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Mark Twain »Querkopf Wilson«

Interpretationen

Im Staate Missouri, auf dem rechten Ufer des Mississippi, liegt die Stadt, welche der Schauplatz dieser Geschichte ist. Sie heißt Dawson, und man muß von St. Louis bis dahin noch sechs Stunden mit dem Dampfboot stromabwärts fahren.

Der Ort bestand im Jahre 1830 aus einer Anzahl freundlicher ein- oder zweistöckiger, weißgetünchter Häuser, die über und über mit einem Gewirre von Schlingrosen, Jelängerjelieber und vielfarbigen Winden bedeckt waren. Zu jeder dieser hübschen Heimstätten gehörte auch ein Vorgärtchen mit weiß angestrichenem Staketenzaun. Dort blühten Goldlack, Stockrosen, Federnelken, Balsaminen und anders altmodische Blumen in üppiger Fülle, während auf den Fensterbrettern Holzkästen mit Moosrosen prangten und Geranien in Blumentöpfen ihr feuriges Rot mit der zarteren Farbe der Schlingrosen mischten, die an der Mauer in die Höhe kletterten. Wenn draußen auf dem Blumenbrett neben Kästen und Töpfen noch Raum war, so lag – falls die Sonne schien – sicher eine Katze da. [–]

 

Mit dem Stilmittel des Idylls beginnt Mark Twain seinen 1894 erschienen Roman »Querkopf Wilson«, im Deutschen auch als »Knallkopf Willson« betitelt. (mehr …)

Franz Werfel »Eine blaßblaue Frauenschrift«

Interpretationen

Leonidas hat vor kurzem seinen fünfzigsten Geburtstag gefeiert. Noch immer befinden sich Glückwunschbriefe unter der Post. Es ist einer jener Oktobertage, die noch mehr dem Sommer zugehörig scheinen, aber jederzeit in herbstlich stürmisches Wetter umschlagen können. Seine Lebensbilanz scheint auf der Habenseite sehr üppig aufgefallen. Als Sohn eines armen Schullehrers, dem er in einem Anflug von Selbstbewußtsein, den vermeintlich hochtrabenden Vornamen verdankt, und über den er mittlerweile gar nicht mehr unglücklich ist, der sich während seiner Studienzeit eine Zeitlang aus Hauslehrer verdingen mußte, ist ein angesehener Sektionschef im Ministerium für Kultur in Wien geworden, der zudem eine reiche Heirat getätigt hat, mit Amelie, einer Frau, die in der Wiener Gesellschaft für ihre Schönheit berühmt und begehrt war und die heute noch alles unternimmt, um für ihren Mann die gertenschlanke Schönheit zu bleiben, das Zierliche zu behalten, für das ihr Mann sie begehrt. Auch an ihm scheinen die Jahre äußerlich beinahe spurlos vorübergegangen zu sein. (mehr …)

Kurzes #80 – Das Ende oder vielleicht doch erst der Anfang?

Fortsetzung von »Marlies redet ihm ins Gewissen«, »Erneutes Rendezvous mit der schönen Unbekannten«, »Nachklang«, »Das geheimnisvolle Rendezvous«, »Marlies« und »Zwölf erotische Aquarelle«.

 

Anfänglich war er zwar ein wenig überrascht, aber dachte sich erstaunlicherweise nicht wirklich viel dabei, als nach der üblichen Woche, die zwischen ihren Rendezvous’ verstrich, der gewohnte Umschlag mit den Schlüsseln nicht in seinem Briefkasten lag. Er versuchte sich mit der Erklärung zu beruhigen, daß ihr etwas Unvorhersehbares dazwischen gekommen sein mußte. Er vertröstete sich auf den morgigen Tag und versuchte nicht unruhig zu werden, was ihm nicht vollständig gelang. Doch auch am nächsten Tag erhielt er keine Nachricht von IHR, ebensowenig wie am darauffolgenden. Langsam aber stetig stieg seine innere Unruhe und wurden seine Befürchtungen größer, daß sie ernstlich erkrankt sein könnte, oder vielleicht sogar schlimmeres, was er vermied, sich vorzustellen. Er versuchte sich damit zu beruhigen, daß wirklich schwerwiegende Ereignisse den wenigsten Menschen zu stoßen. Noch vermied er es, Marlies davon in Kenntnis zu setzen. Er fürchtete, daß sie auf eine, für ihn höchst unangenehme Weise, die entsprechenden Schlüsse ziehen könnte. (mehr …)

Kurzes #79 – Marlies redet ihm ins Gewissen

Fortsetzung von »Erneutes Rendezvous mit der schönen Unbekannten«, »Nachklang«, »Das geheimnisvolle Rendezvous«, »Marlies« und »Zwölf erotische Aquarelle«.

 

»Sie bestellt dich also jede Woche in diese Wohnung. Ihr sprecht kein Wort miteinander, vögelt aber hemmungslos miteinander. Du darfst sie nicht ausziehen und ihr nicht die Maske abnehmen, ansonsten hast du sozusagen weitgehend freie Hand bei ihr, oder was man so nennt. Sie trägt stets Kleider unterschiedlichen Zuschnitts aus weichem Leder, die alle ihren Körper wie eine zweite Haut umschließen, dazu entweder High-Heels oder Stiefel je nach Witterung, wobei letzteres meines Erachtens weniger von der Witterung als von ihrer Stimmung abhängig zu sein scheint. Wenn ich dich richtig verstanden habe, hat sie bis auf zwei Male ausschließlich Stiefel getragen. Was mir nebenbei sehr gut gefällt und nicht nur, weil sexy Kleidung beim Sex auch meines ist, besonders Leder, und ich, wie du weißt, auch gerne und oft Stiefel trage. Leder hat so etwas Animalisches und Selbstbewußtes zugleich. Deine schöne Unbekannte und ich scheinen ohnehin das eine und andere gemeinsam zu haben, doch das nur nebenbei. Sie geht als erste, womit sie stets auch das Ende eures geheimnisvollen Rendezvous’ bestimmt, und nimmt immer den Schlüssel mit, den sie dir zuvor in einem Brief schickt und den sie dich bittet, in der Jackentasche aufzubewahren. Dieses Szenario spielt sich nun wöchentlich seit rund eineinhalb Monaten zwischen euch ab. Korrigiere mich, wenn ich in der Aufzählung etwas vergessen haben sollte«, rekapitulierte Marlies. (mehr …)

Kurzes #78 – Erneutes Rendezvous mit der schönen Unbekannten

Fortsetzung von »Nachklang«, »Das geheimnisvolle Rendezvous«, »Marlies« und »Zwölf erotische Aquarelle«.

 

Fast eine Woche war seit jenem geheimnisvollen Rendezvous vergangen. Seit zwei Tagen regnete es nahezu ohne Unterbrechung. Ein ergiebiger Landregen hatte sich über der Region festgesetzt. Jeden Morgen sah er erwartungsvoll in den Briefkasten und jeden Morgen wurde er enttäuscht. Keine wie immer geartete Nachricht von IHR war vorzufinden. Das Gefühl der Enttäuschung war jedoch nur am ersten Morgen wirklich quälend gewesen. Mittlerweile war es einer Art schmerzlichen, aber erträglichen Gewohnheit gewichen, doch hatte sich noch keine Resignation in ihm breit gemacht. Um so größer war verständlicherweise seine Freunde, als er einen gepolsterten kleinen Umschlag mit ihrer Handschrift darauf und mit etwas Hartem darin vorfand.

Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Er fühlte sich auf einmal wie ein Pennäler, den das hübscheste Mädchen der Klasse, das er ohne sich von ihr jemals erhört zu glauben, anbetete, und sie ihm endlich, als bereits die tiefe Enttäuschung ihn packen wollte, ein Rendezvous gewährte. Dennoch zügelte er seine Ungeduld, wollte die Vorfreude auskosten und öffnete erst in der Wohnung den Umschlag. (mehr …)

Kurzes #77 – Nachklang

Fortsetzung von »Das geheimnisvolle Rendezvous«, »Marlies« und »Zwölf erotische Aquarelle«.

 

Zu Hause zurück setzte er sich im Arbeitszimmer in den bequemen alten Sessel und betrachtete die Aquarelle, die von den zusehends schwächer werdenden Strahlen der Abendsonne beschienen wurden. Es war ungewöhnlich ruhig im Haus, das abendliche Konzert der Vögel war das einzige vernehmliche Geräusch, das von draußen hereindrang.

Mit zunehmender Dämmerung schienen die Szenen auf den Aquarellen lebendig zu werden. Er glaubte zu sehen, wie sich die schöne Unbekannte auf dem ersten Aquarell abtrocknete, wie sich das flauschige Badetuch bewegte, wie sie auf dem zweiten ein paar Tropfen Lotion aus dem Flakon in ihre Handfläche laufen ließ und mit zärtlicher Selbstverliebtheit auf der Innenseite ihres Schenkels verteilte. Er meinte, ihre Laute der Lust zu vernehmen, glaubte sogar, in dem angedeuteten Mann sich selbst zu erkennen. Und auf einmal befand er sich wirklich in dem lichtdurchfluteten Bad, sah, wie sie aus der Wanne stieg, ihn um ein Handtuch bat, das er ihr nur zu gerne reichte. Sie trocknete sich ausgiebig ab. Als sie sich eincremte, folgten seine Blicke ihrer Hand, mit der sie die Lotion in ihre schöne weiche und zugleich feste Haut massierte. Dann befanden sie sich im Schlafzimmer. Sie trug nun das Kleid aus dem leichten durchsichtigen Stoff. Er hielt sie in den Armen. Sie küßten sich leidenschaftlich genießend. Er spürte ihre warme, wohlriechende weiche Haut durch den dünnen Stoff auf seiner. Jetzt erst wurde ihm bewußt, daß er nackt war und eine heftige Erektion hatte. Sie lagen auf dem Bett und liebkosten sich mit den Händen mit der gleichen Leidenschaft wie sie sich küßten.

Plötzlich klingelte das Telephon und er erwachte aus seinem Tagtraum, die ihm jedoch wie eine Vision erschienen war, so intensiv war es gewesen. (mehr …)

Zitat des Tages #115

Mitt­ler­wei­le aber hatte sich, wie jeder Pro­phet hätte vor­aus­se­hen kön­nen, ein So­zi­al­de­mo­krat ent­wi­ckelt. Als der Kai­ser vor der Kir­chen­tür den ver­gol­de­ten kai­ser­li­chen Schub­kar­ren be­stieg, schoß der So­zi­al­de­mo­krat fünf­zehn- oder sech­zehn­mal nach ihm – aber mit so merk­wür­dig so­zi­al­de­mo­kra­ti­scher Un­si­cher­heit im Ziel, daß er kei­nen Scha­den an­rich­te­te.

 

Aus: »Ein Miniaturreich im Weltmeer«

Mark Twain (30.11.1835–21.04.1910)

Kurzes #76 – Das geheimnisvolle Rendezvous

Fortsetzung von »Marlies« und »Zwölf erotische Aquarelle«.

 

Marlies’ Besuch hatte seine innere Unruhe zwar besänftigten, aber nicht zerstreuen können. Am nächsten Tag lag wieder keine Nachricht der schönen Unbekannten im Briefkasten, wie auch am darauffolgenden. Fast eine Woche verging. Und mindestens einmal am Tag rief Marlies an, um sich nach dem Stand der Dinge zu erkundigen, wie sie sich ausdrückte. Anteilnahme von Freunden ist etwas Schönes, kann mitunter aber auch reichlich lästig werden.

Die schöne Unbekannte beherrschte fast alle seine Gedanken. Seine größte Befürchtung war, nie zu erfahren, warum er diese zwölf schönen und sinnlichen Aquarelle erhalten hatte, was ihn mehr als einmal des Nachts schweißgebadet aufwachen ließ.

Auf den Tag eine Woche nach dem letzten Aquarell lag ein Standardbriefumschlag in seinem Kasten. Daß er von IHR sein mußte, erkannte er sogleich an der Handschrift, in der sein Name geschrieben war. Mit nervösen Fingern, zwischen Erleichterung und Furcht hin und her pendelnd, schließlich konnte er auch eine für ihn wenig angenehme Erklärung enthalten, riß er den Umschlag noch am Briefkasten auf. (mehr …)