Kurzes #5 – Begegnung im Zug

von
Armin A. Alexander

Für einige Wochen mußte er beruflich jeden Tag in einen etwas entfernteren Ort fahren. Selbstverständlich nahm er den Zug. Dieser benötigte rund eine Stunde. Was für andere eine Qual gewesen wäre, war für ihn natürlich ein Vergnügen. Zu der Zeit, wo er seine Fahrt antrat, war der Zug halb leer. Wie gewöhnlich setzte er sich in den mittleren Waggon. Der Zufall enttäuschte ihn nicht. Schon zwei Stationen später stieg eine junge Frau ein. Sie war ihm bereits auf dem Bahnsteig aufgefallen, obwohl er sie nur kurz bei der Einfahrt des Zuges gesehen hatte. Als sie den Gang entlang kam, eine Tasche unter dem Arm, sah er, daß sie einen wadenlangen, dunklen Rock und schwarze Strümpfe trug. Sie mochte etwa dreißig sein. Sie war hübsch, mit kurzen, dichten, fast schwarzen Haaren, die ihre vollen Tiefrot geschminkten Lippen förmlich leuchten ließen. Sie war schlank, aber nicht von der extremen Schlankheit, die heute gerne als Ideal propagiert wird und die letztlich nur Magerkeit ist. Im Vergleich dazu konnte sie fast schon als mollig bezeichnet werden.
Zielsicher steuerte sie die Bank auf der anderen Seite des Ganges ihm gegenüber an. Es schien wie abgesprochen. Sie setzte sich, stellte ihre Tasche neben sich und schlug sogleich die Beine mit damenhafter Eleganz übereinander. Sie zählte offenkundig zu den Frauen, die sich der Schönheit ihrer Beine bewußt sind, die sie gerne bewundert sehen und die Komplimente über ihre Beine genießen. Überhaupt schien sie ein Glücksfall zu sein.
Für ihn war die Art, wie eine Frau die Beine übereinanderschlägt, beredt genug. Da gibt es das nachlässige, das gelangweilte, das trotzig abwehrende, das selbstverständliche, das nur an die eigene Bequemlichkeit denkende Übereinanderschlagen. Es gibt das mädchenhafte, das burschikose, das gezierte und das provokante, das kokette, das sinnliche, ja es gibt sogar ein lüsternes, das eigentlich eine offene Aufforderung zur gemeinsamen Unzucht ist, das jedoch nur in intimen Stunden wirklich zur Ausführung kommt.
Der Zug fuhr an. Sie holte eine Zeitung aus der Tasche und begann aufmerksam darin zu lesen. Er dagegen ließ seine Blicke unauffällig auf ihren Beinen ruhen.
Sein Blick begann beim Saum ihres Rockes, der jetzt etwa eine Handbreit unter dem Knie endete. Es war ein weicher, ein feiner Stoff, der sanft zu der Haut ist, sie zärtlich berührt. Ihre Strümpfe waren fast blickdicht. Vermittelten aber nicht den Eindruck, daß sie trug, weil sie eine weniger anziehende Haut. Ihre Wade verlief in einer fließenden, einer fast vollkommenen Kurve, wie er sie schon seit Wochen nicht mehr zu sehen bekommen hatte und endete in einer ungewöhnlich schmalen und zarten Fessel, die vom Riemchen ihrer hochhackigen schwarzen Schuhe umfangen wurde. Die Absätze waren von mittlerer Höhe, wie sie derzeit in Mode waren.
Es war nicht so, daß er während der ganzen Fahrt ausschließlich auf ihre Beine gesehen hätte. In regelmäßigen Abständen sah er auch auf ihre Hände, denn Hände erzählen mindestens ebensoviel über ihren Besitzer, ihre Besitzerin, wie Beine. Die ihren waren schlank, mit kurzen, unlackierten Nägeln. Es war ihnen anzusehen, daß ihre Besitzerin sie mit Sorgfalt behandelte. Ebenso verfing sich sein Blick auf ihrem Antlitz, ihren Lippen, die manchem zu stark geschminkt sein mochten, aber mit ihrem Typ harmonierten. Sie hielt die Lippen leicht geöffnet. Es gelang ihm aber nicht herauszufinden, ob es an einer zu kurzen Oberlippe lag oder Gewohnheit war.
Immer wenn der Zug sich einer Station näherte, sein Tempo drosselte, bedauerte er schon, daß sie gleich aussteigen und er sie vermutlich nie wiedersehen würde. Es war kein enttäuschtes Bedauern, kein Bedauern über eine verpaßte Gelegenheit. Er hatte bisher nie eine der Frauen, auf deren Beine seine Blicke bewundernd geruht hatten, angesprochen. Es war das Bedauern über das unvermeitliche Ende eines schönen Augenblicks, in dem auch die nüchterne Akzeptanz des Unwiderbringlichen liegt. Wer bewundert, zieht den Genuß aus dem Bewundern an sich, nicht aus dem möglichen Besitz des Objektes seiner Bewunderung. Der Besitz ist dem Bewunderer unwichtig. Im Gegenteil, Besitz bindet. Er muß unabhängig sein, um vorbehaltlos bewundern zu können. Wer besitzt, schätzt seinen Besitz im Wert höher ein als anderes. Außerdem hätte es das Objekt seiner Bewunderung aus der Anonymität gerissen, hätte ihn in die Banalität ihres Alltags geführt. Ihre vielleicht eintönige Arbeit, daß Kinder und ein Mann, der die Schönheit ihrer Beine, ihre Attraktivität längst nicht mehr sah, auf sie warteten. So konnte er, wenn er wollte – und manchmal tat er es auch –, ihr eine Biographie geben, die ihrem Bild einen harmonischen Abschluß gab.
Aber sie faltete ihre Zeitung auch vor dieser Station nicht zusammen, fuhr noch eine weitere mit ihm, und noch eine. Erst eine Station bevor er selbst ausstiegen mußte verließ sie den Zug. Er sah ihr vom Fenster aus nach, wie sie flinken Schrittes zum Ausgang ging. Der Zug ruckte an. Er lehnte sich zufrieden zurück, zufrieden darüber, daß sie solange seine Reisegefährtin gewesen war. Wieder eine Schöne mehr in seiner »Sammlung«, die wie ein vorüberfliegender Schmetterling auf immer seinen Blicken, seiner Gegenwart entflogen war.
Lange hatte er nicht Gelegenheit, der Erinnerung nachzusinnen, da er sich nun seinerseits bereit machen mußte, denn er mußte ja an der folgenden Station ausstiegen.

Auszug aus der Kurzgeschichte »Ein Bewunderer« aus dem Erzählband »Geheimnisvolles Rendezvous« »Bei Amazon

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