Kurzes #46 – Besprechung im Café am Stadtpark

Es war einer jener strahlenden Frühlingstage, die ein Füllhorn von Empfindungen über die Welt ausschütten, so daß jeder glaubt, darin ertrinken zu müssen und sich diesem Rausch dennoch nicht entziehen will, gleich einem Süchtigen, der ohne seine Drogen nicht mehr glaubt lebensfähig zu sein. Alles grünte und blühte, und das Versprechen, daß einem heute noch etwas Außergewöhnliches widerfahren werde, schien einem fortwährend zugeraunt zu werden.
Darum wunderte sich Marcel auch nicht, als ihn sein Verleger bat, ihr für heute vereinbartes Treffen im Café gegenüber dem großen Park unweit des Verlagsbüros zu verlegen. Marcel war das nur recht, denn auch für ihn schien ein ›stickiges‹ Büro kaum der passende Ort zu sein, an dem man sich an einem solchen Tag aufhalten sollte.
Marcel war früh von zu Hause aufgebrochen. Er wollte zuvor noch ein wenig durch den Park schlendern und diesen herrlichen Frühlingstag genießen. Das süßlichherbe Aroma, das die Flora an solchen Tag überreichlich verströmt, in Verbindung mit der Wärme und der, im Vergleich zum gerade überwundenen Winter, im Überfluß vorhandenen Helligkeit, weckten nicht nur in ihm Frühlingsgefühle, die alles begehrlicher und schöner erscheinen ließen, aus jeder leidlich hübschen Frau eine Göttin und aus jedem passablen Jüngling einen Zwillingsbruder Adonis’ machten.

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Kurzes #45 – Schönheit ist subjektiv

»Sag mal, warum hast du immer eine so glückliche Hand bei der Auswahl deiner Frauen«, fragte Daniel Florian, seinen besten und ältesten Freund, mit einem langgezogenen Seufzer.

»Ach? Ja? Habe ich das?« erwiderte Florian und mußte sich ein leicht ironisches Grinsen verkneifen. »Was bringt dich auf den Gedanken?«

Florian kannte den Freund lange genug, um an seiner Frage zu erkennen, daß bei ihm in Liebesdingen wieder einmal gehörig etwas anders verlaufen sein mußte, wie er es sich vorgestellt hatte.

»Ja, das hast du«, antwortete Daniel im Brustton der Überzeugung und von einem nicht zu überhörenden Vorwurf begleitet, der weniger Florians vermeintlichen Erfolgen als der ›Weigerung‹ galt, seinen besten Freund in sein ›Erfolgsgeheimnis‹ einzuweihen.

Florian ahnte bereits den Grund, weshalb der Freund sich in dieser Stimmung befand.

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Kurzes #44 – Marias Überraschung

Der folgende Text ist die Fortsetzung und zugleich der letzte Teil von »Der Gipsfuß«, »Der Rekonvaleszent«, »Rolf wird umsorgt« und »Die neue Nachbarin«

 

Während der Nacht träumte Rolf, wie er ins Badezimmerfenster der Nachbarwohnung sah. Doch stand nicht seine Nachbarin unter der Dusche, sondern Maria in einem hellblauen Seidenkleid. Maria, die sie sich lüstern im Kleid, Nylons und hochhackigen Schuhen in der gefüllten Wanne räkelte. Maria, die wie Venus Anadyomene in einer sonnendurchfluteten Landschaft aus einem vom üppigen Wald umgebenen idyllischen See in einem roten langen Seidenkleid stieg. Maria, die in einem schicken Kostüm aus rotem Satin in einem wolkenbruchartigen Regen allein eine lange Straße im Schein der Laternen, die ein fast taghelles Licht vor einem tiefschwarzen Himmel auf den nassen Asphalt warfen, gravitätisch entlang schritt, durchnäßt bis auf die Haut und das sichtlich genoß.

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