Franz Werfel »Eine blaßblaue Frauenschrift«

von
Armin A. Alexander

Interpretationen

Leonidas hat vor kurzem seinen fünfzigsten Geburtstag gefeiert. Noch immer befinden sich Glückwunschbriefe unter der Post. Es ist einer jener Oktobertage, die noch mehr dem Sommer zugehörig scheinen, aber jederzeit in herbstlich stürmisches Wetter umschlagen können. Seine Lebensbilanz scheint auf der Habenseite sehr üppig aufgefallen. Als Sohn eines armen Schullehrers, dem er in einem Anflug von Selbstbewußtsein, den vermeintlich hochtrabenden Vornamen verdankt, und über den er mittlerweile gar nicht mehr unglücklich ist, der sich während seiner Studienzeit eine Zeitlang aus Hauslehrer verdingen mußte, ist ein angesehener Sektionschef im Ministerium für Kultur in Wien geworden, der zudem eine reiche Heirat getätigt hat, mit Amelie, einer Frau, die in der Wiener Gesellschaft für ihre Schönheit berühmt und begehrt war und die heute noch alles unternimmt, um für ihren Mann die gertenschlanke Schönheit zu bleiben, das Zierliche zu behalten, für das ihr Mann sie begehrt. Auch an ihm scheinen die Jahre äußerlich beinahe spurlos vorübergegangen zu sein.

Er ist überzeugt, daß er alles einer glücklichen Fügung und dem Selbstmord eines Kommilitonen und Zimmernachbarn, der ihm seinen Frack hinterlassen, verdankt. Einem Frack, der ihm tadellos gepaßt hat und aus ihn einen schmucken jungen Mann werden ließ, der in der ›Gesellschaft‹ auffällt und sich bald allgemeiner Beliebtheit erfreute. Das entspringt seiner Überzeugung, daß Äußerlichkeiten und gute Umgangsformen für eine Karriere in der öffentlichen Verwaltung und der guten Gesellschaft entscheidender sind, als fachliche Qualifikation und ein gesunder Ehrgeiz, beides besitzt er jedoch in ausreichendem Maß.

Unter den verspäteten Glückwunschbriefen befindet sich einer, dessen Adresse mit blaßblauer Tinte geschrieben ist. Er erkennt sogleich die Handschrift und wird dadurch aus seinem selbstzufriedenen Idyll gerissen. Er fürchtet Amelies Eifersucht und steckt den Brief wie beiläufig in die Tasche.

Wie ein Pennäler zieht er sich auf die Toilette zurück, um den Brief, der seine Gedanken seit seinem Erhalt beherrscht, zu lesen. Bevor er jedoch den Mut aufbringt, diesen zu öffnen, wird in ihm die Erinnerung an eine ähnliche Situation vor vielen Jahren lebendig. Es war während eines Sommerurlaubs in den Bergen. Er war erst wenige Jahre verheiratet. Den damaligen Brief hat er aus Angst vor dem Inhalt ungelesen zerrissen. Er verliert sich in Erinnerungen an Vera, der er das erste Mal als bettelarmer Student im Haus ihrer Eltern begegnet ist, wo er ihrem Bruder Nachhilfeunterricht erteilte. Damals war er zu schüchtern, sich ihr zu nähern, obwohl er sich von der Fünfzehnjährigen auf besondere Weise angezogen gefühlt hatte. Einige Jahre später, bereits auf dem Weg zu einer vielversprechenden Karriere und mit einer reichen Frau verheiratet, begegnete er ihr im Rahmen eines beruflichen Aufenthalts in Heidelberg erneut. Da ihm der Aufenthalt in einem Luxushotel zu wider ist, mietet er sich in einer Studentenpension ein, in der Vera wiedertrifft, nun selbst Studentin. Er forciert eine Liebesaffäre zwischen Vera und ihm, die in diese nur zu gerne einwilligt. Er nährt bei ihr die Illusion, daß eine Ehe zwischen ihnen sein Bestreben ist. Als er abreist, läßt er sie in dem Glauben, er würde sich in Bälde bei ihr melden. Doch hat er das nie geplant gehabt. Diesmal ist das Interesse, den Brief zu lesen größer, als vor fünfzehn Jahren während des Sommerurlaubs. Ganz gleich, was er sich vorgestellt hat, der Brief beginnt zu seiner Erleichterung mit der förmlichen Anrede »Sehr geehrter Herr Sektionschef«. Ihn überrascht der distanzierte Ton, in dem Vera ihn darum bittet, sich für einen jungen Mann einzusetzen, damit dieser in Wien seine gymnasiale Ausbildung fortsetzen kann, die ihm in seinem Heimatland auf Grund seines jüdischen Glaubens verwehrt ist. Leonidas weiß, daß es mittlerweile auch in Österreich nicht leicht für die jüdische Bevölkerung ist, da die Sympathisanten unter der politischen Kaste für den Deutschen Weg stetig größer wird.

Nach der anfänglichen Erleichterung, setzt sich in ihm die Überzeugung fest, daß dieser junge Mann sein Sohn sein könnte. In der Folge wirft er in Gedanken sein bisheriges Leben um, in dem er mit Vera und seinem Sohn ein neues Leben beginnt, einschließlich mit dem Abschied vom Ministerium. Er verleugnet vor sich auch nicht die Konsequenzen, die eine Trennung und Scheidung von Amelie nach sich ziehen würden. Die Vorstellung von diesem neuen Leben beseelt ihn derart, daß er in einer Sitzung, während der mehrere Professorenstellen neu vergeben werden, statt eines mittelmäßigen Mediziners, sich für einen international renommierten einsetzt, dessen wesentlicher Nachtteil sein jüdischer Glaube ist. Während dieser Auseinandersetzung läßt der Minister ihn spüren, daß er ihn als einzigen im Raum Ernst nimmt, keinen Ja-Sager in ihm sieht. »[–]»Wie wär’s, Herr Sektionschef, wenn wir diesem Bloch das große goldne Ehrenkreuz für Kunst und Wissenschaft verleihen lassen und den Titel eines Hofrates dazu –«

Dieser Vorschlag bewies, daß der Minister seinen Sektionschef nicht für einen bürokratischen Handlanger hielt wie den braven Jaroslav Skutecky, sondern für eine einflußreiche Persönlichkeit, hinter der sich undurchsichtige Mächte verbargen, die nicht verletzt werden durften.[–]«

Nach dieser Sitzung sucht Leonidas Vera in ihrem Hotel auf. Sie empfängt ihn in einem Gesellschaftszimmer des Hotels. Sie ist auf dem Weg nach Montevideo (Uruguay), wo sie eine Dozentenstelle antreten wird. Immer noch im Glauben befindlich, einen mit ihr zu haben, läßt er sich zu einer Lebensbeichte hinreißen, obschon sie keine von ihrem hören will. Sie hat die Vergangenheit für sich abgeschlossen. Sie desillusioniert ihn. Der junge Mann ist nicht ihr vermeintlicher gemeinsamer Sohn, sondern der einer Freundin. Der Vater des jungen Mannes, ein renommierter Physiker, wurde von den Nazis totgeprügelt, weil er den falschen Glauben besitzt. Die Mutter starb wenig später. Leonidas weigert sich das zu glauben, obschon es ihm im tiefen Inneren als wahrscheinlich erscheint. Auch Veras wirklicher Sohn, der in jenem Sommer an den Folgen einer Krankheit starb, als sie den ersten Brief geschrieben hat, ist nicht von ihm. »Es war ein kleiner Junge«, sagte Vera, »zwei und ein halbes Jahr alt. Er hieß Joseph, nach meinem Vater. Leider habe ich jetzt von ihm gesprochen. Und ich hatte mir fest vorgenommen, nicht von ihm zu sprechen, nicht mit Ihnen! Denn Sie haben kein Recht –« Noch während Leonidas die Eindrücke dieser Begegnung verarbeitet, verläßt sie den Raum. Die Teerosen, die er für sie mitbrachte, die ihm zudem wie ein Ersatz für die Rosen erschienen, die er seinerzeit als Student gekauft, aber nicht getraut hatte, sie ihr auch zu überreichen, hat sie in einer Vase stehen lassen.

Nachdem Veras Eröffnungen verarbeitet hatte, findet Leonidas in sein wohlig eingerichtetes Leben zurück. Er lenkt bei der Frage der Vergabe der Professorenstellen ein. »[–] Bitte Herrn Minister gehorsamst um Entschuldigung für die gestrigen Diffizilitäten. Ich hab mir die Anregungen des Herrn Ministers ruhig überschlafen. Herr Minister haben wieder einmal das Ei des Kolumbus entdeckt. Hier hab ich gleich den Ordensantrag für Professor Bloch und das Ernennungsdekret für Professor Lichtl mitgebracht. Wir müssen uns endlich auf unsre nationalen Persönlichkeiten besinnen und sie gegen die internationale Reklame durchsetzen. Herr Minister sind doch äußerst expeditiv und werden beim heutigen Kabinettsrat diese Stücke gewiß durch den Herrn Bundeskanzler unterfertigen lassen. [–]«

Während eines Opernbesuchs wird er sich bewußt, »[–] daß heute ein Angebot zur Rettung an ihn ergangen ist, dunkel, halblaut, unbestimmt, wie alle Angebote dieser Art. Er weiß, daß er daran gescheitert ist. Er weiß, daß ein neues Angebot nicht wieder erfolgen wird.«

 

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