Javier Marí­as »Die sterblich Verliebten«

von
Armin A. Alexander

Interpretationen

Marí­a frühstückt jeden Morgen in einem Madrider Café gegenüber dem Verlag, in dem sie als Lektorin arbeitet. Miguel, um die fünfzig, und Luisa, mehr als zehn Jahre jünger, pflegen gleichfalls jeden Morgen dort zu frühstücken. Die innige Zweisamkeit, die das Paar zur Schau trägt, beobachtet Marí­a mit Wohlgefallen. Es hilft ihr, den Weg in ihren Arbeitstag zu finden. Eines Tages wird Miguel scheinbar ohne Grund von Ví¡zquez Canella, einem offenkundig geistig verwirrten Obdachlosen, niedergestochen und stirbt noch vor Ort an seinen schweren Verletzungen. Canella machte Miguel dafür verantwortlich, daß seine Tochter, die schon lange keinen Kontakt mehr zu hat, sich prostituiert. Es wird einhellig davon ausgegangen, daß eine tragische Verwechslung vorliegt. Wenige Tage zuvor hat Canella noch Miguels Chauffeur attackiert, doch blieb es bei einem verbalen Angriff. Während dieses tragischen Unglücks geschieht, ist Marí­a verreist und erfährt erst später davon, obwohl sie darüber in der Zeitung gelesen hat, aber sie hat das beigefügte Foto der blutüberströmten Leiche nicht mit Miguel und Luisa in Verbindung gebracht. Als Luisa nach einiger wieder im Café erscheint, spricht Marí­a ihr ihr Beileid aus. Sie kommen miteinander ins Gespräch. Marí­a ist überrascht, daß sie Luisa und Miguel aufgefallen ist und in ähnlicher Weise von ihnen ›beobachtet‹ worden ist. Sie haben ihr den Namen ›Die junge Besonnene‹ gegeben. Einige Tage später besucht Marí­a Luisa zu Hause. Luisas Worte bestätigen Marí­as Eindrücke von Miguel als liebevollen Ehemann und Vater. Bei diesem Besuch lernt sie Javier Dí­az-Varela kennen, Miguels besten Freund, der sich seit dessen Tod scheinbar selbstlos um Luisa kümmert. Marí­a erkennt aber schnell, daß er in keiner Weise so selbstlos agiert, wie er erscheint. Es ist unübersehbar, daß er Luisa liebt und das seit längerem und er darauf abzielt, sobald Luisa die Zeit der Trauer überwunden hat, Miguels Stelle bei ihr einzunehmen. Marí­a und er kommen sich näher. Sie weiß, daß sie für ihn nur eine ›Übergangslösung‹ ist, letztlich will sie auch nicht mehr sein. Eines Tages, während sie bei ihm ist, bekommt er unerwartet Besuch von Ruibérriz de Torres, einem alternden Beau mit zwielichtiger Vergangenheit und Freund Javiers, der sich nicht abweisen läßt. Javier empfängt ihn notgedrungen, während Marí­a halb nackt im Schlafzimmer zurückbleibt. Sie schnappt durch die nicht richtig geschlossene Schlafzimmertür Gesprächsfetzen auf, die Miguels Tod in einem anderen Licht erscheinen lassen. Aus dem Gespräch scheint hervorzugehen, daß es sich nicht um eine tragische Verwechselung handelt, sondern, daß die beiden Männer Miguels Tod geplant haben und Canella nur das von ihnen manipulierte Werkzeug war, sie ihm eingeredet haben, daß Miguel Schuld daran sei, daß seine Tochter sich prostituiert habe. Er zuerst den Chauffeur für Miguel gehalten hat. Marí­a versucht sich Gewißheit zu verschaffen. Javier, der überzeugt ist, daß sie mehr von dem Gespräch mitbekommen hat als es tatsächlich der Fall ist, tritt die Flucht nach vorn an. Er erzählt ihr vom Plan, Miguel zu töten. Zuerst erweckt er den Eindruck, daß das Ziel war, bei Luisa an Miguels Stelle zu treten, dann erklärt er, daß es auf ausdrücklichen Wunsch Miguels geschah, der unter einer unheilbaren Krankheit litt, daher im Grunde ein Freundschaftsdienst war, da Miguel Angst vor einem Dahinsiechen hatte. Mehr oder weniger direkt bestätigt Ruibérriz de Torres diese Version, der sie einmal vor ihrem Verlag abfängt. Marí­a weiß immer weniger, was sie glauben soll, außer ihren Aussagen hat sie nichts, woran sie sich halten kann. Sie zweifelt zwar an der unheilbaren Krankheit Miguels, die Zeitungen haben nichts davon berichtet, was aber auch nicht unbedingt etwas bedeuten muß. Javier ist überzeugt, daß sie mit ihren Zweifeln nicht zur Polizei geht. Wenig später trennen sich Javiers und Marí­as Wege. Zwei Jahre vergehen, bis sie ihnen wieder begegnet, Luisa und Javier sind ein Paar geworden. Für einen Moment ist sie versucht, Luisa aufzuklären, doch dann entscheidet sie sich ebenso spontan, die Vergangenheit ruhen zu lassen, sie »[–] will nicht seine verfluchte Lilie auf der Schulter sein, die verrät, die brandmarkt und selbst das älteste Verbrechen nicht verschwinden lässt; soll die Materie der Vergangenheit stumm bleiben, sollen die Dinge sich auflösen oder verbergen, sollen sie schweigen, nichts berichten, nicht weiteres Unglück heraufbeschwören [–]«, außer ihren Vermutungen, den teils widersprüchlichen Aussagen Javiers hat sie ja nichts Konkretes in den Händen und will es vielleicht auch nicht.

 

Javier Marí­as (*20.09.1951) läßt in seinem 2011 erschienen Roman seine Protagonistin Marí­a nicht nur einen tiefen Blick in die Lebensverhältnisse von Menschen tun, denen sie täglich für kurze Zeit begegnet, wie es auf Grund vergleichbarer Gewohnheiten oft geschieht, sondern vor allem Vorstellung und Realität sich miteinander vermischen. Bereits vor Miguels Tod stellt sich Marí­a detailliert Miguels und Luisas Gedanken und Leben vor. Nachdem sie von seinem Tod erfährt, stellt sie sich seine letzten Stunden und Gedanken vor, auf Grund der Angaben aus der Presse, auch was Canella gedacht und ihn zu der Tat getrieben haben könnte, sowie später Javiers Gedanken und Handlungen vor Miguels Tod, bevor sie von seinen Verstricken in die Tat erfährt. Mehr oder weniger unfreiwillig bringt sie ihr Interesse an einem ihrer Meinung nach vorbildlichen Liebespaar in eine Welt voller Widersprüche. Sie muß erfahren, wie sehr sich einerseits ihre Vorstellungen von der Realität unterscheiden, wie sie andererseits mitunter nicht allzu falsch liegt. Aber auch, daß die Aussagen anderer nicht unbedingt die ganze Realität abbilden, sondern oft nur das, von dem sie selbst glauben, wie es ist, oder was andere aus ihrer Sicht wissen sollen, wobei die Aussagen, sobald den Betreffenden ein Widerspruch aufgezeigt oder Dinge in Erfahrung gebracht werden, zu denen sie Stellung nehmen müssen, ohne weiters deutlich voneinander abweichen. Am Ende weiß sie nicht, was wirklich den Tatsachen entspricht. War Miguel tatsächlich todkrank oder will Javier ihr das Glauben nur machen, damit sie ihn nicht anzeigt? Sie bleibt mit ihren Vermutungen allein, will vielleicht auch gar nicht Gewißheit, weshalb sie Javiers mutmaßlichen Mord an Miguel nicht zur Anzeige bringt, sondern die Dinge auf sich beruhen läßt.

 

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