Kurzes #31 – Begegnung im Mondschein

von
Armin A. Alexander

Der folgende Text ist eine Leseprobe aus dem Buch »Die Villa nebenan«

Zu Beginn der neuen Woche zeigte sich der Frühling von einer weniger schönen Seite, nämlich einer feuchten. Zudem wurde es kühler. Nur wenige Grade, doch war es nicht angebracht, ohne Jacke das Haus zu verlassen. Die Schöne Künstlerin hatte die Atelierfenster jetzt die meiste Zeit geschlossen. Und auch Schlaf- und Badezimmerfenster öffnete sie nur noch zum Lüften. Da die geschlossenen Fenster ihm lediglich einen eng begrenzten, schemenhaften Einblick ermöglichten, widmete er sich wieder verstärkt seiner Geschichte.
Doch wollte die Handlung nicht so recht weiterfließen. Nicht selten brütete er mehr als eine Stunde über einem einzigen Satz, den er dann anschließend wieder verwarf. Es lag nicht allein daran, daß sich die Handlung allzu schnell entwickelte und dadurch ins Oberflächliche abzugleiten Gefahr lief, sondern er fühlte eine gewisse Einsamkeit in sich. Vielleicht hatte Vivians starke Persönlichkeit mal wieder einen zu nachhaltigen Eindruck bei ihm hinterlassen. Es wollte ihm auch nicht recht gelingen, seiner Protagonistin eine unverwechselbare Identität einzuhauchen. Dabei hatte ihm zu Anfang ihre Person plastisch vor Augen gestanden. Doch beim Durchlesen der ersten Seiten stellte er fest, daß sie deutliche Züge seiner Nachbarin hatte und seit Vivians Besuch sich immer mehr zu deren Zwillingsschwester entwickelte. Beim jungen Mann dagegen war alles klar, gab es keine Unsicherheiten, aber bei ihr–
Über die Lösung des Problems brütete er fast eine Woche. Eine Woche während der es, mit kurzen sonnigen Abschnitten, fast ausschließlich regnete. Dem Garten jedenfalls bekam der Regen prächtig. Das Grün wucherte bald so üppig, daß es einen mit der feuchten Witterung wieder versöhnte.
Während dieser Woche stand er häufiger am Fenster, blickte gedankenverloren in den Regen hinaus, versuchte seine weibliche Hauptfigur zu fassen, als er am Schreibtisch saß und schrieb. Saß er dort, dann zeichnete er die meiste Zeit unzählige Blätter mit Arabesken voll und bekritzelte nicht weniger Zettel mit Notizen. Kam aber nur schleppend weiter. Wenn es ihm auch nach und nach gelang, die Anteile der Schönen Künstlerin an ihr zu eliminieren, erwies sich Vivians Schatten als hartnäckiger. Dabei überwog zwischen ihnen seit Jahren die Freundschaft, abgesehen von gelegentlichen Vögeleien, wie der vor kurzem, was sich im Jahr auf zwei bis dreimal beschränkte, und mehr als eine Art Ritual zu sehen war. So wie sich beispielsweise zwei ehemalige Kommilitonen, die während des Studiums gemeinsam nicht nur alle Prüfungen und Seminare bestritten hatten, sondern auch noch manch anderes, und darum bestimmte Jahrestage in Erinnerung an jene besonderen Tage auf ihre eigene Weise und mit einer gewissen inneren Pflichterfüllung begingen. Das hieß allerdings nicht, daß es zwischen Vivian und ihm ohne jegliche Leidenschaft verlief. Wahrscheinlicher fehlte ihm eine kontinuierliche Beziehung zu einer Frau. Auch wenn er gerne behauptete, daß das Singledasein seine angenehmen Seiten hatte, seine Sache war es, im Gegensatz zu Vivian, nicht. Leider war er in den vergangenen Jahren ausschließlich an Frauen geraten, die den Standpunkt vertraten; »Wenn ich mal einen Liter Milch will, dann muß ich doch nicht gleich eine ganze Kuh kaufen«, – und – um bei dieser Metapher zu bleiben – sich zwar gerne bei ihm den Liter Milch abholten, die Kuh dann aber lieber woanders erwarben, wenn sie eine wollten.
Bei der Schönen Künstlerin schien der Ideenfluß jedenfalls nicht zu stocken. Immer wenn er einen Blick zu ihr hinüberwarf – als könne sie ihm bei seinem Problem helfen –, saß sie konzentriert arbeitend am Zeichentisch, worum er sie im Stillen beneidete.
Gelegentlich, wenn er unten im Wohnzimmer in der offenen Terrassentür stand und in den Regen hinaus auf das üppig wuchernde Grün sah, erinnerte er sich mit einer gewissen Wehmut an die Zeit, während der er über beinahe vier Jahre mit einer Frau zusammengelebt hatte. Aber da er aus Erfahrung wußte, daß es kontraproduktiv ist, sich im Trübsinn zu verlieren, vergrub er sich in seine Arbeit.
Wenn er bisweilen, den Kopf auf die Hände gestützt, den Blick durchs Fenster nach gegenüber richtete, dem fallenden Regen lauschte – weil es nahezu windstill war, konnte er das Fenster geöffnet lassen –, dachte er an Karl Valentin, der es mit seiner Aussage »Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit« auf den Punkt gebracht hatte.
In dieser Nacht wachte er, plötzlich durch irgend etwas aus dem Schlaf gerissen, auf. Es gelang ihm nicht gleich, sich zu orientieren. Er fühlte sich matt, träge, war aber wach. Der Regen mußte schon länger aufgehört haben und der Himmel nahezu wolkenlos sein. Der hereindringende Mondschein tauchte das Zimmer in ein silbergraues bläuliches Licht, das allem etwas Irreales gab. Zudem war es absolut still, selbst für diese ruhige Gegend. Normalerweise hätte er sich auf die andere Seite gelegt und sich wieder dem Schlummer überantwortet, doch aus einem unerfindlichen Grund verspürte er das intensive Bedürfnis, aufzustehen. Ohne es recht bewußt wahrzunehmen, erhob er sich, zog ein T-Shirt über und verließ das Zimmer auf nackten Füßen. Erst als er in dem kleinen Zimmer, das über dem Wohnzimmer lag und als Gästezimmer eingerichtet war, am Fenster stand, wurde ihm bewußt, daß er aufgestanden war. Er dachte kaum weiter darüber nach, sah in den Garten hinunter.
Die Bäume warfen lange fahle Schatten. Das Laub schien erstarrt zu sein. Unmittelbar bei den Bäumen war kaum etwas zu erkennen, war die Helligkeit des Mondes doch nur eine geringe. Aber dort, wo nichts sein Licht behinderte, waren mehr als nur Schemen zu erkennen. Er wanderte mit dem Blick langsam zu der niedrigen Mauer hinüber, die sein Grundstück von dem der Schönen Künstlerin trennte. An einer Stelle war die Mauer so weit eingestürzt, daß bequem von einem Grundstück zum anderen gewechselt werden konnte. Das fiel ihm jetzt das erste Mal auf. Doch blieb sein Blick hier nicht lange hängen, sondern wanderte weiter zum anderen Haus. Die Terrassentür stand offen. Wenig später entdeckte er die Schöne Künstlerin ein Stück entfernt, nahe einer großen Kastanie, auf dem Rasen stehen. Ihr kurzes, weißes seidenes Hemdchen, bis auf einen dazu passenden Slip das einzige Kleidungsstück, das sie trug, leuchtete förmlich im hellen Mondlicht und hob sie weit sichtbar von der dunkleren Umgebung ab. Sie stand unbeweglich wie eine Skulptur da, das lange dichte Haar, über das das Mondlicht einen gräulichen Schimmer zog und ihre Haut bleich wirken ließ, floß weich über ihre runden Schultern. Von diesem Bild in den Bann gezogen sah er aufmerksam und unbeweglich zu ihr hinüber.
Unvermittelt löste sie sich aus ihrer Starre und begann leichten Schrittes – ihre nackten Füße schienen kaum den Rasen zu berühren –, den Körper gerade aufgerichtet, scheinbar ziellos im Garten umherzugehen. Das war nun auch für ihn der Anstoß, sich aus der eigenen Bewegungslosigkeit zu lösen. Er verließ das Zimmer und ging langsam, aber zielsicher nach unten, durchschritt das Wohnzimmer, öffnete die Terrassentür und trat in den Garten hinaus. Nur unterschwellig nahm er das vom nächtlichen Tau feuchte weiche Gras unter den nackten Füßen wahr. Er lenkte die Schritte zu der Stelle, die den bequemen Wechsel in den anderen Garten ermöglichte. Kaum hatte er diesen betreten, da suchten seine Blicke schon die Schöne Künstlerin. Obwohl er einige Minuten für die zurückgelegte Strecke gebraucht hatte, hatte sie sich nur wenig von der Stelle bewegt, wo er sie zuletzt gesehen hatte. Sie schien nicht zu bemerken, daß jemand nur wenige Schritte von ihr entfernt stand und sie aufmerksam beobachtete. Sie schritt ziellos zwischen den Bäumen auf dem taufeuchten Rasen umher. Er folgte ihr mit dem gleichen leichtfüßigen Schritt, der mehr an ein leichtes Schweben erinnerte.
Irgendwo schrie weit entfernt und kaum wahrnehmbar eine Eule.
Plötzlich entschwand die Schöne Künstlerin seinen Blicken. Er schaute sich suchend um und entdeckte sie ein ganzes Stück von der Stelle entfernt, an der sie zuletzt war. Sie lehnte mit dem Rücken an einem Baum, blickte starr durch das dichte Laub zum nächtlichen Himmel hinauf. Das Mondlicht reflektierte sich in ihren Augen. Langsam näherte er sich ihr. Sie verharrte in ihrer Haltung. Er kam bis auf wenige Meter an sie heran. Sie blieb unbeweglich. Auch er blieb stehen, betrachtete sie nur. Beobachtete, wie sich ihre Brüste gleichmäßig unter ihren ruhigen Atemzügen, die fast so gleichmäßig wie die einer Schläferin waren, hoben und senkten. Schaute auf die Stelle, wo sich ihre Brustwarzen durch den dünnen Stoff hindurchmodellierten, sah auf ihre muskulösen Schenkel, auf ihre schlanken sensiblen Hände. Ein Grashalm klebte außen an ihrer linken Wade.
Das laute Knallen einer Autotür riß ihn aus dem Schlaf. Die Sonne schien ins Zimmer, warf einen großen hellen Fleck auf dem Boden vor dem Bett. Das Auto fuhr weg. Leicht verwirrt stand er auf, saß einen Augenblick träge auf der Bettkante. Er mußte einen reichlich diffusen Traum gehabt haben. Dann fiel sein Blick auf seine nackten Füße, an denen überdeutlich mittlerweile getrocknete Spuren nassen Grases zu sehen waren.

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