv erschien, mit einer euphorischen Geste antworten. Man müsse nur die Augen offenhalten; im Bus, in der Bahn, im Zug, auf der Straße, im Café, im Restaurant, in der Oper, im Theater, im Museum. Überall dort wo Menschen sind. Darum benutze er in erster Linie öffentliche Verkehrsmittel. Nirgendwo sonst besitze man diese Ruhe. Wenn eine Frau in der Zeitung, in einem Buch lese, oder ihren Gedanken nachhinge, aus dem Fenster sähe, habe sie oftmals die Beine übereinander geschlagen.

Der andere begriffe augenblicklich, mit welchen Scheuklappen er bisher durch die Welt geschritten war und schämte sich innerlich ein wenig seiner Ignoranz, was er hinter der voyeuristischen Frage verberge, ob er denn nie das Objekt seiner Bewunderung auch begehrt habe.

Hier nun würde die Antwort nicht so zügig wie auf die Fragen zuvor kommen. Unser Freund wäre sogar ein wenig im Zweifel, ob er denn antworten solle, was den anderen etwas verwirrte und er sich über seine eigene, voreilige und vermeintliche Indiskretion ärgerte.

Nein, würde er fast schon zu entschieden erwidern. Nicht daß er sich nicht die Zeit nehmen würde, nicht auch einen Blick auf das Gesicht der Betreffenden zu werfen, ihren Blick zu suchen. Doch für mehr seien die Begegnungen in der Regel zu kurz.

Wirklich nie, insistierte sein Gegenüber fast schon mit einem diabolischen Lächeln, da es ihm auf diese Weise gelang, die eigene Unsicherheit über die Rechtmäßigkeit der Frage überdecken.

Unser Freund würde kurz den Blick abwenden und einen Schluck von seinem Kaffee nehmen. Sie saßen an diesem sonnigen Tag auf der Terrasse eines Cafés. Dann würde er sich entschließen, die Wahrheit zu sagen, schließlich hatte er dem anderen schon zuviel Vertrauen geschenkt, um sich jetzt noch zurückziehen zu können.

Doch, würde er einräumen, ein einziges Mal. Er sah auf die Uhr. Es war noch Zeit. Warum sollte er es nicht erzählen? Sein gegenüber würde diese kleine Anekdote sicherlich zu schätzen wissen. Er war immerhin ein Mensch mit Lebensart, vielleicht würde er auch für sich eine Lehre daraus ziehen können. Unser Freund beginnt zu erzählen, der Aufmerksamkeit des anderen gewiß seiend.

Für einige Wochen mußte der Bewunderer beruflich jeden Tag in einen etwas entfernteren Ort fahren. Selbstverständlich nahm er den Zug. Dieser benötigte rund eine Stunde. Was für andere eine Qual gewesen wäre, war für ihn selbstverständlich ein Vergnügen. Zu der Zeit, wo er seine Fahrt antrat, war der Zug halb leer. Wie gewöhnlich setzte er sich in den mittleren Waggon. Der Zufall enttäuschte ihn nicht. Schon zwei Stationen später stieg eine junge Frau ein. Sie war ihm bereits auf dem Bahnsteig aufgefallen, obwohl er sie nur kurz bei der Einfahrt des Zuges gesehen hatte. Als sie den Gang entlang kam, eine Tasche unter dem Arm, sah er, daß sie einen wadenlangen, dunklen Rock und schwarze Strümpfe trug. Sie mochte etwa dreißig sein, mit kurzen, dichten, fast schwarzen Haaren, die ihre vollen, tiefrot geschminkten Lippen förmlich leuchten ließen, die Mimik ist leicht runden Gesichts drückte innere Zufriedenheit aus. Sie war schlank, aber nicht von der extremen Schlankheit, die heutzutage gerne als Ideal propagiert wird und die letztlich nur Magerkeit ist. Im Vergleich dazu konnte sie fast schon als mollig bezeichnet werden.

Zielsicher steuerte sie die Sitzbank auf der anderen Seite des Ganges ihm gegenüber an. Sie setzte sich, stellte ihre Tasche neben sich und schlug sogleich die Beine mit damenhafter Eleganz übereinander. Sie zählte offenkundig zu den Frauen, die sich der Schönheit ihrer Beine bewußt sind, die sie gerne bewundert sehen und die Komplimente über ihre Beine genießen. Überhaupt schien sie ein Glücksfall zu sein.

Für ihn war die Art, wie eine Frau die Beine übereinanderschlug, beredt genug. Da gab es das nachlässige, das gelangweilte, das trotzig abwehrende, das selbstverständliche, das nur an die eigene Bequemlichkeit denkende Übereinanderschlagen. Es gab das mädchenhafte, das burschikose, das gezierte und das provokante, das kokette, das sinnliche, ja es gibt sogar ein lüsternes, das eigentlich eine offene Aufforderung zur gemeinsamen Unzucht ist, das jedoch nur in intimen Stunden wirklich zur Ausführung kommt.

Der Zug fuhr an. Sie holte eine Zeitung aus der Tasche und begann aufmerksam darin zu lesen. Er dagegen ließ seine Blicke unauffällig auf ihren Beinen ruhen.

Sein Blick begann beim Saum ihres Rockes, der im Sitzen etwa eine Handbreit unter dem Knie endete. Es war ein weicher, ein feiner Stoff, der sanft zu der Haut ist, sie zärtlich umschmeichelt. Ihre Strümpfe waren fast blickdicht. Vermittelten aber nicht den Eindruck, daß sie trug, um eine weniger anziehende Haut zu verbergen. Die Wade verlief in einer fließenden, einer fast vollkommenen Kurve, wie er sie schon seit Wochen nicht mehr zu sehen bekommen hatte und endete in einer ungewöhnlich schmalen und zarten Fessel, die vom Riemchen ihrer hochhackigen schwarzen Schuhe umfangen wurde. Die Absätze waren von mittlerer Höhe, wie sie derzeit in Mode waren.

Es war nicht so, daß er während der ganzen Fahrt ausschließlich auf ihre Beine gesehen hätte. In regelmäßigen Abständen sah er auch auf ihre Hände, schließlich erzählen Hände mindestens ebensoviel über ihren Besitzer, ihre Besitzerin wie Beine. Die ihren waren schlank, mit halblangen, in einem dezenten Erdton lackierten Nägeln. Es war ihnen anzusehen, daß ihre Besitzerin sie mit Sorgfalt behandelte. Ebenso verfing sich sein Blick auf ihrem Antlitz, ihren Lippen, die manchem zu stark geschminkt sein mochten, aber mit ihrem Typ harmonierten. Sie hielt die Lippen leicht geöffnet. Es gelang ihm aber nicht herauszufinden, ob es an einer zu kurzen Oberlippe lag oder Gewohnheit war.

Immer wenn der Zug sich einer Station näherte, sein Tempo drosselte, bedauerte er bereits, daß sie gleich aussteigen und er sie vermutlich nie wiedersehen würde. Es war kein enttäuschtes Bedauern, kein Bedauern über eine verpaßte Gelegenheit. Er hatte bisher nie eine der Frauen, auf deren Beine seine Blicke bewundernd geruht hatten, angesprochen. Es war das Bedauern über das unvermeidliche Ende eines schönen Augenblicks, in dem auch die nüchterne Akzeptanz des Unwiederbringlichen liegt. Wer bewundert, zieht den Genuß aus dem Bewundern an sich, nicht aus dem möglichen Besitz des Objektes seiner Bewunderung. Der Besitz ist dem Bewunderer unwichtig. Im Gegenteil, Besitz bindet. Er muß unabhängig sein, um vorbehaltlos bewundern zu können. Wer besitzt, schätzt seinen Besitz im Wert höher ein als anderes. Außerdem hätte es das Objekt seiner Bewunderung aus der Anonymität gerissen, hätte ihn in die Banalität ihres Alltags geführt. Ihre vielleicht eintönige Arbeit, daß Kinder und ein Mann, der die Schönheit ihrer Beine, ihre Attraktivität längst nicht mehr sah, auf sie warteten. So konnte er, wenn er wollte – und manchmal tat er es auch –, ihr eine Biographie geben, die ihrem Bild einen harmonischen Abschluß gab.

Aber sie faltete ihre Zeitung auch vor dieser Station nicht zusammen, fuhr noch eine weitere mit ihm, und noch eine. Erst eine Station bevor er selbst ausstiegen mußte, verließ sie den Zug. Er sah ihr vom Fenster aus nach, wie sie flinken und selbstbewußten Schrittes zum Ausgang ging. Der Zug ruckelte an. Er lehnte sich zufrieden zurück, zufrieden darüber, daß sie solange seine Reisegefährtin gewesen war. Wieder eine Schöne mehr in seiner ›Sammlung‹, die wie ein vorüberfliegender Schmetterling auf immer seinen Blicken, seiner Gegenwart entflogen war.

Lange hatte er nicht Gelegenheit, der Erinnerung nachzusinnen, da er sich nun seinerseits bereit machen mußte, schließlich mußte er ja an der folgenden Station ausstiegen.

Am frühen Abend saß er im Zug der Gegenrichtung, gespannt darauf, was sich ihm diesmal bieten würde. Zwar erhoffte er sich kein vergleichbares Erlebnis wie auf der Hinfahrt. Es geschah äußerst selten, daß er mehr als einer besonderen Frau am Tag begegnete. Aber man konnte ja nie wissen.

Er war nicht wenig überrascht, als an der nächsten Station seine Schöne vom heutigen Morgen einstieg und sich – was für ein angenehmer Zufall! – ihm wieder gegenüber auf die andere Seite des Ganges setzte, erneut in der gleichen Weise die Beine übereinanderschlug. Diesmal las sie keine Zeitung, sondern ein Buch, dessen Titel er aber nicht entziffern konnte. Die Gnade dieses besonderen Zufalls nutzend, hing er förmlich mit den Blicken an ihren schönen Waden, ihren schmalen Fesseln, ihrem schlanken Fuß, ihren hochhackigen Schuhen, ganz als sei er sich bewußt, daß es das letzte Mal sei, daß ihm ein solcher Anblick gewährt würde. Mit einem tiefen inneren Seufzer sah er ihr nach, als sie an ihrer Station den Zug verließ.

Nachdenklich ging er die wenigen Schritte vom Bahnhof zu seiner Wohnung.

Wie merkwürdig doch manchmal das Leben verläuft, dachte er. Es war das erste Mal, daß er derselben Frau, deren Beine er bewundert hatte, an ein und demselben Tag zweimal begegnete. Selten sah er sie mehr als einmal, falls nicht, geschah es nur im Abstand von mehreren Tagen, oft Wochen oder gar Monaten.

Am nächsten Morgen saß er wieder im Zug und zu seiner Überraschung stieg auch die Schöne wieder ein. Doch so angenehm ihm dieses erneute Wiedersehen war, so enttäuscht war er zugleich. Trug sie doch heute eine Hose, wenn auch eine körperbetont geschnittene aus braunem Leder. Diese sagte ihm, daß sie muskulöse Schenkel hatte, die aber eine ideale Fortsetzung ihrer schön geschwungenen Waden waren. Diesmal konnte er einzig ihre schmalen Fesseln bewundern, was ihn nicht wirklich befriedigte. Zumindest entschädigten ihn ihre hellen zarten Strümpfe, die eine makellose Haut durchscheinen ließen und ihre hochhackigen Schuhe ein wenig. Dafür warf er häufiger und länger den Blick auf ihr Antlitz. Er entdeckte ihre tiefbraunen Augen, ihre dichten Brauen und langen Wimpern, die offenkundig echt waren. Ebenso daß die Umgebung ihrer Nase mit vielen kleinen Sommersprossen bedeckt war.

Sie fuhr am Abend mit demselben Zug zurück.

Auch am folgenden Tag sahen sie sich wieder. Es war der erste wirklich warme Frühlingstag in diesem Jahr. Überhaupt schienen heute alle irgendwie froher durch die Welt zu gehen. Sie trug ein helles Kostüm mit taillierter Jacke und einem dekolletierten seidenem Oberteil. Der Rock war sehr kurz. Zum ersten Mal sah er fast vollständig ihre Beine, die von hellen Strümpfen umhüllt wurden, was sein Herz vor Freude fast hüpfen ließ.

Diesmal schlug sie die Beine fast kokett übereinander, begleitet von einem besonderen Besitzerstolz.

Während der ganzen Fahrt blieb sie in ihre Zeitung vertieft.

Doch anders als bisher hielt sie die Beine nicht ruhig, allenfalls hatte sie gelegentlich mit der Fußspitze leicht gewippt. Relativ häufig rieb sie die eine Wade an der anderen. Und wäre das Fahrgeräusch nicht gewesen, so wäre jedesmal ein leichtes Knistern zu vernehmen gewesen. Selbst so meinte er, es zu hören. Sie schien heute die Kokette geben zu wollen. Hätte er es nicht besser gewußt, wäre nicht dieser schöne warme Frühlingstag gewesen, man hätte annehmen können, sie mache es für einen Zuschauer, einen Verehrer.

Ihre runden Knie gefielen ihm und ihre muskulösen Schenkel, die die schön geschwungene Linie ihrer Waden vollendet fortführten. Selten hatte er eine Frau gesehen, die gleichermaßen kurze wie lange Röcke tragen konnte.

Über nahezu drei Wochen begegneten sie sich täglichg im Zug. Drei Wochen, während denen sie sich nie offen ansahen, geschweige denn ein Wort miteinander wechselten. Ein Außenstehender wäre überzeugt gewesen, daß sie einander nicht aufgefallen waren. Auf der Hinfahrt las sie die Zeitung, auf der Rückfahrt ein Buch. Dennoch schien sich mehr und mehr eine Atmosphäre der Vertrautheit zwischen ihnen aufzubauen. Stets setzte sie sich ihm gegenüber auf die andere Seite des Ganges. Lediglich zweimal trug sie eine Hose, das zweite Mal eine derart eng anliegende schwarze Lederhose, daß er sich fragte, wie sie dort überhaupt hineingekommen war. Das war während der ersten Woche, danach sah er sie nur noch in Röcken, selten zweimal in demselben.

Er hatte sich an ihre Gegenwart gewöhnt. Es war für ihn derart selbstverständlich geworden, daß sie an der zweiten Station einstieg, daß er ganz verwirrt war, als sie nach diesen drei Wochen das erste Mal nicht wie gewohnt zustieg. Er gelang ihm nicht, sich einen Reim darauf zu machen. Dabei gab es eine Unzahl einfacher Erklärungen; sie konnte den Zug versäumt haben, sie konnte einen Tag frei haben, ihr Urlaub konnte begonnen haben, sie konnte mit einer Erkältung im Bett liegen – in der Tat war seit einigen Tagen das ideale Erkältungswetter ausgebrochen. Auch am Abend stieg sie nicht ein. Die These mit dem versäumten Zug, auf die er den ganzen Tag über seine Hoffnung gesetzt hatte, erwies sich damit als Irrtum.

Als sie am nächsten Tag wieder nicht zustieg, begann er sich wirklich Sorgen zu machen, als hätte nicht der Zufall sie dahin geführt, täglich mit demselben Zug zu fahren, sondern als bestünde eine tiefere Bindung zwischen ihnen.

In jener Nacht schlief er schlecht. Ob er sich eingestehen wollte oder nicht, er vermißte sie. Sie war für ihn mehr geworden, als eine zufällige Reisebekanntschaft. Sobald er sie wiedersah, würde er sie ansprechen, nahm er sich vor.

Die beiden Stationen bis zu ihrem Bahnhof saß er am nächsten Tag mit steigender innerer Unruhe da, knetete nervös die Hände. Als der Zug ihre Station erreichte, schlug sein Herz schneller, je stärker der Zug bremste. Als sie einstieg, frisch und munter, blieb ihm vor Freude fast das Herz stehen. So erleichtert hatte er sich schon seit langem nicht mehr gefühlt. Vermutlich hatte sie wirklich zwei freie Tage gehabt, versuchte er die Anspannung der letzten Tage vor sich selbst herunterzuspielen. Darüber vergaß er sein Vorhaben, sie anzusprechen. Sein Drang zu bewundern war größer. Dennoch war seine Erleichterung, sie wiederzusehen, so groß, daß es ihn nicht störte, daß sie heute das erste Mal wieder eine Hose trug, wenn auch jene enge aus handschuhweichem schwarzen Leder, dazu dunkle Stiefeletten, so daß er nicht einmal ihre Fesseln sehen konnte.

Die wirkliche Überraschung aber erwartete ihn am Abend. Anstatt sich wie gewohnt ihm gegenüber auf die andere Seite des Ganges zu setzen, trat sie zu ihm hin und setzte sie sich ihm unmittelbar gegenüber, den Oberkörper leicht vorgebeugt. Als sie ihre Beine, diesmal vertraulich zärtlich, übereinanderschlug, berührte sie wie zufällig seine Wade. Sie holte kein Buch heraus, um zu lesen, sondern sah ihn mehr als nur freundlich lächelnd an.

 

An dieser Stelle seines Berichtes würde unser Bewunderer innehalten. Sein Gegenüber, dessen Spannung gerade in diesem Moment unerträglich zu werden beginnt, ist versucht zu fragen; und, wie ging es weiter?

Um die Mundwinkel unseres Freundes würde sich ein sanftes, nachsichtiges Lächeln spielen, als wolle er sagen, wie könne es schon weitergegangen sein? Liegt das nicht nahe? Aber in ihm ist keine Spur von Überheblichkeit. Er weiß, daß der andere es mit seinen Worten hören und sich nicht den eigenen Vermutungen überlassen sehen will.

Nach einer Kunstpause, die die Spannung nur in die Höhe treiben soll und die Aufmerksamkeit seines Zuhörers versichern, will er fortfahren. Doch im selben Moment sehen sie eine große, schlanke ein wenig zum Molligen neigende Frau mit schwarzen Haaren, vollen tiefrot geschminkten Lippen, in einem hellen dekolletierten kurzen Kleid, hauchzarten hellen Strümpfen und hochhackigen Schuhen mit einem Lächeln das der Schönheit des Sommertages in nichts nachsteht, auf sie zukommen.

Der andere lächelt verstehend. Er kennt jetzt den Ausgang der Geschichte, zumindest glaubt er es. Er verabschiedet sich diskret, kaum daß die Frau zu ihnen getreten ist, sie begrüßt hat.

Während der Bewunderer und die Frau zurückbleiben, ist er noch sichtlich bewegt von dieser schönen Liebesgeschichte.

Beinahe läuft er gegen eine Frau, die aus einer schmalen Seitenstraße kommt. Er entschuldigt sich. Doch hält zugleich erstaunt inne. Denn diese Frau ist eine große, ein wenig zum Molligen neigende Schwarzhaarige mit vollen, rot geschminkten Lippen, einem kurzen dunklen Kleid, nackten Beinen und hochhackigen Schuhen. Das sind aber auch die einzigen Gemeinsamkeiten zwischen dieser und der Frau des Bewunderers. Aber auch in ihr glaubt er, die Schöne aus dem Zug wiederzuerkennen.

Es als Wink des Schicksals begreifend, fragt er sie, ob er sie auf den Schreck nicht zu einer Tasse Kaffee einladen dürfe. Sie lächelt, das Lächeln nimmt ihn gefangen, sie überlegt kurz nach und willigt schließlich ein, so sympathisch ist ihr schon länger kein Mann mehr erschienen, mit dem sie beinahe zusammengestoßen wäre. Jedoch nur auf eine Tasse, sie habe nicht allzu viel Zeit, schränkt sie ein. Allerdings sagt ihre Mimik das Gegenteil aus.

Während er neben der schönen Schwarzen die wenigen Schritte bis zu einem nahegelegenen Café geht, sie über Belangloses plaudern, kann er sich des Gefühls nicht erwehren, daß die Geschichte des Bewunderers dennoch anders ausgegangen sein könnte als er geglaubt hat. Wer sagt ihm denn, daß jene Schöne, die zu ihnen an den Tisch getreten ist, die der Bewunderer erwartete, die seine Gefährtin ist, mit der Schönen aus dem Zug identisch ist? Gewiß, auf sie paßt die Beschreibung. Doch auf die Schöne neben ihm paßt die Beschreibung gleichfalls. Dennoch haben beide Frauen wenig Ähnlichkeit miteinander.

Wie dem auch sei, die Gelegenheit, die Wahrheit zu erfahren, ist verpaßt. Selbst wenn er dem Bewunderer wiederbegegnen sollte, fragen konnte er ihn nicht mehr. Dafür hat er sich zu überzeugt gegeben zu wissen, wie die Geschichte ausgegangen ist. Doch was wäre geschehen, wenn wäre er dageblieben? Wenn er die Geschichte zu Ende angehört hätte? Er würde zwar das Ende kennen, aber dann wäre er dieser Schönen nicht begegnet. Was er tief bedauern würde, selbst wenn es bei einem Kaffee bliebe. Nun, gleich wie es weiter gehen würde: Diese Begegnung wog das Unwissen um das Ende der Geschichte bei weitem auf.

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