Franz Kafka »Das Urteil«

von
Armin A. Alexander

Interpretationen

Der junge Kaufmann Georg Bendemann sitzt an einem sonnigen Sonntagvormittag im Frühling über einen Brief an einen Freund, der vor einigen Jahren nach Sankt Petersburg übergesiedelt ist, um dort den geschäftlichen Erfolg zu suchen, der ihm in seiner Heimatstadt seiner Meinung nach verwehrt geblieben ist. Georg denkt rücksichtsvoll an den Freund, ob er ihm über den eigenen geschäftlichen Erfolg berichten soll, der im krassen Gegensatz zum bescheidenen des Freundes steht, ob der Freund nicht das Gefühl haben könnte, Georg sehe auf ihn herab. Georg hat die Leitung des väterlichen Unternehmens übernommen, nachdem sein herrischer Vater sich nach dem Tod seiner Mutter vor drei Jahren zurückgezogen hat. Innerhalb von zwei Jahren hat er den Umsatz verfünffacht und das Personal verdoppelt. Georg beschließt dem Freund nichts von diesem Erfolg, aber entgegen der ursprünglichen Absicht doch von seiner anstehenden Heirat mit Frieda Brandenfeld zu schreiben. Und fordert den Freund indirekt auf, diese Vermählung zum Anlaß zu nehmen, die alte Heimatstadt wieder einmal zu besuchen. »[–] Ich weiß, es hält Dich vielerlei von einem Besuche bei uns zurück, wäre aber nicht gerade meine Hochzeit die richtige Gelegenheit, einmal alle Hindernisse über den Haufen zu werfen? [–]«. Mit diesem wohlbedachten Brief geht Georg »[–] in das Zimmer seines Vaters, in dem er schon seit Monaten nicht gewesen war. [–]«. Durch eine hohe Mauer in unmittelbarer Nähe liegt das Zimmer selbst bei Sonnenschein im Halbdunkel. Unter der Woche sehen Vater und Sohn sich regelmäßig im Büro, bei den Mahlzeiten und im gemeinsamen Wohnzimmer beim Zeitunglesen. Georg ist entsetzt, wie der Vater sich nach dem Tod der Mutter immer mehr gehen läßt. Und wundert sich, denn »[–] Im Geschäft ist er doch ganz anders [–]«. Er hilft dem erschöpften Vater ins Bett, macht sich Vorwürfe, daß er sich nicht ausreichend um ihn kümmert als er dessen schmutzige Unterwäsche erblickt. Er plant nach der Heirat den Vater ins eheliche Heim mitzunehmen, um besser für ihn sorgen zu können. Er erzählt dem Vater von dem Brief, wie er mit sich gerungen, was er dem Freund berichten könne ohne ihn zu kränken und daß er zuerst gar nicht von seiner Verlobung erzählen wollte, sich aber dann doch anders entschieden hätte. Doch statt Anteilnahme bekommt Georg Vorwürfe zu hören; der Freund in Sankt Petersburg sei erfunden. Wenig wenig später behauptet der Vater, daß ihm der Freund lieber sei als der eigene Sohn. Er wirft dem Sohn vor, nach dem Tod der Mutter alles an sich gerissen zu haben. »[–] Seit dem Tode unserer teueren Mutter sind gewisse unschöne Dinge vorgegangen. Vielleicht kommt auch für sie die Zeit und vielleicht kommt sie früher, als wir denken. Im Geschäft entgeht mir manches, es wird mir vielleicht nicht verborgen [–]«. Der Vater behauptet sich mit dem Freund gegen Georg verbündet zu haben und die Kundschaft des Sohnes »[–] in der Tasche zu haben [–]«. Er läßt ebenso der Braut des Sohnes kein gutes Haar, »[–] Weil sie die Röcke gehoben hat«, fing der Vater zu flöten an, »weil sie die Röcke so gehoben hat, die widerliche Gans«, und er hob, um das darzustellen, sein Hemd so hoch, daß man auf seinem Oberschenkel die Narbe aus seinen Kriegsjahren sah, »weil sie die Röcke so und so und so gehoben hat, hast du dich an sie herangemacht, und damit du an ihr ohne Störung dich befriedigen kannst, hast du unserer Mutter Andenken geschändet, den Freund verraten und deinen Vater ins Bett gesteckt, damit er sich nicht rühren kann. Aber kann er sich rühren oder nicht? [–]«. Georg kann dem Vater nur noch mit Entsetzen zuhören, der auch noch die Heirat verhindern will. »[–] Häng dich nur in deine Braut ein und komm mir entgegen! Ich fege sie dir von der Seite weg, du weißt nicht wie! [–]«. Georg muß mitanhören, wie der Vater ihn vernichtet. »[–] Und darum wisse; Ich verurteile dich jetzt zum Tode des Ertrinkens! [–]«. Georg rennt aus dem Haus. Er hat das Urteil angenommen. Noch bevor von der Brücke in den Fluß springt, »[–] rief [er] leise: »Liebe Eltern, ich habe euch doch immer geliebt [–]«.

 

Franz Kafka verarbeitet in dieser Erzählung, die er 1912 verfaßte und die 1913 das erste Mal in »Arkadia. Ein Jahrbuch für Dichtkunst« erschien, das problematische Verhältnis zu seinen Eltern, die dem Sohn gleich dem Georg der Erzählung Undankbarkeit vorwarfen und über den erwachsenen jungen Mann bestimmen, ihn unbedingt zum Geschäftsmann machen und seine Verlobung unterbinden wollten, aber insgesamt wenig Interesse an ihm zeigen. Kafka konnte sich Zeit seines Lebens nicht von der Vorstellung befreien, daß er seinen Eltern etwas schuldete.

In der Erzählung wird Georg das, was Kafka selbst nicht werden konnte oder wollte: Der erfolgreiche Geschäftsmann, den sich seine Eltern gewünscht hatten. Trotzdem bleibt Kafkas Protagonisten die Anerkennung des verwitweten Vaters verwehrt. Im Gegenteil wirft dieser ihm vor ihn aus dem Geschäft gedrängt, alles an sich gerissen zu haben. Er vermittelt dem Sohn starke Schuldgefühle, die ihn gerade darum so schwer treffen, weil er alles unternimmt, seinem Vater einen angenehmen Lebensabend zu breiten, einschließlich ihn das eheliche Heim mitzunehmen, damit er nicht allein bleiben muß. Der Wunsch nach Anerkennung durch den Vater ist in Georg so groß, daß er nachdem der Vater ihn verstößt, keinen anderen Ausweg weiß als tatsächlich das tun, was der Vater von ihm verlangt; sich in den Fluß zu stürzen. Georg kann nicht verstehen, daß sein Vater ihn so behandelt, schließlich habe er seine Eltern »[–] doch immer geliebt [–]«.

Neben der Verarbeitung der eigenen problematischen Beziehung zu seinen Eltern zeigt Kafka mit Feingefühl, welche seelischen Qualen und Selbstzweifel fehlende Liebe und übersteigerter Ehrgeiz der Eltern in einem Kind alles zerstören kann, daß sogar ein Selbstmord weniger schlimm erscheint als von den Eltern verstoßen zu werden. Je mehr das Kind versucht Liebe und Aufmerksamkeit von den Eltern zu erlangen, in desto tiefere Nöte gerät es, sucht die Schuld fälschlicherweise bei sich und nicht bei denen, die allein die Verantwortung dafür tragen: den Eltern. Wie schwer das Abnabeln gerade von einem solchen Elternhaus fällt, obwohl gerade der Abbruch des Kontakts die einzig sinnvolle Lösung wäre.

 

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Ein Kommentar zu „Franz Kafka »Das Urteil«

  1. Helge Weidner sagt:

    Ein wunderschöner Beitrag ! 🙂 Ich liebe Kafka 🙂

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