Kurzes #8 – Der wilhelminische Erziehungsratgeber

von
Armin A. Alexander

Der folgende Text ist ein Auszug aus der Erzählung »Nachhilfestunden« der Anfang März 2009 erschienen ist.
Der Studentin Ulla gelingt es nicht, sich auf den Prüfungsstoff zu konzentrieren, den ihr ihr Kommilitone Rüdiger versucht zu vermitteln. Er scheint mit seinem Latein am Ende zu sein, doch dann bekommt er durch Zufall einen uralten Erziehungsratgeber in die Hand.

Es kam selten vor, daß ihn das Wühlen in der Grabbelkiste nicht ablenkte. Aber seine Gedanken schienen heute fest auf Ulla fixiert zu sein.
Er achtete kaum auf die Titel der Bücher, die durch seine Finger gingen.
Einfach einen radikalen Schnitt zu machen, gelang ihm nicht. Nicht weil sie ihm als Mensch und als Frau gefiel, ihre Gesellschaft sehr angenehm war, wenn man nicht gerade versuchte ihr etwas beizubringen, das partout nicht in ihren hübschen braunen Lockenkopf wollte, warum auch immer. Und fiel es nicht immer auch auf den Lehrer zurück, wenn der Schüler scheiterte?

Ein guter Lehrer kann nahezu jedem Schüler etwas beibringen, und wenn dieser nicht aus sich heraus motiviert ist, dann muß er motiviert werden, notfalls auch mit ungewöhnlichen Methoden.

An das Motto seines Onkels mußte er denken, einem Lehrer aus Leidenschaft, der sich zu recht damit brüsten konnte, die mit Abstand geringste Quote von Wiederholern unter seinen Schülern zu haben. Ulla einfach aufzugeben, verstieße eindeutig gegen diesen Grundsatz und das wollte er seinem Lieblingsonkel einfach nicht antun. Abgesehen davon fiel ja auch immer etwas vom Ruhm des Schülers auf dessen Lehrer zurück. Und wer hat nicht gerne Erfolgserlebnisse, wenn er sich einer Sache annimmt?
Rüdiger haßte es zu scheitern. Ullas Scheitern wäre ebenso sein Scheitern.
Er drehte schon eine ganze Weile dieses kleine zerlesene Buch mit dem leicht speckigen Leineneinband zwischen den Fingern, das muffiger als die anderen roch. Wie lange mochte es wohl auf irgendeinem Dachboden in irgendeinem alten staubigen Koffer sein Dasein gefristet haben, ehe es bei einer Wohnungsauflösung wieder aufgetaucht war?

Wie man verstockte Zöglinge zum Lernen anhält.

Den in Fraktur gesetzten Titel las er bereits zum zweiten Mal ohne sich dessen recht bewußt zu sein. Gedankenverloren blätterte er einige der vergilbten, teilweise abgegriffenen aber noch gut zu lesenden Seiten durch, bis er langsam bemerkte, was er da in den Händen hielt.
Zuerst schmunzelte er, paßte der Titel doch zu seiner Situation – oder wie ein anderer Onkel gerne salopp mit einem breiten Grinsen zu sagen pflegte: »Wie Arsch auf Eimer.«
Die wenigen Illustrationen waren aus heutiger Sicht natürlich kurios anzusehen als wirklich umsetzbar. Kinder auf einen Stuhl zu setzten, der mehr an ein mittelalterliches Folterinstrument erinnerte oder mit einer Haltevorrichtung zu versehen, die kerzengerades aufrechtes Sitzen ermöglichte, war kaum mit modernen pädagogischen Erkenntnissen vereinbar. Abgesehen davon waren diese Stahlschnitte von reichlich mäßiger Qualität, besaßen etwas unfreiwillig Karikierendes, von unzureichenden anatomischen Kenntnissen des Stechers einmal ganz abgesehen.
Wahllos las er einige Stellen.

Ein Hauptproblem für Unaufmerksamkeit ist Ablenkung. Erfahrungsgemäß lassen sich selbst lernwillige Zöglinge gerne ablenken, wie sehr dann ein unwilliger? Darum sollten im Zimmer, in dem der Zögling seine Hausarbeit verrichtet, so wenig wie möglich Gelegenheiten zum Ablenken vorhanden sein. Am besten nur ein Tisch in Fensternähe, wegen des Lichts, aber nicht zu nahe, damit er nicht durch das, was draußen vor sich geht, abgelenkt werden kann. Selbst die folgsamsten Jungen lassen sich durch das rege Treiben auf der Straße ablenken, gibt man ihnen nur die Gelegenheit dazu. Ein Zimmer auf einen ruhigen Hinterhof hinaus ist grundsätzlich einer lärmenden Straße vorzuziehen. Der Stuhl sollte solide mit festem Sitz sein. Alles was ein allzu bequemes Sitzen ermöglicht, sollte tunlichst vermieden werden. Des weiteren sollte es im Raum nicht zu warm sein. Wärme macht träge. Aber auch nicht zu kalt, denn Frieren kann nicht weniger ablenkend sein, wenn auch aus anderen Gründen. Zwar ist es gut, wenn der Zögling eine gewisse Abhärtung erfährt, aber alles mit Maß und Ziel. Verständlicherweise sollten sich nur die Utensilien auf dem Tisch und in Reichweite des Zöglings befinden, die unerläßlich für seine Arbeit sind. Ebenso sollte der betreffende Knabe stehts unter Aufsicht stehen. Er muß spüren, daß das kleinste Vergehen, das ihn von seiner Arbeit abhält sofort geahndet wird. Das ist wichtig, damit ihm der Zusammenhang zwischen Strafe und Vergehen bewußt bleibt. Verstreicht zwischen dem Vergehen und der Strafe zuviel Zeit, dann wird aus der Sicht des Knaben der Zusammenhang nicht mehr so deutlich und es könnte bei ihm einen Eindruck von Willkürlichkeit erwecken, was weder seiner persönlichen Entwicklung noch der Sache an sich zuträglich ist.

Er konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Was die sich damals alles ausgedacht haben! Von wann war das Büchlein? Er blätterte nach vorne zum Impressum. Der aufgeführte Verlag sagte ihm nichts. Vermutlich existierte der schon lange nicht mehr. Was ihn nicht wunderte. Wenn der noch mehr solche ›Ratgeber‹ herausgebracht hatte, dann muß er gleichzeitig mit diesen aus der Mode gekommen sein. Druckort war Leipzig. Das Jahr ließ sich kaum noch feststellen, lediglich die beiden ersten Ziffern waren noch zu lesen, 1 und 8, die dritte könnte eine 6 oder auch eine 8 sein und die vierte vielleicht eine 3. War aber auch egal. Solche Bücher muß es seinerzeit zuhauf gegeben haben. Erziehungsregeln die einem modernen Pädagogen die Hände vor Entsetzen über den Kopf zusammenschlagen ließen, zumal man bei Kindern mit so etwas eher das Gegenteil erreichte. Abgesehen davon wurde nur von Jungen und Knaben geredet und auch auf den Zeichnungen waren keine Mädchen zu sehen. Natürlich nach damaliger Auffassung brauchten Frauen nur das absolute Minimum an Bildung, damit sie ihren Männern den Haushalt führen und deren Kinder gebären konnten. Zum Glück waren diese Zeiten vorbei. Was sollte er auch mit einem Dummchen anfangen, selbst wenn sie so gut aussah wie Ulla oder Iliane? Grausliche Vorstellung. Er mußte sich schütteln.

Ist eine unangenehme Erfahrung mit dem Wissenserwerb verbunden, wird der Zögling sich noch einmal so gut an das erworbene Wissen erinnern. Denn, Hand aufs Herz, liebe leidgeprüfte Erzieher eines lernunwilligen Eleven, an was erinnern wir uns alle am besten? An Erfahrungen, die mit angenehmen Begleiterscheinungen einhergegangen sind oder an die doch viel zahlreicheren mit Unannehmlichkeiten verbundenen Dinge? Letztere sind es doch wohl, die stärker mit unserem Gedächtnis verhaftet bleiben. Natürlich dürfen sie nicht zu unangenehm für den Zögling sein, also keine aus Wut und Enttäuschung über dessen Unwillen verabreichten Schläge, sondern bewußt dosierte, die ihm nicht schaden und die vor allem ohne persönlichen Groll angewendet werden. Der Zögling darf nicht den Eindruck gewinnen, daß er persönlich angegriffen wird, sondern muß immer und in jedem Fall erkennen, daß es nur zu seinem Besten ist und man es nicht tun würde, wenn es nicht unbedingt sein müßte. Einen selbst die Schläge noch mehr schmerzen als ihm.

Was Menschen doch für einen absoluten Blödsinn schreiben können! Obwohl die Sache mit der negativen Erfahrung klang eigentlich sehr modern. Bernadette, die Psychologiestudentin mit der er vor etwas mehr als einem Jahr zusammen gewesen war, hatte ihm ähnliches erzählt. Hätte sie nicht so penetrant versucht, seine Psyche zu analysieren, wäre mehr daraus geworden.
Kopfschüttelnd schlug er das kleine Kuriosum zu und wollte es schon wieder in die Grabbelkiste zurückstellen, da hielt er mitten im Tun inne.
Aber halt! Mit solchen Methoden ließen zwar keine empfindsamen Kinderseelen bändigen, aber war es deshalb wirklich vom ersten bis zum letzten Buchstaben Unsinn? Lag hier nicht ein Ansatz zur Lösung seines Problems? Natürlich waren die im Buch beschrieben Ratschläge völlig inakzeptabel. Ulla würde sich bedanken, wenn er sie während der ganzen Zeit auf dem harten Boden knien ließ, wie in einem der ersten Kapitel beschrieben, ganz zu schweigen von dem Gestell, das ein absolut aufrechtes Sitzen ermöglichte und gerade mal genug Bewegungsfreiheit ließ, um zu schreiben. Abgesehen von der Bastelarbeit die es erforderte so etwas zu bauen und diese mittelmäßige Zeichnung als Konstruktionsvorlage ungeeignet war, die vermutlich ohnehin nur in der Phantasie des Autors existierte, der sein Machwerk nicht einmal mit Namen gezeichnet hat. Was er verstehen konnte.
Er kaufte das Büchlein. Es kostete ohnehin nur einen Euro. Was konnte man bei einem Euro schon falsch machen? Außerdem machte es Spaß so eine kleine Kuriosität zu besitzen.
Zu Hause las er das Bändchen von der ersten bis zur letzten Seite aufmerksam durch. Und je länger er darin las, über das Geschriebene nachdachte, desto weniger hielt er es für unqualifiziertes Geschreibsel einer in vielem abstrusen Epoche. Zwar hatte sich an seiner Überzeugung, daß es für die Kindererziehung untauglich war nichts geändert. Aber was Ulla betraf, begann er eine andere Meinung zu vertreten.
Keine Frage, es konnte sich schnell als eine Schnapsidee erweisen, aus der Verzweiflung heraus geboren und sie würde sich vermutlich auch nicht darauf einlassen. So verzweifelt konnte sie gar nicht sein. Andererseits, Fragen kostet ja nichts und wenn er es ihr ruhig erklärte– Es würde genügen, wenn er sich auf etwas Einfaches beschränkte, Knien zum Beispiel, aber auf einem Kissen, nicht auf dem harten Boden, wie im entsprechenden Kapitel gefordert. Über eine längere Zeit knien zu müssen war an sich schon anstrengend genug.

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