Kurzes #74 – Zwölf erotische Aquarelle

von
Armin A. Alexander

Erst als er den großen grauen rückseitig mit Karton verstärkten Umschlag nebst der übrigen Post auf seinen Schreibtisch legte, sah er, daß er nicht mit der regulären Post gekommen sein konnte, da nur sein Name in einer ihm unbekannten Handschrift darauf stand, was verständlicherweise seine Neugierde weckte. Er schnitt ihn auf. Er enthielt lediglich ein Blatt rauhes Aquarellpapier.

Es war ausgezeichnet und mit großer Liebe zum Detail gearbeitet. Es zeigte eine große Frau mit einem ausgeprägt femininen, nahezu perfekten Körper und taillenlangen, dichten dunklen Haaren. Sie stand leicht nach links gewandt im Kontrapost. Sie hielt ein großes beiges flauschiges Handtuch vor dem Bauch, den Blick leicht nach unten gerichtet, das Gesicht vollständig von den Haaren bedeckt. Im Gegensatz zur Detailverliebtheit, mit der sie dargestellt war, war der sie umgebende von warmem Licht durchflutete Raum lediglich mit zwei, drei Strichen angedeutet, die aber genügten, um ein Bad erkennen zu lassen.

Er wendete das Blatt mehrmals, doch es fand sich nicht die kleinste Spur einer Signatur.

Er setzte sich an den Schreibtisch und nahm das Blatt nun mit Hilfe einer Lupe näher in Augenschein.

Die Arbeit strahlte eine besondere Erotik aus. Es bestand kaum ein Zweifel, daß es sich um ein Selbstportrait handelte. Diese Liebe zum Detail war Eigenliebe im positiven Sinne. Sie hatte nichts an sich beschönigt. Der auf den ersten Blick perfekte Körper hatte seine kleinen angenehmen Fehler. Ihre Brüste beispielsweise – sie fielen schon deshalb ins Auge, weil sie das Handtuch mit der Rechten dicht unter ihnen festhielt – waren keine ebenmäßigen Halbkugeln, sondern gaben unübersehbar der Schwerkraft nach, doch ohne den Eindruck des Hängens zu vermitteln. Die linke zierte außen ein kleines ovales Muttermal. Der Warzenvorhof war relativ groß und dunkel. Die Finger waren schlank und unberingt, mit halblangen, in einem blassen Rot lackierten Nägeln. Mit der Linken hielt sie das Handtuch knapp über dem Schoß fest. Es fiel in weiche Falten zwischen ihren langen Beinen, deren Schenkel muskulös waren, die Waden angenehm gerundet und die Fesseln schmal. Die Füße kamen dem klassisch-griechischen Ideal sehr nahe.

Obwohl sie auf den ersten Blick den eigenen Körper nach einem erfrischenden Bad selbstverliebt abtrocknete, posierte sie unübersehbar für einen Betrachter. Und nicht für irgendeinen zufälligen, sondern für einen ganz bestimmten.

Er stellte das Blatt vor den Monitor seines Computers und lehnte sich zurück.

Wer mochte ihm dieses kleine Meisterwerk geschickt haben? Und vor allem, aus welchem Grund heraus?

Die Antwort hatte er sich bereits gegeben, wenn sich sein Hang zur Skepsis auch weigerte, es ohne Widerspruch zu akzeptieren. Die Beantwortung der ersten Frage war da weitaus schwieriger.

Zuerst dachte er an einen seiner Künstlerfreunde und -kollegen. Was er jedoch schnell wieder verwarf.

Zuerst einmal fielen alle Männer heraus. Selbst wenn es kein Selbstportrait wäre, würde kein Mann einen Frauenakt so darstellen, selbst wann man unterstellte, das es keine typisch geschlechtliche Sicht auf den menschlichen Körper gibt. Zum anderen ließ es sich stilistisch niemandem zuordnen – wenn es auch die meisten seiner Künstlerfreunde und -kollegen von der technischen Seite ohne weiteres hinbekommen hätten, das einzig wirklich nicht unumstößliche Argument. Und drittens mußten seiner Intuition nach Urheberin und Abgebildete identisch sein. Womit alle ihm bekannten Künstlerinnen gleichfalls ausschieden. Keine von ihnen besaß taillenlanges dunkles Haar. Die einzige, die langes Haar besaß, war blond und zierlicher als die Abgebildete. Von der Figur her kamen allenfalls zwei in Frage, wenn er auch keine von ihnen bisher nackt gesehen hatte.

Wie dem auch sei, diese Argumentationsliste ließe sich noch um einiges verlängern, ohne daß ihm jemand einfiel, die mit der abgebildeten Schönen identisch wäre.

Es war das Selbstbildnis einer unbekannten Verehrerin, was einerseits seiner Eitelkeit schmeichelte, ihn andererseits beunruhigte, da er keine Vorstellung bezüglich der weiteren Entwicklung besaß.

Er nahm sich den Umschlag erneut vor. Vielleicht hatte er ja was übersehen. Er stellte ihn auf den Kopf, schüttelte ihn, aber es kam nichts weiter zum Vorschein.

Obwohl er sich das Blatt bereits mehr als aufmerksam angesehen hatte, nahm er es mir erneut mit der Lupe vor, mit dem gleichen Ergebnis wie zuvor.

Zu guter Letzt befestigte er das Aquarell mit einem tiefen Seufzer der Kapitulation an der Magnetleiste über dem Ruhesofa. Vielleicht würde ihm seine fortwährende Gegenwart eine Eingebung bringen. Diesen Gefallen tat es ihm natürlich nicht.

Mehrmals am Tag verirrte sich sein Blick zu dem Aquarell, die Faszination stieg, zugleich auch die Ratlosigkeit.

Zwei Tage nach dem ersten Umschlag erhielt er einen zweiten. Er war alles andere als überrascht. Im Stillen hatte er damit gerechnet. Die übrige Post warf er achtlos auf den Schreibtisch und öffnete den Umschlag mit leicht fahrigen Fingern.

Er enthielt wieder nur ein Blatt desselben Aquarellpapiers.

Diesmal saß sie im selben Licht auf dem Rand einer Wanne und cremte sich ein. Sie wandte dem Betrachter stärker als auf dem ersten Blatt das Profil zu. Das rechte Bein war angewinkelt, das linke hing fast entspannt herunter. In der Linken hielt sie einen halb durchsichtigen, blauschimmernden fast vollen Flakon, mit der Rechten verteilte sie die Lotion über ihr rechtes Bein. Ihr Bauch warf sich in leichte, aber nicht unschöne, durchaus sinnliche Falten. Und wieder verdeckte das dichte Haar das Gesicht.

Das Blatt war so schön und so sinnlich wie das erste, ja er stellte sogar eine leichte Steigerung fest. Er betrachtete es mit derselben Aufmerksamkeit wie das erste, entdeckte aber ebensowenig wie an diesem einen Hinweis auf die Urheberin.

Er hängte das Blatt zu dem ersten, betrachtete sie zusammen und blieb ratlos. Sicher war nur, daß andere folgen würden und er nur vage spekulieren konnte, was sie zeigten.

Am nächsten Morgen und an den Tagen darauf über etwas mehr als eine Woche hinweg fand er in seinem Briefkasten jeweils einen Umschlag mit einem Aquarell, manchmal auch mit zweien darin. Am Ende blickten ihm zwölf Aquarelle in zwei Reihen von der Wand entgegen. Auf keinem der Blätter war der kleinste Hinweis auf die Urheberin zu entdecken. Ihre Identität lag immer noch im Dunkel.

Aus der Badezimmerszene wurde beim dritten Blatt eine Ankleideszene, begleitet von einem Wechsel des Raumes bei gleicher Lichtstimmung, die wesentlich zu der besonderen Atmosphäre beitrug, die allen Blättern gemein war. Sie hüllte darauf den Körper in ein leichtes, kurzes tailliertes Gewand aus halbdurchsichtigem Stoff, unter dem der dunkle Warzenvorhof ihrer Brüste mehr als nur angedeutet sichtbar wurde. Dieses Gewand trug sie auf allen weiteren Blättern, wohl wissend, daß ein geschickt mit einem Hauch von Stoff bekleideter Körper betörender wirkte als ein nackter. Nebenbei zeigte sie, daß sie intensiv den Faltenwurf verschiedener Stoff studiert hatte.

Aus der Ankleideszene wurde eine Ruheszene auf einem breiten, wiederum nur mit wenigen Strichen angedeutetem Bett. Sie saß, an das Kopfteil gelehnt, ein Kissen im Rücken, das linke Bein ausgestreckt, das rechte angewinkelt, den Blick vom Betrachter abgewendet. Obwohl er ihr Gesicht durch das es verdeckende Haar nicht sah, besaß ihr Blick etwas eindeutig in Erwartung versunkenes. Die Haltung der Finger ihrer Rechten ließ erkennen, daß sie sich zuvor entweder selbst gestreichelt hatte und jetzt innehielt oder jeden Augenblick damit begann. Die Linke ruhte auf vergleichbare Weise zwischen ihren Brüsten, zu denen sich sein Blick immer wieder hingezogen fühlte, dabei gab es vieles an ihr, das die gleiche Aufmerksamkeit verdiente.

Das nächste Blatt unterschied sich nur in Details vom vorhergehenden. Lediglich ihre Körperhaltung hatte sich leicht verändert, aber doch so eindeutig, daß kein Zweifel daran bestand, daß sie onaniert hatte. Die Intimität der Blätter steigerte sich.

Auf dem nächsten Blatt, an diesem Tag waren zum ersten Mal zwei im Umschlag, war sie nicht mehr allein und ließen nichts mehr an Deutlichkeit zu wünschen übrig. Der Mann war wie die Umgebung nur angedeutet, wenn auch nicht ganz so sparsam. Ausgearbeitet waren lediglich die Partien, die für die jeweilige Szene, in denen sie ohne Ausnahme den aktiven Teil übernahm, wichtig waren. Die Blätter zeigten verschiedene Liebesstellungen in einer Deutlichkeit, die nicht einmal die Photographie erreichen kann. Und doch waren sie in keiner Weise obszön und pornographisch im gewöhnlichen Sinn. Man konnte beim Betrachten ihre Lust, ihr gegenseitiges Begehren füreinander, sogar ihren Orgasmus nachempfinden. Es gelang ihr mit diesen Blättern das eigentlich Unmögliche; Empfindungen, Leidenschaften zu visualisieren, so daß ein Dritter sie nachvollziehen konnte, als wären es seine eigenen.

Trotz ihres Naturalismus war allen Blättern etwas Traumhaftes gemein.

Es war beinahe eine logische Folge, daß die dargestellten Szenen ihn bis in die Träume hinein verfolgten. In diesen sah er die dargestellten Szenen abwechselnd als Zuschauer und als Beteiligter, letzteres immer häufiger. So oft er es auch versuchte, es gelang ihm nie, ihr die Haare vom Gesicht zu entfernen. Über die Enttäuschung dieser vergeblichen Versuche erwachte er jedesmal in reichlich konfuser und ein wenig gedrückter Stimmung. An sich waren es ja keine Alpträume. Mehr als einmal hatte er dabei das Gefühl, kurz vor einem herrlichen Orgasmus zu stehen, ausgelöst von einer der wunderbarsten und begehrenswertesten Frau, die ihm jemals in seinem Leben begegnet war. Ohne diese Schöne jemals gesehen zu haben, begehrte er sie derart, daß es ihm nur noch unzureichend gelang, mich auf eine vernünftige Arbeit zu konzentrieren. Zugleich wurde er immer ratloser. Was sollte eine Verführung, wenn der zu Verführende nicht wußte, wer ihn verführte und ob das Ziel eine Realisation des Gezeigten war. Irgendwie mußte es weitergehen. Es mußte eine Auflösung geben!

Daran klammerte er sich, umso mehr, weil von einem Tag auf den anderen keine weiteren Blätter mehr ankamen.

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