Kurzes #6 – Die anonymen Aquarelle

von
Armin A. Alexander

Erst als ich den großen grauen kartonverstärkten Umschlag mit der übrigen Post auf meinen Schreibtisch legte, sah ich, daß er nicht mit der regulären Post gekommen sein konnte, da nur mein Name in einer mir unbekannten Handschrift darauf stand, was verständlicherweise meine Neugierde weckte. Ich schnitt ihn auf. Er enthielt lediglich ein Blatt rauhes Aquarellpapier.
Es war ausgezeichnet und mit großer Liebe zum Detail gearbeitet. Es zeigte eine große Frau mit einem ausgeprägt femininen, nahezu perfekten Körper und taillenlangen, dichten dunklen Haaren. Sie stand leicht nach links gewandt im Kontrapost. Sie hielt ein großes, beiges flauschiges Handtuch vor dem Bauch, den Blick leicht nach unten gerichtet, das Gesicht vollständig von den Haaren bedeckt. Im Gegensatz zur Detailverliebtheit, mit der sie dargestellt war, war der sie umgebende von warmem Licht durchflutete Raum lediglich mit zwei, drei Strichen angedeutet, die aber genügten, um ein Bad erkennen zu lassen.
Ich wendete das Blatt mehrmals, doch es fand sich nicht die kleinste Spur einer Signatur.
Ich setzte mich an den Schreibtisch und nahm das Blatt mit Hilfe einer Lupe näher in Augenschein.
Die Arbeit strahlte eine besondere Erotik aus. Es bestand kaum ein Zweifel, daß es sich um ein Selbstportrait handelte. Diese Liebe zum Detail war Eigenliebe im positiven Sinne. Sie hatte nichts an sich beschönigt. Der auf den ersten Blick perfekte Körper hatte seine kleinen angenehmen Fehler. Ihre Brüste beispielsweise – sie fielen schon deshalb ins Auge, weil sie das Handtuch mit der Rechten dicht unter ihnen festhielt – waren keine ebenmäßigen Halbkugeln, sondern gaben unübersehbar der Schwerkraft nach, doch ohne den Eindruck des Hängens zu vermitteln. Die linke zierte außen ein kleines ovales Muttermal. Der Warzenvorhof war relativ groß und dunkel. Die Finger waren schlank und unberingt, mit kurzen halbrunden Nägeln. Mit der Linken hielt sie das Handtuch knapp über dem Schoß fest. Es fiel in weiche Falten zwischen ihren langen Beinen, deren Schenkel muskulös waren, die Waden angenehm gerundet und die Fesseln schmal. Die Füße kamen dem klassisch-griechischen Ideal sehr nahe.
Obwohl sie auf den ersten Blick den eigenen Körper nach einem erfrischenden Bad selbstverliebt abtrocknete, posierte sie unübersehbar für einen Betrachter. Und nicht für irgendeinen zufälligen, sondern für einen ganz bestimmten.
Ich stellte das Blatt vor den Monitor meines Computers und lehnte mich zurück.
Wer mochte mir dieses kleine Meisterwerk geschickt haben? Und vor allem, warum?
Die Antwort hatte ich mir bereits gegeben, wenn sich mein Hang zur Skepsis auch weigerte, es ohne Widerspruch zu akzeptieren. Die Beantwortung der ersten Frage war da weitaus schwieriger.
Zuerst dachte ich an einen meiner Künstlerfreunde und -kollegen. Was ich jedoch schnell verwarf.
Zuerst einmal fielen alle Männer heraus. Auch wenn es kein Selbstportrait wäre, würde kein Mann einen Frauenakt so darstellen, selbst wann man unterstellte, das es keine typisch geschlechtliche Sicht auf den menschlichen Körper gibt. Zum anderen ließ es sich stilistisch niemandem zuordnen – wenn es auch die meisten von der technischen Seite ohne weiteres hinbekommen hätten, das einzig wirklich nicht unumstößliche Argument. Und drittens mußten meiner Intuition nach Urheberin und Abgebildete identisch sein. Womit alle mir bekannten Künstlerinnen ausschieden. Keine von ihnen hatte taillenlanges dunkles Haar. Die einzige, die langes Haar besaß, war blond und zierlicher als die Abgebildete. Von der Figur her kamen allenfalls zwei in Frage, wenn ich auch keine von beiden bisher nackt gesehen hatte.
Wie dem auch sei, diese Argumentationsliste ließe sich noch um einiges verlängern, ohne daß mir jemand einfiel, die mit der abgebildeten Schönen identisch wäre.
Es war das Selbstbildnis einer unbekannten Verehrerin, was einerseits meiner Eitelkeit schmeichelte, mich andererseits beunruhigte, da ich keine Vorstellung von der weiteren Entwicklung hatte.
Ich nahm mir den Umschlag noch einmal vor. Vielleicht hatte ich ja was übersehen. Ich stellte ihn auf den Kopf, schüttelte ihn, aber es kam weiter nichts zum Vorschein.
Obwohl ich mir das Blatt bereits mehr als aufmerksam angesehen hatte, nahm ich es mir erneut mit der Lupe vor. Mit dem gleichen Ergebnis wie zuvor.
Zu guter letzt befestigte ich das Aquarell mit einem tiefen Seufzer der Kapitulation an der Magnetleiste über dem Ruhesofa. Vielleicht würde mir seine fortwährende Gegenwart eine Eingebung bringen. Diesen Gefallen tat es mir natürlich nicht.
Mehrmals am Tag verirrte sich mein Blick dahin, die Faszination stieg, aber auch die Ratlosigkeit.
Zwei Tage nach dem ersten Umschlag erhielt ich einen zweiten. Ich war alles andere als überrascht. Im Stillen hatte ich damit gerechnet. Meine übrige Post warf ich achtlos auf den Schreibtisch und öffnete den Umschlag mit leicht fahrigen Fingern.
Er enthielt wieder nur ein Blatt desselben Aquarellpapieres.
Diesmal saß sie im selben Licht auf dem Rand einer Wanne und cremte sich ein. Sie wandte dem Betrachter stärker als auf dem ersten Blatt das Profil zu. Das rechte Bein war angewinkelt, das linke hing fast entspannt herunter. In der Linken hielt sie einen halb durchsichtigen, blauschimmernden fast vollen Flakon, mit der Rechten verteilte sie die Lotion über ihr rechtes Bein. Ihr Bauch warf sich in leichte, aber nicht unschöne, durchaus sinnliche Falten. Und wieder verdeckte das dichte Haar das Gesicht.
Das Blatt war so schön und so sinnlich wie das erste, ja ich stellte sogar eine leichte Steigerung fest. Ich betrachtete es mit der gleichen Aufmerksamkeit wie das erste, entdeckte aber ebensowenig wie an diesem einen Hinweis auf die Urheberin.
Ich hängte das Blatt zu dem ersten, betrachtete sie zusammen und blieb ratlos. Sicher war nur, daß andere folgen würden und ich nur vage spekulieren konnte, was sie zeigten.
Am nächsten Morgen und an den Tagen darauf über etwas mehr als eine Woche hinweg fand ich in meinem Briefkasten jeweils einen Umschlag mit einem Aquarell, manchmal auch mit zweien darin. Am Ende blickten mir zwölf Aquarelle in zwei Reihen von der Wand entgegen. Auf keinem der Blätter war der kleinste Hinweis auf die Urheberin zu entdecken. Ihre Identität lag immer noch im Dunkel.
Aus der Badszene wurde beim dritten Blatt eine Ankleideszene, begleitet von einem Wechsel des Raumes bei gleicher Lichtstimmung, die wesentlich zu der besonderen Atmosphäre beitrug, die allen Blättern gemein war. Sie hüllte darauf den Körper in ein leichtes, kurzes tailliertes Gewand aus halbdurchsichtigem Stoff, unter dem der dunkle Warzenvorhof ihrer Brüste und das dunkle Schoßhaar mehr als nur angedeutet sichtbar wurden. Dieses Gewand trug sie auf allen weiteren Blättern, wohl wissend, daß ein geschickt mit einem Hauch von Stoff bekleideter Körper sinnlicher wirkte als ein nackter. Nebenbei zeigte sie, daß sie intensiv den Faltenwurf verschiedener Stoff studiert hatte.
Aus der Ankleideszene wurde eine Ruheszene auf einem breiten, wiederum nur mit wenigen Strichen angedeutetem Bett. Sie saß, an das Kopfteil gelehnt, ein Kissen im Rücken, das linke Bein ausgestreckt, das rechte angewinkelt, den Blick vom Betrachter abgewendet. Obwohl ich ihr Gesicht durch das es verdeckende Haar nicht sah, besaß ihr Blick etwas eindeutig in Erwartung Versunkenes. Die Haltung der Finger ihrer Rechten ließ erkennen, daß sie sich zuvor entweder selbst gestreichelt hatte und jetzt innehielt oder jeden Augenblick damit begann. Die Linke ruhte auf vergleichbare Weise zwischen ihren Brüsten, zu denen sich mein Blick immer wieder hingezogen fühlte, dabei gab es vieles an ihr, das die gleiche Aufmerksamkeit verdiente.
Das nächste Blatt unterschied sich nur in Details vom vorhergehenden. Lediglich ihre Körperhaltung hatte sich leicht verändert, aber doch so eindeutig, daß kein Zweifel daran bestand, daß sie masturbiert hatte. Die Intimität der Blätter wurde immer größer.
Auf dem nächsten Blatt, an diesem Tag waren zum ersten Mal zwei im Umschlag, war sie nicht mehr allein und sie ließen nichts mehr an Deutlichkeit zu wünschen übrig. Der Mann war wie die Umgebung nur angedeutet, wenn auch nicht ganz so sparsam. Ausgearbeitet waren lediglich die Partien, die für die jeweilige Szene, in denen sie ohne Ausnahme den aktiven Teil übernahm, wichtig waren. Die Blätter zeigten verschiedene Liebesstellungen in einer Deutlichkeit, die nicht einmal die Photographie erreichen kann. Und doch waren sie in keiner Weise obszön und pornographisch. Man konnte beim Betrachten ihre Lust, ihr gegenseitiges Begehren füreinander, sogar ihren Orgasmus nachempfinden. Es gelang ihr mit diesen Blättern das eigentlich Unmögliche; Empfindungen, Leidenschaften zu visualisieren, so daß ein Dritter sie nachvollziehen konnte, als wären es seine eigenen.
Trotz ihres Naturalismus war allen Blättern etwas Traumhaftes gemein.
Es war beinahe eine logische Folge, daß die dargestellten Szenen mich bis in meine Träume hinein verfolgten. In diesen sah ich die dargestellten Szenen abwechselns als Zuschauer und als Beteiligter, letzteres immer häufiger. So oft ich es auch versuchte, es gelang mir nie, ihr die Haare vom Gesicht zu entfernen. Über die Enttäuschung dieser vergeblichen Versuche erwachte ich jedesmal in ziemlicher konfuser und gedrückter Stimmung. An sich waren es ja keine Alpträume. Mehr als einmal hatte ich dabei das Gefühl, kurz vor einem herrlichen Orgasmus zu stehen, ausgelöst von einer der wunderbarsten und begehrenswertesten Frauen. Ohne diese Schöne jemals gesehen zu haben, begehrte ich sie so sehr, daß es mir nur noch unzureichend gelang, mich auf eine vernünftige Arbeit zu konzentrieren. Zugleich wurde ich immer ratloser. Was sollte eine Verführung, wenn der zu Verführende nicht wußte, wer ihn verführte und ob das Ziel eine Realisation des Gezeigten war. Irgendwie mußte es weitergehen. Es mußte eine Auflösung geben!
Daran klammerte ich mich, umso mehr, weil von einem Tag auf den anderen keine weiteren Blätter mehr kamen.

Auszug aus der Kurzgeschichte »Geheimnisvolles Rendevous« aus dem Erzählband »Geheimnisvolles Rendezvous«»Bei Amazon

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