Zitat des Tages #135
von
Armin A. Alexander
Der kluge RichÂter
Daß nicht alles so unÂeben sei, was im MorÂgenÂlanÂde geÂschieht, das haben wir schon einÂmal geÂhört. Auch folÂgenÂde BeÂgeÂbenÂheit soll sich daÂselbst zuÂgeÂtraÂgen haben. Ein reiÂcher Mann hatte eine beÂträchtÂliÂche GeldÂsumÂme, welÂche in ein Tuch einÂgeÂnäht war, aus UnÂvorÂsichÂtigÂkeit verÂloÂren. Er machÂte daher seiÂnen VerÂlust beÂkannt und bot, wie man zu thun pflegt, dem ehrÂliÂchen FinÂder eine BeÂlohÂnung, und zwar von hunÂdert ThaÂlern an. Da kam bald ein guter und ehrÂliÂcher Mann daÂherÂgeÂganÂgen. »Dein Geld habe ich geÂfunÂden. Dies wird’s wohl sein! So nimm dein EiÂgenÂtum zuÂrück!« So sprach er mit dem heiÂteÂren Blick eines ehrÂliÂchen ManÂnes und eines guten GeÂwisÂsens, und das war schön. Der anÂdeÂre machÂte auch ein fröhÂliÂches GeÂsicht, aber nur, weil er sein verÂloÂren geÂschätzÂtes Geld wieÂder hatte. Denn wie es um seine EhrÂlichÂkeit ausÂsah, das wird sich bald zeiÂgen. Er zählÂte das Geld und dachÂte unÂterÂdesÂsen geÂschwinÂde nach, wie er den treuÂen FinÂder um seine verÂsproÂcheÂne BeÂlohÂnung brinÂgen könnÂte. »Guter Freund,« sprach er hierÂauf, »es waren eiÂgentÂlich achtÂhunÂdert ThaÂler in dem Tuch einÂgeÂnäht. Ich finde aber nur noch sieÂbenÂhunÂdert ThaÂler. Ihr werÂdet also wohl eine Naht aufÂgeÂtrennt und Eure hunÂdert ThaÂler BeÂlohÂnung schon herÂausÂgeÂnomÂmen haben. Da habt Ihr wohl daran gethan. Ich danke Euch.« Das war nicht schön. Aber wir sind auch noch nicht am Ende. EhrÂlich währt am längsÂten, und UnÂrecht schlägt seiÂnen eiÂgeÂnen Herrn. Der ehrÂliÂche FinÂder, dem es weÂniÂger um die hunÂdert ThaÂler, als um seine unÂbeÂscholÂteÂne RechtÂschafÂfenÂheit zu thun war, verÂsiÂcherÂte, daß er das PäckÂlein so geÂfunÂden habe, wie er es brinÂge, und es so brinÂge, wie er’s geÂfunÂden habe. Am Ende kamen sie vor den RichÂter. Beide beÂstunÂden auch hier noch auf ihrer BeÂhaupÂtung, der eine, daß achtÂhunÂdert ThaÂler seien einÂgeÂnäht geÂweÂsen, der anÂdeÂre, daß er von dem GeÂfunÂdeÂnen nichts geÂnomÂmen und das PäckÂlein nicht verÂsehrt habe. Da war guter Rat teuer. Aber der kluge RichÂter, der die EhrÂlichÂkeit des einen und die schlechÂte GeÂsinÂnung des anÂdeÂren zum vorÂaus zu kenÂnen schien, griff die Sache so an: er ließ sich von beiÂden über das, was sie ausÂsagÂten, eine feste und feiÂerÂliÂche VerÂsiÂcheÂrung geben und that hierÂauf folÂgenÂden AusÂspruch: »DemÂnach, und wenn der eine von euch achtÂhunÂdert ThaÂler verÂloÂren, der anÂdeÂre aber nur ein PäckÂlein mit sieÂbenÂhunÂdert ThaÂler geÂfunÂden hat, so kann auch das Geld des letzÂteÂren nicht das nämÂliÂche sein, auf welÂches der ersÂteÂre ein Recht hat. Du, ehrÂliÂcher Freund, nimmst also das Geld, welÂches du geÂfunÂden hast, wieÂder zuÂrück und beÂhältst es in guter VerÂwahÂrung, bis der kommt, welÂcher nur sieÂbenÂhunÂdert ThaÂler verÂloÂren hat. Und dir da weiß ich keiÂnen Rat, als du geÂdulÂdest dich, bis derÂjeÂniÂge sich melÂdet, der deine achtÂhunÂdert ThaÂler finÂdet.« So sprach der RichÂter, und dabei blieb es.
Johann Peter Hebel (10.5.1760–22.9.1826), Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes
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