Kurzes #91 – Eine Hochzeitsnacht

von
Armin A. Alexander

Eine gummifetischistische Geschichte

Karen, laut Selbstbeschreibung eine ›ganz gewöhnliche Gummifetischistin‹, womit sie hervorzuheben pflegt, daß sie darüber hinaus eine lupenreine Vanilla sei – was auch alter Freundschaft unkommentiert bleiben sollte – sammelt ›historische‹ – also längst nicht mehr hergestellte – Gummimäntel, bevorzugt von Klepper. Ihren ersten Kleppermantel hatte sie vor vielen Jahren erstanden, schließlich üben diese auf viele Gummifetischisten eine besondere Faszination aus, bei manchen bezieht sich ihr Fetischismus besonders auf diese. Ihren ersten in natura hatte sie während des Besuchs ihrer zweiten oder dritten Fetischparty bei einer Frau in mittleren Jahren gesehen und war vom ersten Moment an von der Leichtigkeit des Materials und der seidigen Oberfläche optisch wie haptisch begeistert. Sie mußte unbedingt auch einen in ihrem Besitz haben. Es blieb nicht bei diesem einen, sondern es wurde recht schnell eine Sammelleidenschaft daraus, die sich bald auf alle Arten von Gummimäntel und Regenbekleidung aus Gummi überhaupt ausgedehnt hat. Wie jeder Sammler kann sie lange und mit Verve von ihrer Leidenschaft berichten. Mit dem intuitiven Gespür des passionierten Sammlers entdeckt sie ihre Objekte an Orten und unter Umständen, auf die der Außenstehende nie gekommen würde und worüber dieser nur staunend kann. Irgendwann keimte in ihr die Frage auf, welche Geschichten die Mäntel wohl über ihre vorherigen Besitzer erzählen würden, wären sie in der Lage dazu. Allzu kühn war es nicht anzunehmen, daß so mancher nur vordergründig als Schutz vor nasser Witterung angeschafft worden war, und weitaus häufiger unverzichtbarer Teil sexueller Aktivitäten verschiedener Art gewesen waren. Fetischismus ist letztendlich keine Erfindung der Neuzeit, neu ist allenfalls, daß Fetischisten offensiv mit ihrer an sich vollkommen harmlosen Neigung umgehen. Der Gummifetischismus ist zwar noch eine relativ junge Variante, da sie von die Erfindung des Materials abhängig ist, doch speziell für Gummifetischisten gefertigte Kleidung kam erst zu einer Zeit auf, als Gummi, besonders als Regenbekleidung, längst seinen Weg in den Alltag gefunden hatte. Meist bleibt es bei den Spekulationen, ob die Gummimäntel für fetischistische Zwecke angeschafft worden waren, aber mitunter gelingt es Karen doch, das Geheimnis der Vergangenheit eines erlangten Stückes ein wenig zu lüften. Dann erzählt sie gerne darüber, ganz gleich, ob es sich um etwas Banales oder ob tatsächlich eine reizende Anekdote dahinter steht und schmückt diese weidlich aus. Ebenso wie es Jäger- und Anglerlatein gibt, gibt es auch Sammlerlatein, schließlich ist ein Sammler auch nichts anders als ein Jäger – er geht auf die Pirsch, wartet den günstigen Zeitpunkt und streift oft tagelang, wenn nicht wochen- und monatelang mit einer für den Außenstehenden kaum nachvollziehbaren Ausdauer hinter kaum wahrnehmbaren Spuren her, die ihm besonders verheißungsvoll erscheinen. Karen versteht es, ihre Zuhörer zu fesseln. Sie erzählt auf eine Weise, daß der Zuhörer überzeugt ist, es könne nur so gewesen sein. Erst später kommt einem der eine oder andere Zweifel an der Authentizität des Berichteten, doch nimmt man es der Erzählerin nicht übel, wer sagt eigentlich, daß es sich nicht doch so abgespielt haben könnte. Schließlich lehrt die Erfahrung, daß das Leben voller, auf den ersten Blick unwahrscheinlicher Ereignisse ist. Solange diese nicht gegen die Naturgesetze verstoßen, können die eigenen Zweifel ihre Ursache auch in der Beschränktheit der persönlichen Erfahrung im Umgang mit Mitmenschen liegen. Ob das für jene Geschichte zutrifft, die Karen vor kurzem erzählte, ist schwer zu sagen. Sie gehört zu einem Kontingent aus einem Herren- und drei Damen-Kleppermäntel, alle gut erhalten aus den 1950er Jahren, die sie von einer entfernten alten Tante erworben hat. Karen ist ihrer Tante fast ausschließlich auf diversen Feierlichkeiten, zu denen auch weitläufige Familienmitglieder eingeladen wurden, begegnet. Wie sie herausgefunden hat, daß die alte Dame die Mäntel zu veräußern wünschte, schweigt sie beharrlich. Passionierte Jäger und Sammler reden zwar viel, aber nur äußerst selten über ihre besonderen Tricks bei der Fährtensuche, die Konkurrenz muß ja nicht unfreiwillig gefördert werden.

Karens Tante heiratete im zarten Alter von neunzehn, was für die damalige Zeit nicht wirklich ungewöhnlich war. Ihr Mann war fast zwanzig Jahre älter. Diese Verbindung war von ihren Eltern forciert worden. Ihr Vater versprach sich dadurch geschäftliche Vorteile. Er sah in dem Schwiegersohn einen wünschenswerten Kompagnon und Nachfolger, da die Tochter das einzige Kind war und es damals noch nicht üblich war, daß die Töchter die Nachfolge antraten. Es handelte sich um eine kleine aber seinerzeit gut gehende Firma, die zwei Familien und einer Handvoll Angestellter ein gutes Auskommen ermöglichte, die aber längst nicht mehr existiert. Karens Tante sah keinen Anlaß, nicht in die Ehe einzuwilligen, zumal ihr Zukünftiger sich mit Charme und Esprit um sie bewarb, zudem entkam sie so der Langeweile und der Aufsicht des Elternhauses. Für einen Mann war er nicht unattraktiv, er wirkte jünger, als er war. Die Hochzeit fand im üblichen Rahmen statt. Ihr Mann hatte sich bereits einige Jahre zuvor ein Haus eingerichtet, in das sie nun mit ihren wenigen Habseligkeiten, wurde einmal von der damals noch üblichen Aussteuer abgesehen, übersiedelte. Wie viele junge Frauen ihrer Generation und der bürgerlichen Mittelschicht beinhalteten ihre Kenntnisse bezüglich allem Geschlechtlichen lediglich das Notwendigste. Allerdings hatte sie, wie sie Karen mit einem verschämten Jungmädchenlächeln, das bei alten Damen immer etwas Rührendes besitzt, gestanden hat, schon früh begonnen zu onanieren und das gerne hin und wieder gepflegt, weil es so schöne Gefühle hervorrief. Zwar schwebten zu jener Zeit noch die düsteren Schatten des ›Ungesunden‹ darüber, weshalb sie alles daran setzte, damit niemand es mitbekam, doch hatte sie sich die Einstellung ihres Vaters zum Alkohol zu eigen gemacht, für den ein Gläschen hin und wieder schließlich auch nicht schädlich, sondern eher Medizin sei, da erst die Dosis das Gift ausmachen würde. Wobei sein Hin und Wieder einem recht regelmäßigen Konsum gleichzusetzen war – auch das hatte seine Tochter für die Frequenz ihrer Selbstbefriedigung übernommen. Insofern war ihre Einstellung bezüglich der Hochzeitsnacht durchaus von der Erwartung begleitet, ob sich diese schönen Gefühle auch mit einem Mann einstellen würden.

Allein im Haus mit seiner frisch angetrauten jungen Frau ließ er ihr Zeit, sich an die neue  Umgebung zu gewöhnen. Man hatte dem jungen Brautpaar ermöglicht, sich recht früh von den Feierlichkeiten zurückzuziehen, und da es ein Frühsommertag wie aus dem Bilderbuch war, wenngleich die Vorboten für Regenwetter bereits unübersehbar waren, schlug er vor, diesen bei einem Kaffee auf der kleinen Terrasse des Hauses ausklingen zu lassen, wodurch er die romantische Seite in ihr zum Klingen brachte.

Kaum waren die Schatten ebenso lang wie die Sonnenstrahlen schwach geworden, begab er sich mit einer leichten Feierlichkeit mit seiner jungen Frau nach oben ins Schlafzimmer, das modern und hell eingerichtet war.

Ihr Blick fiel sofort auf das breite Bett und das große weiße darüber gebreitete Laken aus Bettstoff. Die Bettdecke war über einen Korbsessel gelegt. Diese Laken aus gummiertem Stoff waren ihr nicht unbekannt. Sie war damit über ihre pflegebedürftige Großmutter vor einigen Jahren das erste Mal in Kontakt gekommen, besaß aber keine Vorstellung, warum ihr Mann ein solches, zumal ungewöhnlich großes, über das Bett gebreitet hatte. Sie war aber überzeugt, daß er seine Gründe dafür hatte. Am Kleiderschrank hingen auf Bügeln zwei Kleppermäntel, einer war ihrer, den sie trug, sobald auch nur von Ferne Regen zu erwarten war und dessen seidige Oberfläche ihr auf eine besondere Weise gefiel. Auf der Frisierkommode lagen zwei Paar gewöhnliche Gummihandschuhe in unterschiedlichen Größen, wie sie sie von der Hausarbeit kannte.

Ihr Mann begann charmant davon zu sprechen, daß er wisse, wie gerne sie ihren Kleppermantel trage und ließ keinerlei Zweifel daran, daß es ihm zusagte. So ermunternd schilderte sie ihm mit einer gewissen weiblichen Eitelkeit, was ihr an ihrem Kleppermantel besonders gefiele, zugleich froh darüber, es endlich einmal jemandem mitteilen zu können, der das mit Verständnis aufnahm. Er pflichtete ihr bei, das seien im großen und ganzen die gleichen Eigenschaften, die auch ihm zusagten. Schließlich bat er sie in einem fast beiläufigen Tonfall, wobei es weniger eine Bitte als eine liebevoll nachdrückliche Aufforderung war, ihren Kleppermantel anzuziehen, sobald sie sich entkleidet hatte. Ohne einen Augenblick zu zögern, kam sie dem nach und stand in ihrem üppigen jugendlichen Körper, für den er erst einen Blick hatte, als sie nur mit dem Kleppermantel bekleidet, vor ihm stand. Nun sparte er nicht mit Komplimenten und ehe sie sich versah, trug sie nicht nur Gummistiefel und Gummihandschuhe, sondern er hatte sich gleichfalls ausgezogen und den anderen Kleppermantel, sowie Gummistiefel und Gummihandschuhe angezogen.

In der Atmosphäre, die er verstanden hatte zu schaffen, erschien ihr alles natürlich und selbstverständlich, auch seine Erektion, die er durch ihren Anblick im Kleppermantel und das Tragen des seinen bekommen hatte.

Sie war sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewußt, daß die Affinität zu ihrem Kleppermantel eine durchaus erotische war, und seine Bitte für sie letztlich eine willkommene Gelegenheit war, ihn anzuziehen, einfach, weil sie ihn gerne trug. Nackt darunter zu sein unterstrich für sie nur den Selbstzweck. Auch Gummihandschuhe waren für sie nichts Besonderes. Sie war gewohnt, sie zu tragen, half sie der Mutter bei der Hausarbeit. Die Mutter hatte sie sogar ermuntert, sie zu tragen, um ihre zarten Hände beim Putzen und ähnlichen Verrichtungen zu schonen. Mitunter war es ihr schwer gefallen, diese nach der Arbeit auszuziehen. Aber sie wäre wie bei ihrem Kleppermantel nie auf den Gedanken verfallen, sie nur um des Tragegefühls willen anzuziehen. Weil ihr Mann ihr das an ihrem Hochzeitstag ermöglichte, war sie ihm dankbar.

Ein älterer Mann als Gatte besaß den Vorteil der Erfahrenheit, was jedoch nicht immer gegeben war, aber bei ihrem erfreulicherweise zutraf. Er entlockte ihr das Geständnis ihrer mit Freude betriebenen ›gelegentlichen‹, recht regelmäßigen Selbstbefriedigung, was er mit spürbarer Zufriedenheit zur Kenntnis nahm. Sie wußte demnach, was Orgasmen sind.

Es wurde eine lange und lustvolle Hochzeitsnacht. Mangels Vergleichsmöglichkeit erschien es ihr als Selbstverständlich, daß ein Mann mehrmals in einer Nacht zum Orgasmus kommen konnte: Er war für sie mehr als reizvoll, ihm diese auch mit ihrer Hand zu verschaffen und zu sehen, wie er sich unter ihrer Massage heftig und weit ergoß. Nun wußte sie auch, worin der Vorteil eines Lakens aus Bettstoff unter anderem lag. Sie war zudem angenehm überrascht, wie anders sich ein Orgasmus anfühlte, lag er seine Quelle nicht in den eigenen Fingern, und wie anders und angenehm die Berührung ihres Geschlechts sich mit Gummihandschuhen anfühlte. Am liebsten wollte sie dort nur noch mit diesen berührt werden. Das leichte Stechen bei ihrer Entjungferung, sie hatte sich beim Onanieren nie getraut, auch einen Finger in sich zu stecken, nahm sie kaum wahr. Er war entschlossen und doch sanft in sie eingedrungen. Überhaupt hatte sich der Kleppermantel schön auf der Haut dabei angefühlt. Auch ihr Mann gefiel ihr in seinem Kleppermantel. Sie war eine Gummifetischistin ohne sich dessen bewußt zu sein. Das trat erst später ein.

Ihren ehelichen Pflichten nachzukommen war ihr ein Vergnügen. Es war ihr in ihrer damaligen Unschuld im besten Sinne unverständlich, wieso überhaupt in diesem Zusammenhang von Pflichten gesprochen wurde. Sie hatte das Gefühl, wie in einem Rausch zu sein, sie konnte kaum genug bekommen und wurde ungewollt reichlich fordernd gegenüber ihrem Mann, den das auf angenehme Weise überraschte, wenngleich er so seine Vermutungen über sie gehabt hatte.

Ihre zweiwöchige Hochzeitsreise führte sie in den Schwarzwald. Während dieser Zeit regnete es überwiegend. So konnten sie ihre Kleppermäntel auch außerhalb ihres Zimmers tragen und niemand dachte sich etwas dabei, sie ständig darin gekleidet zu sehen. Sie bekamen allenfalls Komplimente für ihre Umsicht, die richtige Kleidung für ein solches Wetter zu besitzen. Während ihrer vielen Spaziergängen gaben sie sich abseits der Wege an verschwiegenen Plätzen gelegentlich ihrer Lust hin, weshalb sie stets leichte Kleider ohne Unterhose trug.

Karens Tante verschwendete viele Jahre keinen Gedanken daran, daß sie eine starke Libido besaß, ihr Mann bediente diese nur zu gerne, schließlich kam sie seiner eigenen entgegen. Ebensowenig verschwendete sie einen Gedanken daran, daß ihr Mann nie anders als im Kleppermantel und Gummihandschuhen auf einem Laken aus Bettstoff mit ihr verkehren wollte, dafür entsprach es zu sehr ihren eigenen erotischen Bedürfnissen. Irgendwann brachte er Gasmasken ins Spiel und auch diesen gewann sie einen erotischen Reiz ab.

Sie war fast dreißig und zehn Jahre verheiratet, als sie zum ersten Mal bewußt mit dem Begriff Gummifetischismus und dessen Bedeutung konfrontiert worden war, mittlerweile gab es auch Bekleidung aus Gummi für fetischistische Zwecke, die auch in ihren Besitz waren. Sie nahm es mit einem Lächeln und der Bemerkung hin, so bezeichnete man also das harmlose Vergnügen, das ihr und ihr Mann soviel Freude bereitete.

Karens Schilderung endet in der Regel an diesem Punkt. Sie wird nicht müde zu betonen, wie selbstverständlich doch etwas erscheint, was man selbst als selbstverständlich betrachtet. Wer weiß, wie die Tante es aufgenommen hätte, hätte er Schuldgefühle bezüglich seines Gummifetischismus’ empfunden. Darauf muß sie sich den Einwand gefallen lassen, daß ihre Tante, laut ihrer eigenen Aussage, ja bereits vor ihrer Ehe so etwas wie fetischistische Neigungen bezüglich Gummi besessen hatte und er dies erkannt haben mußte, was es ihm erleichtert haben dürfte und für sie nur eine willkommene Gelegenheit war, Kleppermantel und Gummihandschuhe zum reinen Vergnügen anzuziehen, was ihr bis dahin offenkundig nicht in den Sinn gekommen war oder sie sich zu sehr davor gescheut hatte. Vielleicht habe das sogar zu seinem Entschluß beigetragen, sie zu heiraten. Das könne durchaus nicht von der Hand gewiesen werden, pflegt Karen darauf mit einem wissenden Lächeln zu erwidern, was in einem die Vermutung nährt, daß sie doch ein wenig mehr weiß, als sie zuzugeben bereit ist.

Wie dem auch sei, es ist eine schöne Geschichte mit einer besonderen Romantik. Inwiefern Karen sie ausgeschmückt hat, erscheint letztlich nebensächlich. Auffallend ist lediglich, daß jede Vorgeschichte eines Gummimantels, die sie herausfindet, einen ähnlichen Tenor besitzt. Allerdings kann es auch sein, daß nur diese überhaupt in Erfahrung zu bringen sind.

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