Kategorie-Archiv »Literarisches«

Zitat des Tages #102

Der verachtete Rat

Man darf nie weniger geschwind tun, wenn etwas geschehen soll, als wenn man auf die Stunde einhalten will. Ein Fussgänger auf der Basler Strasse drehte sich um und sah einen wohlbeladenen Wagen schnell hinter sich hereilen. »Dem muss es nicht arg pressieren«, dachte er. – »Kann ich vor Torschluss noch in die Stadt kommen?« fragte ihn der Fuhrmann. – »Schwerlich«, sagte der Fussgänger, »doch wenn Ihr recht langsam fahrt, vielleicht. Ich will auch noch hinein.« (mehr …)

Zitat des Tages #101

Heinrich Heine über Goethe

Daß ich dem Aristokratenknecht Goethe mißfalle, ist natürlich. Sein Tadel ist ehrend, seitdem er alles Schwächliche lobt. Er fürchtet die anwachsenden Titanen. Er ist jetzt ein schwacher abgelebter Gott, den es verdrießt, daß er nichts mehr erschaffen kann.

Heinrich Heine (13.12.1797–17.2.1856)

Kurzes #65 – Nachgang und Ausblick

Die Fortsetzung von »Die Belohnungt«, »bloß gestellt«, »Ein »blinde date« im Wortsinn« und »Der unbekannte nächtliche Anrufer«

 

Nachdenklich ging er nach Hause. Er hatte diesen Nachmittag außerordentlich genossen, dennoch konnte er sich im Nachhinein nicht wirklich daran erfreuen. Ihr schnelles Zurückziehen, nachdem sie ihn zum Orgasmus gebracht hatte, ließ ihn nicht los. Dabei war es nicht auffällig schnell abgelaufen, nicht im Sinne von hastig oder gar fluchtartig. Er war sich sicher, daß sie den Blick noch eine Weile auf ihn hat ruhen lassen, bevor sie ihn verlassen hatte. Vielleicht hatte sie ihn sogar mit einem liebevollen Lächeln betrachtet.

Als er seine Wohnungstür aufschloß, wußte er, was ihn bedrückte; sie hatte in jedem Augenblick bestimmt, was abzulaufen hatte, und – was für ihn ebenso schwerwiegend war – er hatte sie anschließend nicht in die Arme nehmen können.

Er zog die Schuhe aus und ließ sich, die Beine weit von sich gestreckt, aufs Sofa fallen. Nein, heute würde er nicht vor dem Schlafengehen duschen. Er wollte IHREN Geruch solange als möglich am Körper behalten.

Er konnte nicht sagen, wie lange er einfach nur dagesessen und versucht hatte, seine Gedanken, seine Eindrücke zu ordnen, als das Telefon läutete. Es war gerade einmal früher Abend. Die Dämmerung setzte erst ein und doch wußte er, daß sie es war.

»Wie hat dir deine Belohnung gefallen?« fragte sie sofort, nachdem er sich mit etwas rauher Stimme gemeldet hatte.

»Ja, doch, gut«, erwiderte er mit leicht kratzender Stimme

»Das klingt eher nach dem Gegenteil«, fragte sie unwillkürlich teilnahmsvoll und ihre Stimme zitterte zum ersten Mal leicht. Doch ihm entging das, er war zu sehr mit seinen eigenen Gefühlen beschäftigt. (mehr …)

Zitat des Tages #100

Christian Dietrich Grabbe über Goethes »Faust«

Was ist das für ein Gewäsch über den Faust! Alles erbärmlich. Gebt mir jedes Jahr 3000 Taler und ich will Euch in drei Jahren einen Faust schreiben, daß Ihr die Pestilenz kriegt.

Christian Dietrich Grabbe (11.12.1801–12.09.1836)

 

Anmerkung: Christian Dietrich Grabbe zählt zu den genialsten deutschen Dramatikern, dessen innovative Ideen teilweise die Möglichkeiten der Bühnen der damaligen Zeit beträchtlich überstieg. Er ist wie Goethe unter anderem stark von Shakespeare beeinflußt.

Zitat des Tages #99

Der geistige Arbeiter in der Inflation

Wer nur den lieben Gott laßt walten – Ich arbeite an einer Monographie über die römischen Laren. Am Tage liege ich im Bett, um Kohlen zu sparen. Ich werde ein Honorar von drei Mark erhalten. Drei Mark! Das schwellt meine Hühnerbrust wie ein Segel. Ein kleines Vermögen. Ich werde es in einem Taschentuch anlegen. Wie ich es früher trug und wie die reichen Leute es heute noch tragen. Um vorwärts zu kommen, muß man eben mal leichtsinnig sein und was wagen. (mehr …)

Kurzes #64 – Die Belohnung

Die Fortsetzung von »bloß gestellt«, »Ein »blinde date« im Wortsinn« und »Der unbekannte nächtliche Anrufer«

 

»Auch diese Prüfung hast du bestanden«, sagte sie voll Zufriedenheit und hörbarem Stolz über das Erreichte. Ja, sie konnte Stolz auf sich sein, er konnte sich nicht erinnern, jemals soweit einer Frau entgegengekommen zu sein und wollte nichts sehnlicher, als ihr noch weiter zu folgen. Für ihn war es seit langem das schönste Lob, das er erhalten hatte. Er wuchs um mindestens drei Zentimeter.

»Weil ich unerwartet für einige Tage verreisen muß, muß ich das geplante nächste Treffen verschieben«, ein unangenehmer schmerzhafter Stich durchfuhr ihn, sollte er sie für länger nicht sehen? Konnte SIE ihm das zumuten? »Heute in genau einer Woche findest du dich wieder am bekannten Ort ein. Du bringst das Tuch mit. Du setzt dich wieder nackt auf den Stuhl. Das Tuch legst du auf den Tisch ab. Ich werde es wieder benötigen. Und damit du etwas hast, auf das du dich freuen kannst; dich erwartet eine kleine Belohnung für deine Folgsamkeit.«

Diese Woche wurde für in die längste, an die er sich erinnern konnte. War es nur die Aussicht auf eine ›Belohnung‹ oder weil er es generell nicht erwarten konnte, SIE wiederzusehen? Aber war das eine nicht untrennbar mit dem anderen verknüpft? Seine Gedanken waren fast immer bei IHR.

Es war zum Ritual geworden, daß er den zeitlichen Ablauf des ersten Treffens fast minutiös wiederholte; auf der Bank sitzen, obwohl es ein trüber, regnerischer Tag war; dieses unbestimmte Gefühl, beobachtet zu werden, das sich immer zu unterschiedlichen Zeiten einstellte, mal saß er kaum auf der Bank, ein anderes Mal war er kurz davor seine Runde zu machen. Demnach konnte es nicht wirklich Einbildung sein. Seine Runde durch den Park machen; das Hotel betreten; den Schlüssel in Empfang nehmen; die Treppe hinaufgehen. Vor dem Aufschließen den Gang zu beiden Seiten hinunterschauen, zögernd eintreten; den Schlüssel von innen ins Schloß stecken. Beim Anblick des verdunkelten Zimmers ersetzte ein Gefühl von Vertrautheit seine Nervosität. (mehr …)

Lese-Empfehlungen – J. W. Goethe

Interpretationen

In dieser Rubrik gebe ich Empfehlungen, welche Werke von einem bestimmten Autor und aus welchen Gründen ich als besonders lesenswerte empfinde. Wie nicht anders möglich ist diese Auswahl subjektiv, wie alle Empfehlungen von Texten, die man »unbedingt« gelesen haben sollte, – gerne auch ein wenig hochtrabend als Literatur-Kanon bezeichnet 😉 – selbst die Heranziehung weitgehend objektiver Kriterien ändert daran nur bedingt etwas.

 

Den Anfang mache ich mit der wohl größten Identifikationsfigur für die deutsche Literaturgeschichte schlechthin – Johann Wolfgang von Goethe (28.8.1749–22.3.1832), vergleichbar in seiner Wirkung mit William Shakespeare (ca. 23.4.1564–23.4.1616) für die englische. Shakespeare ist an dieser Stelle nicht ohne Grund erwähnt, schließlich war Shakespeare für den Dramatiker Goethe ein wichtiger Inspirator, neben dem altgriechischen Drama. Die Gründe hierfür legt er in seinem autobiographischen Werk »Dichtung und Wahrheit« Band 1 und Band 2 (hier ausführlich) dar. Seines Erachtens hatte das deutsche Theater seiner Zeit wenig Innovatives zu bieten, wie man heute sagen würde. Tatsächlich fällt es aus heutiger Sicht auch belesenen Zeitgenossen schwer, deutsche Dramatiker vor der sogenannten Goethe-Zeit aufzuzählen. Auch wenn er sich anfänglich besonders von Shakespeare inspirierte fühlte, so wendete er sich später stärker seinem zweiten Ideal zu, des altgriechischen Dramas. Gut zu sehen beim Faust; während der erste Teil, überwiegend vom Shakespearschen Theater inspiriert ist, sind beim durchaus sperrigen zweiten Teil, sind die Bezüge zur altgriechischen Tragödie unverkennbar und nicht nur, weil über weite Strecken die Themen dort entliehen worden sind. Wenngleich meist nur der erste Teil als Lektüre empfohlen wird, meine ich, daß für das Verständnis des Dramatikers Goethe beide Teile gelesen werden sollten. Auf Grund der besonderen Länge des zweiten Teils wird man kaum Gelegenheit bekommen, diesen ungekürzt auf der Bühne erleben zu können – es würden mehrere durchschnittliche Theaterabende benötigt werden. (mehr …)