Kurzes #58 – Die Tote im Abbruchhaus

von
Armin A. Alexander

Der folgende Text ist ein Auszug aus dem ersten Kapitel meines Kriminalromans »Ein (fast) alltäglicher Fall«, Bestellmöglichkeit hier.

Das Klingeln des Mobiltelephons riß Evas aus ihren Gedanken. Sie holte es aus der Innentasche ihrer Jacke. Es war ihr Kollege Lars.
»Ja, was gibt’s?« blaffte Eva ihn an, die bisweilen gerne einen Teil ihres Frustes an ihm ausließ.
Lars arbeitete bereits zu lange mit Eva zusammen, um sich von den Launen seiner bildschönen Kollegin noch aus dem Konzept bringen zu lassen.
»Wo bist du, Eva?« fragte Lars gelassen.
»Zuerst einmal sagt man ›Guten Morgen‹, du Stoffel«, herrschte Eva ihn an, was Lars gleichfalls ignorierte. War sie in ihrer augenblicklichen Stimmung, war es letztlich gleich, was er sagte, Eva würde stets vergleichbar reagieren. Zwischen ihnen hatte sich über die Jahre eine Art Haßliebe entwickelt. »Wenn du wissen willst, wo ich bin; ich stecke mitten in einem Stau. Wo sollte man auch sonst an einem Montagmorgen um diese Zeit stecken? Von wegen, daß der Stadt bald der Verkehrsinfarkt droht; der ist doch schon längst da!«
Lars hörte sich ihre Tirade mit stoischem Gleichmut an und sagte, nachdem sie geendet hatte:
»Du fährst am besten sogleich nach – Moment –« Eva hörte Papier rascheln, anschließend nannte Lars ihr eine Adresse, die gar nicht weit von ihrem jetzigen Standort lag.
»Und warum soll ich das?« fragte Eva schon gemäßigter, denn sie ahnte den Grund; es gab nur eine Möglichkeit, wenn Lars sie bereits auf der Fahrt zum Präsidium anrief.
»Weil dort in einem Abbruchhaus eine weibliche Leiche gefunden wurde. Es sieht eindeutig nach Fremdeinwirkung aus, wie die uniformierten Kollegen berichten. Sie sind bereits vor Ort. Ich mache mich auch sofort auf den Weg. Wir sehen uns dort.«
Lars beendete das Gespräch, bevor Eva etwas erwidern konnte.
Diese Nachricht brachte Eva wieder zur Vernunft. Sie schnürte ihr für den Moment das Herz zusammen. So reagierte sie immer, wurde sie zu den Folgen einer Gewaltat gerufen. Das würde sich vermutlich nie ändern. Zum Glück dauerten diese Empfindungen stets nur wenige Augenblicke, dann hatte Eva sich wieder in der Gewalt. Andernfalls hätte sie ihren Beruf nicht ausüben können. Zum Glück hatte sie noch nie den Fall eines gewaltsam getöteten Kindes untersuchen müssen – ihr schlimmster Alptraum.
Eva achtete nur insoweit auf die anderen Verkehrsteilnehmer, damit keiner bei ihrem etwas waghalsigen Ausscheren auf den Standstreifen ihrem nur wenige Monate alten französischen Coupé zu nahe kam. Sie fuhr auf dem Standstreifen zur etwa fünfhundert Meter entfernten Ausfahrt.
»Hoffentlich sehen mich die Kollegen von der Autobahnstreife nicht«, murmelte Eva leise vor sich hin, während sie die Verkehrsregeln sehr weiträumig auslegte.
Eva war immer wieder aufs neue erstaunt, welche Kraft ihr neuer Wagen entfalten konnte, der beinahe ein Spontankauf gewesen war.
Im Grunde waren Autos für Eva nie etwas anderes als reine Fortbewegungsmittel gewesen. Und die meisten ihrer bisherigen Fahrzeuge hatten innen wie außen auch so ausgesehen. Aber ebenso wie Eva hin und wieder das Bedürfnis verspürte, statt Jeans, Pullover und praktische flache Schuhe, schicke Kleider, Nahtnylons und hochhackige Schuhe mit beinahe narzißtischem Vergnügen zu tragen, so hatte sie immer wieder mit einem eleganten Auto geliebäugelt, und elegant waren in ihren Augen nur französische Autos. Da war nichts von dem spießigen, miefigen oder protzigen Image einheimischer Erzeugnisse.
Eva stellte nicht in Abrede, daß die Art und Weise wie Birger sich von ihr getrennt hatte, mit ein Grund gewesen war, das anthrazitfarbene Coupé mit den beigen Ledersitzen gegen ihren bereits in die Jahre gekommenen Golf einzutauschen, in den Birger sich nie setzen wollte, da er ihm zu heruntergekommen war.
Eva vermied alles, wodurch der Eindruck enstehen könnte, das Coupé sei der mit Abstand teuerste Frustkauf in ihrem Leben gewesen. Die Kollegen hatten nicht schlecht gestaunt, als sie Eva an einem Märzmorgen – es war der erste Tag, der mehr als eine Ahnung vom Frühling vermittelte – in ihrem neuen Wagen vorfahren sahen. Nur Lars war nicht erstaunt gewesen; Eva konnte ihn schon lange nicht mehr überraschen, dafür kannte er sie längst zu gut.
Kaum zehn Minuten nach Lars’ Anruf traf Eva am mutmaßlichen Tatort ein.
Es war eine kleine, Anfang der 1950er Jahre errichtete Siedlung mit Mehrfamilienhäusern, die abgerissen und durch Neubauten ersetzt werden sollten, da eine Renovierung, der nach dem Krieg, um schnell Wohnraum zu schaffen, zügig hochgezogenen Häusern, nach über fünfzig Jahren teurer als Neubauten geworden wären. Die Fenster waren bereits überall herausgenommen und im Erdgeschoß zugemauert worden. Der Dauerregen der letzten Tage hatte den Boden um die Häuser aufgeweicht. Vor einem Haus parkten zwei große lkws, die mit ihren mächtigen Zwillingsreifen tiefe Furchen in den Boden gegraben hatten. Ein imposanter Kettenbagger stand unmittelbar neben einem Haus, dessen stählerne Bautüre offenstand. Zwei Streifenwagen parkten auf dem letzten festen Stück Wegs. Zwei Polizistinnen standen im wieder einsetzenden leichten Regen vor dem Haus, die Dienstmützen in die Stirn geschoben und die Kragen ihrer Jacken hochgeschlagen. Sie unterhielten sich leise miteinander.
Eva stellte ihren Wagen hinter dem letzten der beiden Streifenwagen ab. Sie war froh, feste Schuhe angezogen zu haben, und doch verspürte sie wenig Lust über den morastigen Boden zu laufen. Zwar hatte jemand daran gedacht Holzdielen vor den Eingang zu legen, aber dennoch würde sie eine kurze Strecke über den aufgeweichten Boden gehen müssen.
Eva schlug den Kragen ihrer Jacke hoch und stieg aus.
Die beiden Beamtinnen waren bereits auf sie aufmerksam geworden. Eva kannte die eine von einer früheren Ermittlungen her. Auch sie erkannte Eva sofort wieder. Sie grüßte freundlich und fragte, ob sie sie ins Haus führen sollte. Eva lehnte ein wenig zerstreut ab.
»Zwei unserer Kollegen nehmen gerade die Aussagen der Arbeiter auf, die die Tote heute früh gefunden haben«, informierte die Beamtin Eva freundlich.
Eva nickte durchaus freundlich, aber auch ein wenig abwesend zurück, und balancierte über die Bretter auf den Eingang zu.
Als sie im Haus verschwunden war, bemerkte die andere Polizistin:
»Die von der Kripo glauben doch alle irgendwie etwas Besseres zu sein. Immer wird man von denen kurz abgefertigt.«
»Nein, da täuschst du dich, die Gerbroth ist nicht so. Ich habe sie schon ganz anders erlebt.«
»Na ja«, meinte ihre Kollegin nicht sehr überzeugt.
Zwei Uniformierte standen gemeinsam mit vier Männern unterschiedlichen Alters in Arbeitskleidung im Treppenhaus. Während die beiden Beamten routinierte Gelassenheit ausstrahlten, war den Männern der Schrecken und die Aufregung über ihre Entdeckung anzusehen. Sie sprachen durcheinander, während Evas Kollegen versuchten, eine zusammenhängende Aussage aufzunehmen.
Der ältere der beiden Uniformierten grüßte Eva freundlich. Eva grüßte mehr pflichtschuldig zurück.
»Wo?« fragte Eva und mußte ein leichtes Kratzen in der Stimme unterdrücken.
Es war immer wieder dasselbe. Sie versuchte den Augenblick hinauszuzögern, an dem sie der Leiche gegenübertreten mußte.
»Im zweiten Obergeschoß«, erwiderte der Beamte, von dem Eva glaubte, daß er Schröder hieß, aber sie war sich nicht sicher. »Soll ich Sie hinaufführen?« bot er ihr freundlich an.
Auf Eva wirkte er wie der Prototyp des gutmütigen Dorfpolizisten, wie die Comic-Figur der Wochenendbeilage der Lokalzeitung, die sie aus ihren Kindertagen kannte, nur fehlte ihm der Schnäuzer.
»Ich warte noch auf meinen Kollegen«, lehnte Eva höflich, aber bestimmt ab. »Wer hat die Tote gefunden?«
»Diese beiden Herren«, erwiderte Schröder – Eva war sich relativ sicher, daß das sein Name war.
Schröder wies auf die beiden Jüngeren. Auch ohne den Hinweis war das für Eva klar, denn ihnen war der Schock über ihren unerwarteten Fund noch immer anzusehen.
»Heute sollte mit dem Abriß des Hauses begonnen werden. Die beiden sollten sich überzeugen, daß sich niemand mehr im Haus aufhielt und die Bautüre ausbauen, bevor der Bagger mit seiner Arbeit beginnt. Das Schloß der Bautüre ist übrigens seit einigen Tagen defekt«, fuhr Schröder fort.
»Unser Bauleiter meinte, daß es nicht nötig sei, für die paar Tage noch einen neuen Zylinder einzubauen. Es sei ja alles entfernt worden. Hätte er anders entschieden, wäre das vielleicht nicht passiert«, erklärte einer der Arbeiter mit leicht kratzender Stimme. »Die arme Frau.«
»Wenn man alles vorher wüßte«, meinte der Älteste von ihnen lakonisch mit einem fast gleichgültigen Achselzucken.
Er verbarg mit keiner Miene, daß er alles für eine durch nichts gerechtfertigte Unterbrechung ihrer Arbeit ansah.
»Tatsächlich ist das der einzige Zugang, Frau Gerbroth. Wie Sie gesehen haben, sind die Fenster im Erdgeschoß zugemauert worden, das gilt auch für die Kelleraußentür. Abbruchhäuser werden ja gerne als Unterkunft genutzt«, fügte Schröder hinzu, als sei damit alles gesagt.
Bevor Eva etwas darauf erwidern konnte, hörte sie Lars’ jungenhafte Stimme hinter sich.
»Guten Morgen zusammen. Hallo Eva. Warst du schon oben?«
Eva wandte sich um. Es gab tatsächlich Momente, da war sie erleichtert Lars zu sehen.
Seit über vier Jahren waren sie bereits ein ›Team‹. Und seit über vier Jahren herrschte diese besondere Haßliebe zwischen ihnen. Wobei die Vorbehalte auf ihrer und die Sympathien auf seiner Seite überwogen. Während Lars sie trotz allem für eine liebenswerte Kollegin hielt, störte Eva eigentlich alles an ihm. Sein jungenhaftes Gebaren, obwohl er die Vierzig längst überschritten hatte. Seine Art sich zu kleiden, als suche noch immer seine Mutter die Kleidung für ihn aus. Seine Gelassenheit, die säuerliche Miene, die er zog, wenn sie sich aus irgendwelchen Gründen in Verbalinjurien erging. Daß er seit über fünfzehn Jahren harmonisch mit Marietheres, einer ebenso hübschen wie klugen und liebenswerten Frau, verheiratet war, die Evas Meinung nach etwas Besseres als einen derart unverbesserlichen Chauvi verdient hätte, verübelte sie ihm ebenfalls. Eva würde wohl nie verstehen, was eine angesehene Familienrichterin an einem Mann fand, der sich nicht einen Deut um sein berufliches Fortkommen scherte. Vor zwei Jahren hätte Evas Auffassung nach, ihm Wolters Position als ihr Vorgesetzter zugestanden, doch Lars hatte sich mehr als nur halbherzig um den vakanten Posten beworben, dabei wies er mehr aktive Dienstjahre als Wolters auf, der ein reiner Verwaltungsmensch war. Nicht daß Eva Lars als Chef lieber gewesen wäre – Wolters ließ ihnen weitgehend freie Hand, war insgesamt ein umgänglicher Chef, vermutlich wäre sie mit Lars nur noch häufiger aneinandergeraten, wäre er ihr Vorgesetzter geworden – aber ihr ausgeprägter Sinn für Gerechtigkeit sträubte sich einfach dagegen. Dabei ignorierte sie völlig, daß sie sich auch nicht intensiver um ihre Karriere kümmerte.
Auch jetzt wirkte Lars wieder wie aus dem Ei gepellt und von Mutti passend zum Wetter ausstaffiert.
»Nein, Lars, ich habe auf dich gewartet«, wie Eva es sagte, grenzte es fast schon an Beleidigung.
Lars quittierte es mit einem charmanten Lächeln. Vermutlich besaß er einen leichten Hang zum Masochismus, denn ohne Evas tägliche kleine Sticheleien hätte ihm etwas im Leben gefehlt. Im Grunde tat Eva ihm leid, denn sie schien ein Talent zu haben, stets an die falschen Männer zu geraten. Aber er wußte auch, daß es für eine gleichermaßen kluge, selbstbewußte und schöne Frau wie Eva nicht leicht war, einen adäquaten Mann zu finden, zumal wenn sie einen derart ausgeprägten Hang zur Kratzbürstigkeit besaß.
»Dann gehen wir einmal«, meinte Lars, als hätten sie sich zu einem geselligen Beisammensein getroffen.
»Ich zeige es Ihnen«, bot sich Schröder an und ging bereits voraus.
Lars folgte ihm und Eva schritt unsicheren Schrittes auf den ausgetretenen und mit Schutt übersäten Stufen hinauf.
Das Herz schlug ihr fast bis zum Hals und sie wunderte sich über die scheinbare Gelassenheit, die die beiden vor ihr die Treppen hinaufgehenden Männer an den Tag legten.
Oben angekommen führte Schröder sie in die rechte Wohnung und in den Raum, der ursprünglich das Schlafzimmer gewesen sein mußte. An den Wänden hingen vergilbte von der Feuchtigkeit fleckig gewordene blaßblaue Tapeten mit einem Muster, das vielleicht vor zwanzig Jahren oder mehr modern gewesen sein mußte, in Fetzen hinunter. Unterhalb des Fensters hatte sich eine schmierige Pfütze auf dem nackten Estrich gebildet. Der Wind wehte regenfeuchte Luft herein. Alles war klamm und roch modrig. Mitten im ansonsten leeren Raum stand ein altes Messingbettgestell. Auf dem stockfleckigen Lattenrost lag die Tote nackt auf dem Rücken, mit Armen und Beinen mittels roter Wäscheleine an die Eckpfosten festgebunden, die leblos blickenden Augen zur Decke gerichtet, um den Hals einen verknoteten rosafarbenen leicht verschossenen Seidenschal.
Eva, Lars und Schröder blieben andächtig im Türrahmen stehen, als befänden sie sich vor einer Aufgebahrten in einer Kapelle.
Eva zitterte leicht, ihr war unbehaglich und sie fröstelte. Sie versuchte die Tote mit beruflicher Gelassenheit zu betrachten und sich nach Anhaltspunkten umzusehen, die für ihre Ermittlungen wichtig sein könnten.
Die Frau schien in den frühen Vierzigern zu sein, mittelgroß, mit einem Körper, der ohne weiteres als schön bezeichnet werden konnte, das Geschlecht haarlos, das auf Eva wie eine klaffende Wunde wirkte, als hätte jemand in Raserei mit einem großen scharfen Messer eine Öffnung in diesen Körper geschnitten. So weit Eva das von ihrem Platz aus sehen konnte, hatte die Tote zu Lebzeiten auf ihren Körper geachtet; Füße und Hände waren sehr gepflegt. Nur die Wimperntusche und der Lippenstift waren sichtbar verschmiert und gaben ihrem totenblassen Gesicht etwas Clowneskes.
»Für mich sieht das aus, als wäre etwas gehörig schiefgegangen«, war Schröder der erste von ihnen, der etwas sagte. Er sprach leise, als könnte allzu lautes Sprechen die Tote aus dem Schlaf der Ewigkeit wecken. »Es scheint wahrscheinlich, daß die Frau sich freiwillig hat fesseln lassen. Ihr Körper scheint äußerlich keine Spuren von Gewalteinwirkung aufzuweisen, die auf das Gegenteil schließen lassen, sieht man vom Schal um den Hals ab. So weit man das auf den ersten Blick überhaupt beurteilen kann.«
Wie kann so etwas nur passieren? Wie kann man nur so offenkundig leichtsinnig sein, durchfuhr es Eva verständnislos, die sich bereitwillig Schröders Vermutung anschloß.
»Verwunderlich ist nur, daß sie hier liegengelassen wurde. Normalerweise ruft der andere Beteiligte in solchen Fällen den Notarzt«, sagte Schröder nachdenklich.
»Panik?« vermutete Lars.
»Man steckt nicht drin«, meinte Schröder achselzuckend.
Er war bereits zu lange in dem Beruf, um sich noch großartigen Mutmaßungen hinzugeben, bevor ausreichend Anhaltspunkte vorhanden waren.
»Man sollte annehmen, daß Menschen in ihrem Alter sich verantwortungsvoller benehmen«, sagte Eva verständnislos, die sogleich die Naivität ihrer Aussage erkannte und sich am liebsten zur Strafe auf die Zunge gebissen hätte.
»Ach, in unserem Beruf bekommt man soviel zu sehen«, meinte Schröder ein wenig väterlich.
»Wer mag die Tote sein?« sagte Eva mehr zu sich selbst.
»Meines Erachtens jemand besser Gestelltes«, mutmaßte Lars.
Von unten hallten die Schritte der Kollegen von der Spurensicherung herauf. Innerhalb weniger Minuten war das Haus dermaßen von Geschäftigkeit erfüllt wie schon lange nicht mehr. Eva, Schröder und Lars gingen wieder nach unten. Viel konnten sie hier nicht ausrichten.
Kaum am Fuß der Treppe angekommen, mußte Eva mit plötzlich aufsteigender Übelkeit kämpfen. Ihr trat der kalte Schweiß aus, die Knie wurden ihr weich, vor ihren Augen flimmerte es, in ihren Ohren rauschte es. Die Stimmen der Kollegen schienen von weither zu kommen. Sie fürchtete gleich zusammenzubrechen. Mit zitternden Knien tastete sie sich nach draußen, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand neben dem Eingang und atmete tief die regenfeuchte erdig riechende Morgenluft ein.
Hoffentlich sackt mir nicht der Kreislauf weg. Nicht hier, nicht vor den Kollegen, dachte Eva, die das Gefühl hatte, Horden von Ameisen krabbelten durch ihre Venen. Ihr Herz raste.
Langsam wurde es besser, das Flimmern vor den Augen verschwand. Eva konnte wieder klarer sehen. Das Rauschen in ihren Ohren wurde schwächer, die Umweltgeräusche drangen wieder lauter zu ihr. Aber das Schwindelgefühl wollte nur zögerlich weichen. Ihr war kalt.
Im gleichen Maß wie ihr Zustand sich besserte, wurde Eva sich des Auslösers für diesen Anfall bewußt. Es war ohne jede Vorwarnung über sie hereingebrochen; für einen Moment hatte sie sich dort auf dem Bett liegen gesehen; nackt, gefesselt und tot. Es war die Assoziation einer klaffenden Wunde mit dem Geschlecht der Toten, die alles noch verstärkt hatte.
Das letzte Mal war Eva etwas Vergleichbares vor zwei Jahren bei der bereits in Verwesung übergegangen Leiche eines Selbstmörders widerfahren. Aber da war ihr lediglich schlecht geworden. Sie hatte sich übergeben müssen, weil sie zuvor etwas gegessen hatte, und der Gestank in der kleinen alten Wohnung nicht auszuhalten gewesen war. Es war mitten im heißesten Sommer gewesen. Unzählige Fliegen hatten sich in dem Zimmer befunden. Obwohl die Fenster geschlossen waren, war alles voller Insekten gewesen. Doch war nicht nur ihr allein schlecht geworden. Aber der Körper der Toten oben zeigte noch keine Spuren äußerlicher Zersetzung.
»Geht es dir gut, Eva«, hörte sie Lars ehrlich besorgt neben sich sagen. »Du bist weiß wie eine Wand.«
Lars fühlte sich an den Herzanfall seines Schwiegervaters während einer Familienfeier vor zwei Jahren erinnert, die zum Glück glimpflich verlaufen war. Aber Eva war eigentlich noch zu jung für einen Herzanfall, wie er sich sogleich ein wenig beruhigte.
Eva wischte sich mit einer fahrigen Geste über die Stirn. Sie war tatsächlich naß vom Schweiß, der sich ölig anfühlte. Ihr wurde bewußt, daß Lars sie das mindestens einmal bereits gefragt hatte.
»Ja, es geht wieder. Ich hätte heute früh besser etwas essen sollen«, entschuldigte sie sich.
Lars wußte, daß das eine Notlüge war. Eva hatte wie jeden Morgen ausreichend gefrühstückt. Aber sie wollte Lars nicht mit einer Vision ihrer Ängste belästigen. Nein, das, was sie gerade überwunden hatte, war kein Übelkeitsanfall, sondern eindeutig eine Panikattake gewesen. So etwas hatte sie noch nie gehabt. Das war ihr nicht einmal vor Jahren passiert, als sie sich tatsächlich in einer äußerst gefährlichen Situation befunden hatte und sich später nur wundern konnte, daß sie unversehrt dort heraus gekommen war.
Lars akzeptierte die Entschuldigung, obwohl er erkannt hatte, daß nicht Übelkeit allein Schuld für den gegenwärtigen Zustand seiner Kollegin war.
»Die haben mit ihren lkws ganze Arbeit geleistet«, bemerkte Eva mit noch leicht unsicherer Stimme und wies auf den zerfurchten Boden vor ihnen, »hier draußen lassen sich jedenfalls keine Spuren mehr feststellen.«
»Was erwartest du auch bei dem Wetter«, schien Lars das nicht weiter zu bekümmern.
Sie gingen wieder ins Haus zurück, Eva noch etwas wacklig auf den Beinen.
»Wie lange mag sie schon da oben liegen?« dachte Eva laut.
Sie war zwar noch ein wenig bleich um die Nase, fühlte sich jedoch wieder sicherer auf den Beinen.
Schröder, der in ihrer Nähe stand und mit seinem Kollegen mit der vorläufigen Befragung der vier Arbeiter, die nun interessiert dem Treiben im Haus zusahen, zum Ende gekommen war, glaubte die Frage als an sich gerichtet und antwortete:
»Keinesfalls vor Freitagnachmittag. Denn Freitagmittag hatten die Arbeiter noch einen letzten Rundgang durchs Haus gemacht.«
»Was ist mit dem Bettgestell?« fragte Eva.
»Das kann ebenfalls frühestens Freitagnachmittag ins Haus geschafft worden sein. Die befragten Zeugen bestätigen übereinstimmend, daß das Haus leer war, als sie es Freitagmittag verließen.«
»Bestätigt nur die Vermutung, daß hier etwas radikal anders verlief als beabsichtigt«, meinte Lars.
In diesem Moment hörten sie draußen den Leichenwagen vorfahren. Fast zeitgleich kam die Gerichtsmedizinerin die Treppe herunter; eine mittelgroße, blasse, aber nicht uninteressante Blondine Mitte Vierzig.
»Für mich sieht es nach einem außer Kontrolle geratenen Atemreduktionsspiel aus«, meinte sie lakonisch zu Eva und Lars. »Da scheinen zwei so gut wie alles falsch gemacht zu haben, was man in einer solchen Situation nur falsch machen kann. Genaueres kann ich erst nach der Obduktion sagen, aber das ist ja für Sie nichts Neues. Nichts gegen Sex an ungewöhnlichen Orten, aber ich kann mir etwas Schöneres als dieses schäbige Abbruchhaus vorstellen, auch wenn alles so verlaufen wäre, wie es gedacht gewesen war.«
»Sie gehen demnach von einem Unfall aus«, fragte Eva nicht sonderlich überrascht.
»Zumindest sieht es so aus, als hätte die Frau sich freiwillig fesseln lassen. Nichts deutet auf einen Kampf hin. Ihr Körper weist keinerlei sichtbare frische Verletzungen auf. Aber das kann man erst nach der Obduktion zweifelsfrei sagen. Schade, eigentlich eine schöne Frau. – Sobald ich Näheres weiß, informiere ich Sie. – Sie sehen blaß aus, Frau Gerbroth. Ich hoffe, das liegt lediglich an der Toten dort oben.«
Eva schüttelte leicht den Kopf.
»Ja, vermutlich weil ich schlecht geschlafen habe und heute morgen nur eine Tasse Kaffee hatte.«
»Es klingt zwar nach Binsenweisheit, aber ein gutes Frühstück ist wichtig. Darüber hinaus alles bei Ihnen in Ordnung? Der Kreislauf?« meinte die Gerichtsmedizinerin mit einem Unterton, der keinen Zweifel daran ließ, worin sie in erster Linie die Ursache für Evas Verfassung sah.
»Ja, und ich bin auch nicht trächtig«, fügte Eva etwas hitzig hinzu.
Wie sollte ich auch, schließlich habe ich seit bald zwei Monaten mit keinem Mann mehr gevögelt, seufzte Eva innerlich.
Die Gerichtsmedizinerin zuckte gleichgültig mit den Achseln und verließ Lars und Eva mit einem knappen Gruß.
Kurz darauf kamen die Träger mit der Bahre.
»Für uns gibt es hier im Augenblick wohl nichts mehr zu tun«, meinte Lars, der froh war, von hier wegzukommen. »Komm, Eva, ich lade dich zu einem Kaffee und einem Brötchen ein. Nachher kippst du mir von Neuem um«, fügte er fürsorglich hinzu.
»Danke, Lars, aber fahre schon einmal ins Präsidium«, lehnte Eva sein Angebot mit einem verunglückten Lächeln an. »Ich muß jetzt etwas für mich allein sein.«
»Wie du meinst«, sagte Lars von einem Achselzucken begleitet.
Er hatte es nur gut gemeint. Aber schließlich war Eva alt genug, um zu wissen, was sie tat.

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