Kurzes #50 – Die Folgen

Der folgende Text ist der dritte und letzte Teil von: Fluchtgedanken und Der Fluchtversuch.

 

Die nächsten Stunden erwiesen sich als Steigerung dieses Alptraums. Zwar hatte er überlebt, aber innerhalb der folgenden Tage, Wochen und Monate fragte er sich oft, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn der Junge ihn einfach erschossen hätte.
Nachdem seine Wunde notdürftig verbunden worden war – wohl damit er keine Blutstropfen auf dem Boden der Wachstube hinterließ –, wurde er in den Ort zurückgebracht und vom dortigen Leiter der Vopo, einem feisten Menschen mit kahlem Schädel, glattrasiertem gerötetem Gesicht›verhört‹, der seine Uniform wie eine Auszeichnung trug und die makellos an ihm saß, als sei sie seine eigentliche Haut, obwohl sie sich über seinem Bauch spannte. Ein leichter Alkoholgeruch ging von dem Mann aus.
Der Mann ließ seinen Aggressionen freien Lauf. Er schrie Ulrich unentwegt an, als koste es ihn keine Kraft, als sei es sein größtes Vergnügen. Ulrich achtete nicht auf den Inhalt der Worte, der nur eine endlose Folge von Klassenkampfparolen, Platitüden und Beschimpfungen war. Für ihn war es kaum mehr als ein lautes unartikuliertes Brüllen ohne jeden Sinn und Nutzen.

Den ganzen Beitrag lesen

Kurzes #49 – Der Fluchtversuch

Der folgende Text ist die Fortsetzung von: Fluchtgedanken

 

Am achten August 1987 war sein Entschluß endgültig, die Flucht zu wagen. Es war ein warmer, wolkenloser Spätsommerabend und nahezu windstill. Er hoffte, daß die Hunde ihn deshalb nicht so schnell würden wittern können. Schon einige Wochen zuvor hatte er einen robusten Seitenschneider aus dem Kombinat mitgehen lassen, was keinem je aufgefallen war. Er bemühte sich den ganzen Tag über in niemandem auch nur den geringsten Verdacht über sein Vorhaben aufkommen zu lassen. Bereits in der vorigen Nacht hatte er ein Bündel geschnürt, das neben dem Wichtigsten, dem Seitenschneider, einige Wäschestücke zum Wechseln und die wichtigsten Papiere enthielt, damit man ihn ›Drüben‹ auch als einen Flüchtling anerkannte.

Den ganzen Beitrag lesen

Kurzes #48 – Fluchtgedanken

Ruhig glitt der Zug auf den Gleisen dahin. Er sah bereits das achte Mal innerhalb der letzten Viertelstunde auf seine Uhr und dann wieder nach draußen. Es war ein ungewöhnlich sonniger, jedoch kühler Novembertag. Der blaßblaue Himmel war wolkenlos. Die vorüberziehenden kahlen Bäume erschienen ihm wie schwarze Gerippe, stumme Zeugen einer vermeintlich besseren Zeit. Bald würde er jene Stelle erreicht haben, die für vier Jahrzehnte nicht nur das Land sondern die ganze Welt in zwei, lange für unversöhnlich gehaltene Hälften gespalten hatte.
Seit seiner ›Übersiedelung‹ war er nicht mehr in diesem Teil des Landes gewesen. Zwar hatte er es sich in den vergangenen Jahren oft genug vorgenommen, doch war im letzten Moment stets etwas ›dazwischen‹ gekommen. Innerlich war er für diese ›Zufälle‹ jedoch dankbar gewesen. Nun aber hatte er es nicht weiter aufschieben können. Er mußte, der Anlaß gebot es. Er empfand es als Ironie, daß er weder den Zeitpunkt seines Fortgangs noch den seiner Rückkehr selbst hatte wählen können.

Den ganzen Beitrag lesen

Zitat des Tages #61

Ein Narr, der sich einbildet, ein Fürst zu sein, ist von dem Fürsten, der es in der Tat ist, durch nichts unterschieden, als daß jener ein negativer Fürst, und dieser ein negativer Narr ist, ohne Zeichen betrachtet sind sie gleich.

Georg Christoph Lichtenberg (1.07.1742–24.02.1799)

Zitat des Tages #60

Ob ich gleich weiß, daß sehr viele Rezensenten die Bücher nicht lesen die sie so musterhaft rezensieren, so sehe ich doch nicht ein was es schaden kann, wenn man das Buch lieset, das man rezensieren soll.

Georg Christoph Lichtenberg (1.07.1742–24.02.1799)