Mark Twain »Querkopf Wilson«

von
Armin A. Alexander

Interpretationen

Im Staate Missouri, auf dem rechten Ufer des Mississippi, liegt die Stadt, welche der Schauplatz dieser Geschichte ist. Sie heißt Dawson, und man muß von St. Louis bis dahin noch sechs Stunden mit dem Dampfboot stromabwärts fahren.

Der Ort bestand im Jahre 1830 aus einer Anzahl freundlicher ein- oder zweistöckiger, weißgetünchter Häuser, die über und über mit einem Gewirre von Schlingrosen, Jelängerjelieber und vielfarbigen Winden bedeckt waren. Zu jeder dieser hübschen Heimstätten gehörte auch ein Vorgärtchen mit weiß angestrichenem Staketenzaun. Dort blühten Goldlack, Stockrosen, Federnelken, Balsaminen und anders altmodische Blumen in üppiger Fülle, während auf den Fensterbrettern Holzkästen mit Moosrosen prangten und Geranien in Blumentöpfen ihr feuriges Rot mit der zarteren Farbe der Schlingrosen mischten, die an der Mauer in die Höhe kletterten. Wenn draußen auf dem Blumenbrett neben Kästen und Töpfen noch Raum war, so lag – falls die Sonne schien – sicher eine Katze da. [–]

 

Mit dem Stilmittel des Idylls beginnt Mark Twain seinen 1894 erschienen Roman »Querkopf Wilson«, im Deutschen auch als »Knallkopf Willson« betitelt. Man fühlt sich an die Welt von »Tom Sawyer« und »Huckleberry Finn« erinnert. Gemein ist diesen drei Werken jedoch nur der Handlungsort, die Gegend wo Mark Twain selbst aufgewachsen ist. Dawson ist einer dieser idyllischen Orte, in dem die Zeit stehengeblieben zu sein scheint oder nur im Schneckentempo voranschreitet. Alles geht einen gewohnten Gang und scheint auf ewig in Stein gemeißelt zu sein. Jeder kennt jeden und alle pflegen einen mehr oder weniger respektvollen Umgang miteinander. »[–] Es war eine ruhige, wohlhäbige und zufriedene Stadt, vor fünfzig Jahren erbaut und in zwar langsamem, aber stetigem Wachstum begriffen. [–]« Schweinezucht und Getreideanbau sind einträglich und bestimmen überwiegend den Wohlstand des Ortes und seiner Bürger. Es gibt die anerkannten Honoratioren. »[–] York Leicester Driscoll, zählte etwa vierzig Jahre und war Richter am Bezirksgericht. Stolz auf seine vornehme, altvirginische Abkunft, strebte er stets, es seinen Vorfahren gleich zu thun, nicht nur in betreff der Gastlichkeit, sondern auch durch sein etwas förmliches, würdevolles Wesen. Er war freigebig und gerecht, auch genoß er die größte Hochachtung und Liebe seiner Mitbürger. Sein ganzes Trachten ging dahin, ein Edelmann zu sein ohne Furcht und Tadel. Das war seine einzige Religion, der er unverbrüchlich treu blieb [–]«, wie auch der jüngere Bruder des Richters, »[–]der ein wohlhabender Mann [war], auch ein kluger Kopf in spekulativen Geschäften, und sein Besitzstand wuchs [–]«, es fehlen auch die obligatorischen ledigen alten Tanten und die besten Freunde der Protagonisten.

Zu Beginn der Handlung – Januar 1830 – sind die Brüder Driscoll kinderlos, der ältere, weil ihm dies bisher nicht vergönnt war, Percy, der jüngere, weil die »[–] Kinder, die aber leider von Masern, Kroup und Scharlachfieber befallen wurden und dadurch dem Doktor Gelegenheit gaben, seine wirksamen, vorsintflutlichen Arzneimittel anzuwenden. Da wurden die Wiegen wieder leer. [–]« Seine Frau bringt schließlich am ersten Februar noch einen Jungen zur Welt, verstirbt jedoch kaum eine Woche nach der Geburt.

Wie überall in den Südstaaten zu jener Zeit, so hält sich auch die weiße Bevölkerung von Dawson Sklaven, die vornehmlich die Schweinezucht und den Getreideanbau besorgen. Im Gegensatz zu den Regionen weiter im Süden, flußabwärts im örtlichen Jargon, ist man sich hier mehr weniger bewußt, daß Sklaven irgendwo auch Menschen sind. Aber auch hier stellt niemand das Sklavenhaltersystem infrage. Am selben Tag bringt die Sklavin Roxy im Hause Percy Driscoll auch einen Jungen zur Welt. Nach dem Tod von Frau Percy Driscoll wird die Betreuung des Stammhalters Roxy übertragen. »[–] Sie konnte dabei ganz nach eigenem Gutdünken verfahren, denn Herr Driscoll vertiefte sich bald wieder in seine Geschäftsangelegenheiten und ließ sie thun, was sie wollte. [–]«.

Zur selben Zeit läßt sich ein neuer Bewohner in Dawson nieder, David Wilson, »[–] ein junger Mann von schottischer Abstammung, der aus seiner Geburtsstadt im Staate New-York nach jener abgelegenen Gegend gewandert kam, um sein Glück zu suchen. [–]« Er ist Anwalt, macht einen angenehmen Eindruck »[–] Seine klugen blauen Augen schauten offen und freimütig drein und sie konnten zuweilen recht schalkhaft zwinkern. [–]« Leider wird ihm sein Sinn für einen schalkhaften Humor bereits zu Anfang zum Verhängnis, denn so eingefahren die Bewohner des kleinen Ortes in ihren Gewohnheiten und Ansichten so, so unterentwickelt ist ihr Humor, sie nehmen jede Aussage für wahr an. Das Unverständnis für seine humoristische Bemerkung »[–] flog wie ein Lauffeuer durch die Stadt, sie war in aller Munde. Ehe noch eine Woche verging, hatte er seinen Taufnamen verloren und hieß statt dessen nur noch der ›Querkopf‹. Mit der Zeit wurde er allgemein geschätzt und beliebt, aber der Spitzname hatte sich schon so fest eingenistet, daß er ihn nicht wieder los wurde. Er war nun einmal von Anfang an für einen Narren erklärt worden und der Spruch ließ sich weder drehen noch wenden. Zwar hatte die Bezeichnung bald keine feindselige oder unfreundliche Bedeutung mehr, aber sie haftete ihm dauernd an, volle zwanzig Jahre lang.« Wilsons Karriere als Anwalt scheint damit bereits beendet, bevor sie begonnen hat. Mangels Mandanten bleibt ihm nichts anderes übrig, als den Lebensunterhalt mehr schlecht als recht mit Buchhaltung und Landvermessung zu bestreiten. Sein Steckenpferd sind Fingerabdrücke. Jeden Mitbürger, dessen er habhaft werden kann, muß seine Fingerabdrücke auf kleinen Glasplatten abgeben, die Wilson akribisch dokumentiert und archiviert, was übrigens die Auffassung der übrigen Bürger von seinem schrulligen Charakter nur verstärkt.

Twain greift hier der tatsächlichen Entdeckung der Bedeutung von Fingerabdrücken vor. Als der Roman erschien war die besondere Bedeutung von Fingerabdrücken bei der Identitätsfeststellung gerade erkannt worden.

Während Wilson im Sommer 1830 an seinem Schreibtisch sitzt, um mehrere Rechnungsbücher in Ordnung zu bringen, wird er unfreiwillig Zeuge einer Unterhaltung zwischen zwei Sklaven, einem Mann und einer Frau. Der Mann, Jasper, ist der Idealtypus des Afrikaners, »[–] ein junger kohlschwarzer Neger von prächtigem Wuchs [–]« Die Frau, Roxy, zeigt die Absurdität der US-amerikanischen Sklavenhaltergesellschaft jener Zeit nur zu deutlich auf. »[–] Nach Roxys Redeweise zu urteilen, hätte man sie für eine Schwarze halten sollen, aber da irrte man sich gewaltig. Was etwa farbig an ihr war – höchstens der sechzehnte Teil – das sah man nicht. [–] Dem Ansehen nach war Roxy wirklich so weiß, wie man nur irgend sein konnte, aber ihr eines farbiges Sechzehntel schlug alle anderen fünfzehn Sechzehntel aus dem Felde und machte sie zur Negerin, zur verkäuflichen Sklavin. An ihrem Kinde war sogar nur ein Zweiunddreißigstel farbig, aber es galt dennoch nach Gesetz und Sitte für einen Neger und Sklaven. Es hatte blaue Augen und blonde Locken, wie sein kleiner weißer Altersgenosse; aber selbst der Vater des weißen Knaben, der sich nur wenig um die Kinder bekümmerte, konnte sie an der Kleidung unterscheiden: der kleine Weiße trug ein feines, reich mit Falbeln besetztes Musselinkleidchen und ein Korallenhalsband, während der andere keinerlei Schmuck besaß und nur ein grobes leinenes Hemd anhatte, das ihm kaum bis zu den Knieen reichte. Der weiße Knabe hieß Thomas í  Becket Driscoll, der andere Valet de Chambre, ohne Vatersnamen – den durfte kein Sklave führen. Roxana hatte die Benennung irgendwo aufgeschnappt; der Klang gefiel ihr, und da sie glaubte, es sei ein Rufname, beglückte sie ihren Liebling damit. Natürlich wurde er bald in ›Schamber‹ abgekürzt. [–]«.

Wilson kommt mit Roxy ins Gespräch und nimmt von beiden Jungen in ihrer Obhut zum ersten Mal die Fingerabdrücke. Rund zwei Monate später nimmet er sie erneut. Er will herausfinden, ob die Abdrücke im Laufe des Lebens einer Veränderung unterworfen sind. »[–] Bei Kindern pflegte er in kürzeren Pausen die Aufnahmen vorzunehmen, bei älteren Leuten in Pausen von einigen Jahren. [–]«

Kurz nach der zweiten Abnahme der Abdrücke, ereignet sich ein Zwischenfall im Hause Percy Driscoll. Es wird Geld vermißt. Kleinere Diebstähle sind in den Haushalten mit Sklaven an der Tagesordnung bekümmern kaum einen. Die Sklaven fühlen verständlicherweise keine Gewissensbisse dabei. Doch diesmal geht es nicht um einen silbernen Löffel oder ein paar Kupfermünzen. Percy Driscoll verliert die Geduld. Er droht dem Schuldigen an, ihn flußabwärts zu verkaufen. Das schlimmste, was einem Sklaven aus dieser Gegend widerfahren kann, dort besitzen die Weißen eine weitaus objekthaftere Beziehung zu ihren Sklaven. Die Täter gestehen schließlich. Percy Driscoll macht seine Drohung nur zur Hälfte wahr, zwar verkauft er die Schuldigen, jedoch nicht flußabwärts, sondern vor Ort. »[–] Die Schuldigen warfen sich in überschwenglichem Dankgefühl vor ihm auf den Boden, küßten ihm die Füße und versicherten, sie würden seine Güte nun und nimmermehr vergessen und ihr Leben lang für ihn beten. Sie meinten das ganz aufrichtig, denn, hatte er nicht wie ein Gott seine mächtige Hand ausgereckt und die Pforten der Hölle vor ihnen verschlossen? – Er selbst wußte, daß er eine edle, hochherzige That vollbracht hatte und war innerlich stolz auf seine Großmut. Am Abend schrieb er den Vorfall in sein Tagebuch, damit sein Sohn ihn in späteren Jahren lesen könnte und durch sein Beispiel angetrieben würde, ebenfalls Güte und Menschlichkeit walten zu lassen. [–]«

Dieses einschneidende Erlebnis, dessen Zeuge Roxana wird, verleitet sie zu einem folgenschweren Entschluß. Damit ihrem geliebten Sohn erspart bleibt, eines Tages auch das Opfer der Willkür seiner Herrschaft zu werden, vertauscht sie die beiden Kinder, was niemandem auffällt, da es ohnehin jedem schwer gefallen ist, die beiden Kinder auseinanderzuhalten, so ähnlich sind sich mit ihren blonden Haaren und den blauen Augen. Nur einmal fürchtet Roxana die Entdeckung ihrer Tat, als wenig später Wilson die Fingerabdrücke der Jungen ein weiteres Mal nimmt. Wilson schöpft jedoch keinen Verdacht. Tom, der Erbe eines Gutsbesitzers, wächst als Sklave heran, während »Schamber« zum Erbe eines Gutsbesitzers wird.

Kaum ist der Tausch durchgeführt ändern sich die Charakterzüge der beiden Kinder vollständig. Der echte »Schamber« – im weiteren Verlauf der Geschichte »Tom« genannt, während der echte Tom, nun als »Schamber« bezeichnet wird – nimmt alle Unarten verwöhnter weißer Kinder reicher Leute an, während »Schamber« zu einem gewohnt demütigen Vertreter seiner Klasse wird. Selbst Roxy läßt sich bald von ihrem eigenen Sohn tyrannisieren, mit der Zeit glaubt sie tatsächlich daran, daß er der privilegierte Weiße ist. »Schamber« erhält von seinem Herrn und leiblichen Vater, der in ihm ja ›nur‹ einen Sklaven und somit sein Eigentum sieht, Schläge, weil er sich gegen die Mißhandlungen, die Tom ihm mutwillig zufügt, wehrt. »[–] Er machte Schamber klar, daß er unter keinen Umständen das Recht habe, die Hand gegen seinen kleinen Gebieter zu erheben.[–]«

Tom und Schamber wachsen gemeinsam auf und könnten vom Charakter nicht unterschiedlicher sein. 1845 stirbt Percy Driscoll, schenkt Roxy noch auf dem Totenbett die Freiheit. Seinen vermeintlichen Sohn übergibt er der Obhut seines Bruders York und dessen Frau. »[–] Das kinderlose Ehepaar freute sich darüber. Leute, die keine Kinder haben, sind in diesem Punkt nicht sehr anspruchsvoll. [–]«. Einen Monat vor Percys Tod hatte der Richter ihm Schamber abgekauft, da ihm zu Ohren gekommen war, daß Tom seinen Vater überreden wollte, den Gefährten seiner Kindertage flußabwärts zu verkaufen. Er [–] wünschte dies Ärgernis zu vermeiden, da er wußte, wie ungünstig es allgemein beurteilt wurde, wenn man mit Haussklaven auf solche Weise verfuhr, ohne daß ein zwingender Grund vorlag. [–]«

Tom erwartet nach dem Tod des Vaters eine unangenehme Überraschung, denn dieser »[–] hatte alles an das Gelingen seiner großen Landspekulation gesetzt, allein, er starb, ohne seinen Zweck zu erreichen. Kaum war er ins Grab gestiegen, so brach die ganze Herrlichkeit zusammen, und der bisher so beneidete junge Erbe und Glückspilz ward zum Bettler. [–]«. Jedoch macht er sich nicht viel daraus, schließlich »[–] brachte [es] ihm keinen Schaden; sein Onkel versprach ihm, er solle nach seinem Tode der Erbe seines gesamten Vermögens werden [–]«.

Seine Tante »[–] genoß die Freude, den unvergleichlichen Tom ihr eigen zu nennen, noch zwei Jahre lang – zeitweise war das Glück wohl nicht ganz ungetrübt, aber es beseligte sie doch. Dann starb sie, aber ihr Gatte setzte mit Hilfe seiner kinderlosen Schwester, der verwitweten Frau Pratt, das Verhältnis zu Tom in alter Weise fort. Tom wurde zu seiner vollsten Zufriedenheit gehätschelt, verwöhnt und verzogen – wenigstens in der Regel. Das ging so weiter, bis er neunzehn Jahre alt war, dann schickte man ihn nach Yale auf die Universität. Er hatte vorher alle mögliche Nachhilfe erhalten, doch zeichnete er sich dort in keiner Weise aus. Zwei Jahre blieb er in Yale, dann wurde ihm die Anstrengung zu viel und er kam nach Hause. [–]«

Wieder zu Hause hat Tom sich äußerlich zwar verändert, er ist »[–] nicht mehr schroff und mürrisch, sondern verbindlich, glatt und geschmeidig [–]«. Dafür hat er einige neue Gewohnheiten mitgebracht. »[–] das Trinken betrieb er ziemlich offenkundig, das Spielen aber nur heimlich. Daß er sich auf kein Glücksspiel einlassen durfte, wo es seinem Onkel zu Ohren kommen konnte, wußte er recht gut. [–]«. Aufgrund seiner neuen Gewohnheiten meiden ihn die alten Kameraden im Ort. Ihnen sind seine modischen Affektiertheit zu städtisch und somit zuwider. Sie lassen ihn ihre Abneigung deutlich spüren, worauf er einlenkt und sich bezüglich der Kleider den allgemeinen Gepflogenheiten der kleinen Stadt anpaßt. Tom verlegt ohnehin seine Aktivitäten bezüglich Spielen und Trinken nach St. Louis, da er weiß, wie sein Onkel darüber denkt. Dieser gibt das Richteramt und alle anderen beruflichen Tätigkeiten 1850 auf. »[–] Er lebte jetzt schon seit drei Jahren in behaglicher Muße als Präsident des Freidenker-Klubs, dessen einziges Mitglied Querkopf Wilson war. Die allwöchentlichen Beratungen dieser Gesellschaft bildeten nunmehr das Hauptlebensinteresse des alten Rechtsgelehrten. [–]« Der alte Driscoll schätzt Wilson ob seiner besonderen geistigen Fähigkeiten, was er auch weithin kundtut, dennoch sind die übrigen Mitbürger nicht von ihrer Meinung bezüglich Wilson, die sie seit zwanzig Jahren pflegen, abzubringen.

Währenddessen erhält die kleine Stadt zwei Neuzugänge, zwei Brüder, Zwillinge, junge Italiener. Sie sind weitgereiste Musiker und bezaubern durch ihr freundliches Wesen. Sie bringen durch ihr musikalisches Talent ein wenig von der großen weiten Welt in das verschlafene Landstädtchen.

Als die Brüder in verschiedenen Bürgerhäusern Konzerte geben, wird in den Häusern der Gäste während deren Abwesenheit eingebrochen. Auf Grund von Zeugenaussagen wird eine Frau als Täterin vermutet. Jedoch ist es der verkleidete Tom, der sich aufgrund hoher Verluste im Spiel genötigt sieht, auf diese Weise das nötige Geld für seine Schulden herbeizuschaffen. Roxy kommt dahinter. Während sie sich in einem verlassenen Haus am Rande der Stadt, von dem die Bewohner überzeugt sind, daß es dort spukt und sie es darum meiden, treffen, offenbart sie ihm seine Herkunft als Sklave.

Nach ihrer Freilassung hat sie als Stubenmädchen auf den Flußdampfern gearbeitet, höhere Ambitionen hatte sie nicht besessen, sie hatte als Sklavin nicht einmal lesen und schreiben gelernt. Sie war beliebt wegen ihres Fleißes und ihres Wesens und schaffte es von ihrem Lohn einen nicht unwesentlichen Teil zurückzulegen. Als sie aufgrund von Rheuma ihre Arbeit aufgehen mußte, mußte sie erfahren, daß sie durch den Zusammenbruch der Bank, bei der sie ihr Konto hatte, mittellos geworden war. Sie hoffte, durch das Geständnis Tom gegenüber, ihn zu einer »Leibrente« zu erpressen. Tom geht widerwillig darauf ein.

Nachdem er aus dem Ertrag der Einbrüche seine Schulden bis aufs weitere beglichen hat, nimmt er sich vor, der Spielleidenschaft zu entsagen, was ihm auch eine Zeitlang gelingt. Doch der Rückfall läßt nicht lange auf sich warten und seine Verluste sind größer als zuvor. Erneut versucht er durch den Ertrag von Einbrüchen seine Spielschulden zu begleichen. Bei einem seiner Raubzüge fällt ihm der reich mit Edelsteinen verzierte Dolch der italienischen Zwillinge in die Hand. Der Dolch ist das Geschenk eines indischen Fürsten, einem Bewunderer ihrer Musik.

Zwischen den Zwillingen und Tom entstehen Spannungen, die ihre alleinige Ursache in Toms Charakter haben. Es kommt zu einem Skandal, bei dem Tom sich weigert, dem Italiener auf die übliche archaische Weise des Duells Genugtuung zu verschaffen. Darauf zerreißt der Richter, das Testament, in dem er Tom zu seinem Erben eingesetzt hat. Das hat er in den zurückliegenden Jahren bereits einige Male getan. Tom erfährt davon und diesmal glaubt er, daß der Onkel seinen Entschluß nicht mehr rückgängig machen wird.

Nach einer langen Unterredung mit Wilson willigt Tom doch noch in ein Duell ein. Daraufhin setzt der Onkel ihn wieder zum Erben ein, ohne es ihm mitzuteilen. Tom wird jedoch heimlich Zeuge seiner Wiedereinsetzung.

Sowohl die Zwillinge als auch Tom steigen durch dieses Duell beträchtlich in der Achtung der übrigen Bürger.

Derweil beschäftigen die Stadt und Wilson die unaufgeklärten Einbruchdiebstähle, hinter denen immer noch jene beobachtete alte Frau vermutet wird. Wilson ist überzeugt, den Fall in Bälde aufklären zu können. Trotz einer ausgeschriebenen hohen Belohnung bleibt gerade der wertvolle indische Dolch der Zwillinge verschwunden. Es wird bereits gemunkelt, daß dieser nie existiert hat.

Tom verläßt für einige Zeit erneut die Stadt, um seine Beute bis auf den Dolch, der ihn als Dieb überführen würde, zu verkaufen. Die Erlöse aus dem Diebesgut sind aber bei weitem nicht ausreichend, um die Spielschulden begleichen zu können und den wertvollen Dolch kann er ja nicht verkaufen.

Roxy schlägt ihm vor, sich von ihm als Sklavin verkaufen zu lassen. Sie fälschen entsprechende Dokumente. Roxy ist überzeugt, sich aus ihrer Lage nach einiger Zeit befreien zu können. Tom jedoch verkauft sie entgegen der Absprache flußabwärts an einen Farmer, bei dem sie ein schlechtes Los hat. Tom scheut sich also nicht einmal, die eigene Mutter zu verkaufen, wenn es ihm zum Vorteil ist. Aus der Metapher wird somit ein realer Vorgang.

Roxy gelingt jedoch die Flucht. Tom ist verärgert, als sie wieder zurückkehrt, nur sie kann ihn vor aller Welt bloßstellen, schließlich hat er »[–] ’ne freie Negerin flußabwärts verkauft [hat] [–]« Er fürchtet, daß ihn sein Onkel erneut enterbt. Sie droht ihm, zu seinem Onkel zu gehen, ihm das ganze Geheimnis zu enthüllen, dann würde er flußabwärts verkauft. Noch besitzt Tom Schulden, die nicht beglichen sind. Statt zu seinem Onkel zu gehen, um ihn den nötigen Betrag zu erbitten, fast er den folgenschweren Entschluß, ihm das Geld zu stehlen.

Tom verkleidet sich wieder als alte Frau und nimmt den indischen Dolch der italienischen Zwillinge mit. Als er in das Haus seines Onkels einbricht und das Geld nehmen will, erwacht dieser. Er war auf dem Sofa im Arbeitszimmer eingeschlafen ist. Er sieht einen unbekannten Eindringling und ruft laut um Hilfe. In diesem Moment ersticht Tom ihn mit dem mitgebrachten Dolch, den er fallen läßt, und flüchtet Hals über Kopf aus dem Haus. Die italienischen Zwillinge, deren abendlicher Spaziergang sie in diesem Moment am Haus vorbeiführt, hören das verzweifelte Rufen und betreten das Arbeitszimmer, in der Hoffnung helfen zu können. Kurz darauf wird von den anderen Hausbewohner der Mord entdeckt. Man hält die Zwillinge für die Mörder. Lediglich Wilson ist von ihrer Unschuld überzeugt.

Während der Gerichtsverhandlung beweist Wilson nicht nur lückenlos die Unschuld der Zwillinge und Toms Täterschaft mit Hilfe seiner Fingerabdruckkartei, sondern auch, daß Tom und Schambers seinerzeit vertauscht worden sind. Tom gesteht unter der Last der Beweise und in einem weiteren Prozeß zu lebenslänglicher Haftstrafe verurteilt. Schambers, der wirkliche Tom, in seine rechtmäßige Position gesetzt. Wilson erfährt endlich die überfällige Anerkennung als Anwalt. Wie auch die Zwillinge Bewunderung erfahren.

Roxy dagegen war von nun an eine gebrochene Frau, »[–] der junge Mann, den sie dreiundzwanzig Jahre lang zur Sklaverei verdammt hatte, auch ferner monatlich fünfunddreißig Dollars aus, wie der falsche Erbe gethan, aber ihre Wunden waren zu tief – Geld konnte sie nicht heilen. Aus ihren Augen war aller Glanz verschwunden, ihre stolze Haltung war dahin und nie und nirgends hat man wieder ihr helles, sorgloses Lachen vernommen. Im Besuch ihrer Kirche und in gottesdienstlichen Übungen fand sie den einzigen Trost. [–]« Auch der echte Erbe wurde nicht wirklich froh mit seinem neuen Leben. Er »[–] befand sich aber in einer äußerst unbehaglichen Lage. Er konnte weder lesen, noch schreiben und sprach nichts als den unverfälschtesten Negerdialekt aus dem Sklavenquartier. Sein Gang, seine Haltung, alle seine Bewegungen und Stellungen waren ungeschlacht und gewöhnlich, sein Wesen – das eines Sklaven. Geld und schöne Kleider konnten diese Mängel nicht zudecken oder beseitigen, sie stellten das alles nur noch in ein grelleres und traurigeres Licht. Vor dem Aufenthalt im Wohnzimmer der Weißen graute dem armen Menschen förmlich; nirgends war ihm wohl und behaglich zu Mute, außer in der Küche. [–]«

Da aus dem Bankrott von Percy Driscoll noch Forderungen offen sind, »[–] forderten [die Gläubiger] mit Recht ›Tom‹ als ihr gesetzliches Eigentum, das ihnen seit acht Jahren vorenthalten würde [–] Alle waren der Meinung, daß, wenn ›Tom‹ ein freier Weißer gewesen wäre, es ohne Zweifel gerecht sein würde, die Strafe über ihn zu verhängen – kein Mensch hätte einen Verlust dadurch gehabt. Aber einen wertvollen Sklaven auf Lebenszeit einzusperren – das war ganz etwas Anderes.

Als der Gouverneur die Sachlage begriffen hatte, begnadigte er ›Tom‹ auf der Stelle, und die Gläubiger verkauften ihn nach dem Süden, ›flußabwärts.‹«

 

Mark Twains Roman, der bei seinem Erscheinen nicht sonderlich erfolgreich war, behandelt vor dem Hintergrund einer Verwechslungsgeschichte und einem Kriminalfall, daß zum einen für einen Menschen seine Sozialisation weitaus prägender ist als alles andere, daß Sklaven nicht deshalb Sklaven sind, weil sie von simplem Geist sind und ihnen die Unterwürfigkeit im Blut liegt, daß das eigentliche »Sklavenkind« nur deshalb zum Mörder an seinem Onkel werden konnte, weil er von seinem desinteressierten vermeintlichen Vater und später von einem allzu gutmütigen Onkel und zwei Tanten verhätschelt und ihm nie Grenzen gesetzt wurden.

Weitaus nachdenklicher hinterläßt den Leser die Tatsache, mit welcher Selbstverständlichkeit selbst Menschen noch als »Neger« angesehen wurden, deren ihre afrikanischen Vorfahren nicht mehr anzusehen waren, so wenig, daß die beiden blonden und blauäuigen kleinen Jungen problemlos miteinander ausgetauscht werden konnten. (Blond und blauäuig steht hier symbolischen für den – äußerlichen – Gegenentsatz zum Schwarzafrikaner.)

Das Wissen, daß den weißen Europäer vom schwarzen Afrikaner genetisch nur minimale Unterschiede trennt, die im Grunde vernachlässigbar sind, war ja zu Twains Zeiten noch völlig unbekannt. Das Angehen beziehungsweise das Anschreiben gegen Rassismus war stets ein Anliegen Mark Twains.

 

Alle Zitate sind der vollständigen Online-Ausgabe bei Projekt-Gutenberg-DE entnommen.

 

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