Kurzes #4 – Das Gewitter

von
Armin A. Alexander

Das Gewitter kam plötzlich aber nicht unerwartet. Er schaffte es gerade noch einen schützenden Hausdurchgang zu erreichen, bevor der Himmel seine Schleusen öffnete. Der Himmel war fast schwarz, Blitze zuckten, der Donner grollte ungewöhnlich laut, der Regen peitschte durch die Straßen; das Gewitter befand sich genau über dem Stadtteil. Das Wasser konnte gar nicht so schnell abfließen wie es von oben kam. Die auftreffenden Tropfen bildeten auf der dünnen, alles überziehenden Wasserschicht Blasen, in den Straßenrinnen hatten sich reißende kleine Bäche gebildet. Keine Menschenseele war mehr zu sehen.
Er lehnte sich mit der linken Schulter an die Wand des Durchgangs, beobachtete interessiert das Naturschauspiel, das sich ihm bot. Was blieb ihm auch anderes übrig, wollte er nicht innerhalb weniger Augenblicke bis auf die Haut durchnäßt werden.
Es mochten ein paar Minuten vergangen sein, als er hinter sich eine Tür gehen hörte und darauf dieses ganz gewisse Klacken, wie es nur hohe Absätze auf Betonplatten erzeugen können. Eine Melodie, die ihn stets mit einem leichten, angenehm sinnlichen Gefühl erfüllte. Es waren kraftvolle, entschlossene Schritte, die sich schnell näherten. Er widerstand dem ersten Drang, sich umzudrehen, weil er kaum mehr als Umrisse gesehen hätte, lag doch der ganze Durchgang im Dunkel. Die Schritte verstummten auf seiner Höhe, kurz darauf vernahm er einen ungehaltenen Seufzer, der zur Hälfte in einem erneuten Donner unterging. Erst jetzt blickte er leicht zur Seite, konnte es viel unauffälliger tun, als wenn er sich sogleich, kaum daß er den ersten Schritt vernommen hatte, umgedreht hätte.
Also, in diesem Fall konnte das Gewitter ruhig noch etwas dauern, war sein erster Gedanke, als er sie sah. Sie war groß, wäre es auch ohne ihre hohen Absätze gewesen. Ihre Schuhe waren aus schwarzem, fast handschuhweichem Leder, handgenäht und unübersehbar auf ihren schlanken Fuß gearbeitet. Schwarze hauchzarte Strümpfe umhüllten ein Paar schmaler Fesseln und wohlgeformter Waden. Ihren blauen Trenchcoat hatte sie eng gegürtet, was ihre Taille schmaler erscheinen ließ als sie tatsächlich war und ihre Oberweite betonte. Das mittellange üppige blonde Haar wirkte auf den ersten Blick ein wenig struwwelig, doch alles andere als nachlässig, eher als hätte sie es erst vor kurzem frisch gewaschen und nach dem Trocknen nicht gekämmt, was ihm, je länger er sie betrachtete, als wahrscheinlich galt. Es war diese Art gepflegter ›Nachlässigkeit‹, die den Eindruck erwecken soll, daß eine Frau gerade aus den Armen ihres Liebhabers kommt, und sie es gar nicht einsieht, warum sie die Spuren der genossenen Lust schamhaft verstecken sollte.
Sie blickte trotzig aus schönen dunkelbraunen, unter dichten Brauen liegenden Augen in den Regen hinaus, als empfände sie das Wetter als persönlichen Affront, biß nervös auf ihren vollen Lippen herum. Die Hände hatte sie in die Manteltaschen geschoben. Sie tippte, ihre Ungeduld damit zusätzlich unterstreichend, mit der rechten Fußspitze auf den Boden, drehte den Fuß gelegentlich auf dem Absatz hin und her, was ein scharrendes Geräusch verursachte. Sie schenkte ihm offensichtlich keinerlei Beachtung, tat, als sei er gar nicht vorhanden.
Vielleicht stimmte ja seine Vermutung und sie hatte in diesem Haus ihren Liebhaber für ein kurzes, frühnachmittägliches Schäferstündchen besucht. Darüber hatten beide die Zeit vergessen, bis ihr schlagartig bewußt wurde, daß ihr keine Zeit mehr blieb, sich in Ruhe anzuziehen, die Haare zu kämmen, das Make-up aufzufrischen. Sie war hastig aus dem Bett gesprungen, eilig in ihre Kleider geschlüpft, hatte sich im Bad noch schnell die Lippen nachgezogen, die Augen mit dem Kajalstift umrandet, war in ihren Mantel geschlüpft, während sie ihm noch einen letzten, flüchtigen Kuß gab, der trotzdem ein Danke war für die schönen Stunden, die wie immer leider viel zu kurz gewesen waren, hatte die Wohnung verlassen und war die Treppen hinuntergeeilt. Und jetzt hielt sie dieses heftige Gewitter hier im Hausdurchgang fest. Der Grund für ihren überstürzten Aufbruch, ihre Ungeduld konnte mehrere Ursachen haben, ein wichtiger geschäftlicher Termin oder gar die zurückkehrende Ehefrau oder Lebenspartnerin des Geliebten, oder daß ihr Ehemann, ihr Lebenspartner sie um eine bestimmte Stunde zurückerwartete.
Im ersten Fall entging ihr vielleicht ein lukrativer Auftrag, bei den beiden anderen Möglichkeiten konnte es eine unangenehme Begegnung sein, vielleicht kannten sich beide Frauen ja, war die feste Beziehung am Ende eine gute Freundin.
Es blitzte und donnerte ohne Unterlaß und der Regen fiel mit unverminderter Heftigkeit.
Natürlich waren das alles nur wilde Vermutungen, ihre Ungeduld, der Anlaß ihres Aufenthaltes in diesem Haus konnte ein ganz banaler sein, der Besuch einer Freundin beispielsweise – daß sie hier wohnte schien wenig wahrscheinlich, denn dann hätte sie das Ende des Gusses in ihrer Wohnung abgewartet, was gleichfalls die Möglichkeit eines Besuchs auch nicht wahrscheinlicher als seine romantischeren Spekulationen sein ließ, dann hätte sie ebenfalls im Haus das Gewitter abwarten können, wäre zudem dazu aufgefordert worden, denn welcher Gastgeber läßt seinen Gast schon im Gewitterguß gehen? Einzig ihre jetzige Ungeduld konnte ihren Grund in der Ohnmacht gegenüber den Naturgewalten haben, die sie hier festhielten.
Mit einem resignierenden Seufzer schien sie einzusehen, daß sie das Ende des Gusses wohl oder übel würde abwarten müssen, wollte sie nicht förmlich geduscht werden, denn ihr Mantel hätte sie lediglich vor einem leichten Regen hinreichend geschützt. Zudem war ihr Schuhwerk nur bedingt für Regenspaziergänge geeignet. Sie schien sich ins Unvermeidliche zu fügen, denn sie lehnte sich mit der rechten Schulter an die ihm gegenüberliegende Wand des Durchgangs.
Er schien für sie weiterhin nicht vorhanden zu sein, denn sie hatte bisher nicht einmal den Blick zu ihm gewandt. Es schien sie auch nicht zu interessieren, daß er sie beinahe unverhohlen, wenn auch nicht aufdringlich, sondern vielmehr bewundernd betrachtete, was nur selten abwehrende Reaktionen hervorruft, denn wann wird einem schon einmal die Wartezeit im schützenden Hausdurchgang auf das Ende eines Gewitters durch die Gegenwart einer interessanten Frau verkürzt?
Ab und zu biß sie ungeduldig auf die Unterlippe, scharrte ungehalten mit den Fuß und sah weiterhin zornig in den Regen hinaus.
Das Gewitter zog sich ungewöhnlich lange hin, oder kam es ihm nur so vor? Nur langsam wurden die Pausen zwischen den Blitzen länger, der Donner leiser. Der Regen dagegen hatte kaum etwas von seiner Heftigkeit eingebüßt. Ein Auto fuhr langsam vorüber, das Wasser spritzte in Fontänen zu beiden Seiten auf, die Scheibenwischer liefen auf höchster Stufe, trotzdem durfte der Fahrer kaum etwas sehen.
Seine schöne ›Leidensgenossin‹ löste sich von der Wand. Für den Augenblick befürchtete er schon, sie könne die Geduld verloren haben, und doch in den Regen hinausgehen, es in Kauf nehmen, schon nach wenigen Schritten durchnäßt zu sein, damit zu demonstrieren, daß sie die Dominanz der Natur nicht akzeptierte, doch sie ging nach hinten, in den dunklen Teil des Durchgangs, dort wo die Tür sein mußte, aus der sie gekommen war. Er meinte schon ein wenig enttäuscht, sie würde wieder ins Haus zurückgehen, doch sie ging auf die andere Seite, wo die Mauer einen leichten Versprung machte und einige Mülltonnen standen. Sie hockte sich hinter die Tonnen. Kurz darauf hörte er ein leichtes Prasseln auf dem Pflaster. Er mußte schmunzeln. Sie pinkelte einfach hier im Durchgang, als sei sie allein und bestünde auch keine Gefahr, daß plötzlich jemand aus der Tür kommen könnte, die genau gegenüber der Stelle war, wo sie hockte und von wo aus sie die Tonnen nicht so gut verdeckten.
Als sie fertig war, verharrte sie noch einen Augenblick, dann stand sie auf, schritt nun gemächlich nach vorne, und nahm ihre alte Stelle an der Wand wieder ein, die Hände lässig in den Manteltaschen. Sie wirkte nun nicht mehr ungeduldig, fast schon als sei es ihr gleich, wie lange der Regen noch dauerte, der schon merklich nachgelassen hatte, aber immer noch zu heftig niederging, um sich schon aus dem Schutz des Durchgangs wagen zu können.
Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Er lächelte ihr freundlich zu. Doch sie ignorierte ihn scheinbar weiterhin, dennoch umspielte ihre Augen ein schwaches, zustimmendes Lächeln, besaß ihre Haltung absolut nichts Abweisendes.
Als nur noch vereinzelte Tropfen fielen – das Gewitter endete fast so plötzlich wie es begonnen hatte –, trat sie unvermittelt aus dem Durchgang heraus, verharrte einen Augenblick, als sei sie unschlüssig, ob ihre getroffene Entscheidung die richtige sei, und schritt kraftvoll aus.

Auszug aus der Kurzgeschichte »Chambre d’Amour« aus dem Erzählband »Geheimnisvolles Rendezvous« »Bei Amazon

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