Leseprobe aus QEL-250
von
Armin A. Alexander
Eine Leseprobe aus dem im Frühjahr erscheinenden Roman »QEL-250«. Vorbemerkung: Die Handlung spielt im Jahr 1985.
»Sie sind nun soweit über den geplanten Ablauf unserer Aktion informiert«, schloß Wagner seine Ausführungen vor der Einsatzgruppe. Ria saß im Hintergrund. »Die Übergabe dieses Umschlags«, er hielt einen braunen A4-Umschlag zum ungezählten Mal hoch, »findet um 17 Uhr 10 am U-Bahnhof Neumarkt statt, also in gut zwei Stunden. Wir wissen nicht, mit wem wir es zu tun haben, was das Unternehmen nicht vereinfacht. Ich bitte Sie, halten Sie diesen Umschlag im Auge, als beinhalte er Ihre Pensionsansprüche.« Verhaltenes Gelächter. »Für Frau Jagenbergs Entführer ist der Inhalt mindestens ebenso wertvoll, auch wenn er für uns nur einige Bogen Papier enthält. Ich weiß, daß ich mich nebulös ausdrücke, aber die einzige Person, die Ihnen das erklären könnte, ist die Entführte. Die junge Dame hier« er wies mit dem Kopf zu Ria, die am Rand saß, »wird diesen Umschlag deponieren. Auf dem Bahnsteig werden fünf von Ihnen stehen, auf dem gegenüberliegenden zwei. Ich denke, das genügt, wir wollen ja nicht auffallen. Die anderen verteilen sich auf die Auf- und Abgänge. Wir kennen den Boten nicht, wissen nicht, wie er aussieht, woher er kommt und wie er sich entfernen wird. Er hat zahlreiche Möglichkeiten zur Auswahl. Um diese Zeit wird er wenig Schwierigkeiten haben, im Gewühl zu entkommen. Darum ist doppelte Wachsamkeit gefordert. Will er mit der Straßenbahn flüchten, stehen ihm unterirdisch die Linien 3, 4, 9, 11, 12 und 16 zur Verfügung, oberirdisch die Linien 1, 2 und 7, dazu die Busse 136 und 146. Auto, Motorrad, Fahrrad sind auch möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich, besonders was das Auto betrifft, aufgrund des dichten Verkehrs. Zu Fuß wäre auch eine Möglichkeit. Wir müssen mit allem, ich betone, mit allem. Noch Fragen?« Niemand hatte eine. »Gut, dann weiß jeder, was er tun hat.«
Der Raum leerte sich unter lautem Stühlerücken. Ria trat auf Wagner zu.
»Ich weiß, daß Sie sich alle erdenkliche Mühe geben, um herauszufinden, wer Frau Jagenberg entführt hat, aber mir ist etwas mulmig dabei.«
»Ich kann Sie verstehen, Frau Nojbisch. Dieser Fall ist zu kurios. Ihnen hat Frau Jagenberg wohl noch nicht erzählt, daß die Unterlagen in jedem Fall wertlos sind.«
»Sie deutete am Samstagnachmittag, als wir uns das letzte Mal sahen, so etwas an. Aber ins Detail ging sie nicht.«
»Nun, dann können Sie sich vorstellen, wie absurd die Sache letztlich ist.«
»Mir wäre wohler, wäre meine Freundin so schnell wie möglich wieder hier.«
»Sie mögen Sie sehr«, sagte er väterlich.
»Ja, schon, in gewisser Weise«, antwortete sie ausweichend und errötete leicht.
Seit fast zehn Minuten saßen sie in Wagners Wagen auf dem unbefestigten Parkplatz vor der Stadtbücherei am Neumarkt und seitdem drehte Wagner den braunen Umschlag unschlüssig zwischen den Händen. Er war mit Ria allein. Den Funk hatte er leise gestellt. Schmitz wies die Kollegen ein. Stoßstange reihte sich an Stoßstande auf den Fahrbahnen rund um den Neumarkt, der Verkehr stand mehr als er floß. Alle zwei Minuten traf eine vollbesetzte Straßenbahn ein. Die Menschen strömten heraus, eilten zu den U-Bahnzugängen. Fast ebenso viele stiegen wieder ein.
Wie ein Ameisenhaufen, nur nicht so diszipliniert, philosophierte Wagner für sich. Es war im Augenblick für ihn schwer vorstellbar, daß es Personen mit einer unverwechselbaren Persönlichkeit waren, so gesichtslos erschienen sie ihm.
»Mir ist der Verkehr hier noch nie so dicht vorgekommen«, sagte Ria und schreckte ihn aus seinen Gedanken auf. Er hörte auf, den Umschlag zwischen den Händen zu drehen.
»Das täuscht. Das kommt Ihnen so vor, weil Sie es aus der Perspektive des Beobachters sehen. Ihnen fallen somit Dinge auf, auf die Sie sonst nie achten würden, weil sie für Sie unerheblich sind. Nervös?« legte er väterlich beruhigend die Linke auf ihren Unterarm.
Sie zitterte tatsächlich. Aber auch er war angespannt.
»Ja, das bleibt wohl nicht aus«, entgegnete sie mit einem gequälten Lächeln. »Wie es Helene jetzt ergehen mag?«
»Den Umständen entsprechend gut. Ich habe das irgendwie im Urin«, versuchte er sie zu beruhigen, obwohl er nicht sicher sein konnte.
»Ihr Assistent sagte mir, daß man sich auf Ihre Vorahnungen meist verlassen könne.«
»Noch eine halbe Stunde«, sagte Wagner nach einem Blick auf die Borduhr. »Glauben Sie mir, den Kollegen geht es wie Ihnen. Nur, daß sie nicht persönlich betroffen sind.«
»Das ist wohl der eklatanteste Unterschied.«
Ein leichter Sprühregen setzte ein. Schnell waren die Scheiben von einem dünnen Wasserfilm überzogen. Schirme beherrschten jetzt das Straßenbild. Es war dämmrig.
»Noch gut zehn Minuten«, verkündete Wagner. Er reichte Ria den Umschlag. »Es wird Zeit. Sie gehen am besten schon jetzt, da brauchen Sie nicht zu hetzen.«
Ria nahm den Umschlag in Empfang. Ihre Hände zitterten. Sie öffnete die Wagentür und stieg aus. Nachdem sie die Tür zugeschlagen hatte, drehte Wagner den Funk lauter und nahm das Handgerät.
»Sie geht jetzt los«, gab er durch. »Aktion läuft an.«
Er legte das Handgerät in den Schoß.
»Wenn alles vorbei ist, schlage ich drei Kreuze«, sagte er laut. »Eine gewöhnliche Entführung wäre mir lieber. Hoffentlich werden wir nicht beobachtet. Denen traue ich zu, besser organisiert zu sein als wir.«
Ria ging bis zum befestigten Gehweg. Sie blieb stehen, warf einen Blick in die Runde und ging weiter zur Ampel. Den Umschlag hielt sie fest in der Rechten. Der Nieselregen legte schnell einen Schleier feiner Wassertropfen auf ihr Haar und ihre Kleidung. Sie mußte einigen Leuten ausweichen, die mit aufgespannten Schirmen entgegenkamen und weder rechts noch links schauten. Sie erreichte den Abgang zur Unterführung und zur U-Bahnhaltestelle schnell. Hier war es wenigstens trocken, aber noch betriebsamer. Am Zeitungskiosk neben dem Aufgang zu den oberirdischen Linien, erblickte sie einen der Beamten aus dem Besprechungszimmer, beim Fahrkartenautomaten einen zweiten. Sie konnten auf den unbedarften Beobachter tatsächlich wie unbeteiligte Passanten wirken. An den Fahrkartenschaltern waren lange Schlangen, viele wirkten unübersehbar mürrisch, ob des erzwungenen Wartens. Aus der Passage, die zu den Kaufhäusern führte, strömten unaufhörlich Menschen, von denen viele mit vollen Tüten und Taschen zu den unter- und oberirdischen Bahnsteigen drängten. Vor den Telefonzellen warteten gleichfalls Leute. Sie fühlte sich verloren inmitten der Betriebsamkeit. Alle diese Menschen erschienen ihr wie Statisten in einem Handlungsablauf, von dem sie nichts wußten. Sie gab sich einen Ruck und ging zur Treppe, die zum Bahnsteig hinunterführte, wo der Umschlag deponieren werden sollte. Als sie die Treppe erreichte, kam ihr ein Schwall Leute entgegen. Kurz darauf hörte sie das Geräusch der abfahrenden Bahn. Sie hielt sich beim Geländer, damit sie nicht die Treppe unfreiwillig wieder hinaufgedrängt wurde. Auf dem Bahnsteig warteten die Leute gedrängt.
Die Bahnsteiguhr zeigte 17 Uhr 08 an.
Auf der Anzeigetafel wurde in roten Leuchtpunkten die nächste Bahn angekündigt. Kurz darauf erschien darunter die darauffolgende. Sie mußte sich an den Wartenden vorbei zum Papierkorb drängen. Nur zögernd wurde ihr Platz gemacht. Man beachtete sie kaum. Die Aufmerksamkeit galt einzig den eintreffenden Zügen. Einer der Linie 12 fuhr ein. Die Einsteigenden drängten sich so dicht an die sich öffnenden Türen, daß die Aussteigenden kaum Möglichkeit hatten, das Innere der Bahn zu verlassen.
»Machen Sie doch, bitte, die Türen frei!«, erscholl über die Außenlautsprecher des Fahrzeugs die genervte Stimme des Fahrers. »So kann doch niemand aussteigen! Und, bitte, nach hinten durchgehen und die Türen freimachen!«
Obwohl die Bahn hoffnungslos überfüllt schien, fanden doch alle Platz. Als der Zug anfuhr, erreichte Ria den Papierkorb, um den es für wenige Augenblicke freier wurde. Mit zitternden Fingern und weichen Knien legte sie den Umschlag in den halbleeren Behälter. Ohne sich umzusehen, ging sie schnellen Schrittes zur Treppe. Ihren Teil hatte sie erfüllt.
Die Uhr sprang auf 17 Uhr 11.
Der Blick der Beamten war nun nicht mehr auf Ria konzentriert, die sie bis dahin keinen Moment aus den Augen gelassen hatten, sondern nur noch auf den Papierkorb und den Umschlag. Niemand schien auf die junge Frau geachtet zu haben, die ihn dort deponiert hatte. Ein Doppelzug der Linie 16 fuhr ein. Mit lautem Zischen öffneten sich die Türen. Die Schritte der Fahrgäste ließen die Trittbretter klappern. Für einen kurzen Moment gerieten die Beamten in den Sog der ein- und aussteigenden Menschen. Für einen Moment, kaum länger als der Flügelschlag des Kolibris, verloren sie den Papierkorb aus den Augen. Niemand hätte vermutet, daß dieser Zeitraum ausreichen könnte, daß sich etwas ereignete. Als der Blick auf den Papierkorb wieder frei wurde, mußten sie zu ihrem Entsetzen feststellen, daß der Umschlag verschwunden war. Blitzschnell machte ihr Blick die Runde, suchten sie nach jemanden, der diesen Umschlag in der Hand halten könnte. Doch sie entdeckten nur Menschen mit Einkaufstüten, Aktenkoffern und -taschen. Zischend schlossen sich die Türen der Bahn, die daraufhin abfuhr.
Die Uhr sprang auf 17 Uhr 13.
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