Kurzes #95 – Der Einzug

von
Armin A. Alexander

Der Möbelwagen fuhr langsam über den an vielen Stellen löchrigen Asphalt der schmalen Zufahrtsstraße, die ein Stück weit hinter dem Haus in einen befestigten Feldweg überging. An der Einmündung hielt er für einen Moment an, um dann behutsam die enge Kurve zu nehmen. Nachdem der LKW seinen Blicken entschwunden war, trat er durch das leise quietschende, von Patina überzogene schmiedeeiserne Gartentor, das er noch würde ölen müssen, auf den schmalen schiefen Plattenweg, in dessen Fugen Moos und Gräser wuchsen, und ging auf das Haus zu.

Er war froh, daß es trotz der Größe des Grundstücks so nah an der Straße lag. Dadurch wurde der rückwärtige, durch seine leichte Verwilderung einen besonderen Charme ausstrahlende Garten fast zu einem Park, in dem große alte Bäume reichlich Schatten spendeten. Das Haus selbst war zweigeschossig, irgendwann um die letzte Jahrhundertwende erbaut und erst vor wenigen Jahren modernisiert worden. An der dem Ort abgewandten und der gegenüberliegenden Seite schlossen sich Wiesen und Felder an, stellenweise von Hainen durchzogen. An die andere Seite grenzte eine gepflegte größere Villa, nur wenig älter als sein Haus. Sie war um ein gutes Stück zurückgebaut und verlief nicht parallel zur Straße, so daß ein Teil des seitlich liegenden Eingangs und die gesamte Terrassenseite, die vor allem im Obergeschoß von großen bis zum Boden reichenden Fenstern beherrscht wurde, von seinem Haus eingesehen werden konnte. Diese Seite war exakt nach Süden ausgerichtet, während sein Haus leicht nach Südwesten zeigte.

Er schloß die massive eichene Haustür, die leicht in den Angeln lief, hinter sich. Alle Möbel befanden sich an ihrem Platz. Jetzt hieß es ›nur‹ noch die Umzugskartons auszuräumen – was bei einem Umzug bekanntlich die eigentliche Arbeit bedeutet.

»Ich mache uns erst mal Tee«, rief ihm Saskia aus dem Wohnzimmer zu, kaum daß die Haustür ins Schloß gefallen war.

Sie hatte sich bereit erklärt, ihm beim Einzug zu helfen. Neben Marius, dem Freund seit der gemeinsamen Schulzeit, war sie sein ältester und bester Freund und rund drei Jahre älter. Sie war wie er Einzelkind. Ihre Eltern waren bereits miteinander befreundet, als beide noch klein waren. Als Kinder waren, hatte sie sich ihm gegenüber mehr wie eine ältere Schwester gefühlt – in dem Alter bilden drei Jahre einen spürbaren Unterschied – außerdem hatte sie sich immer einen kleinen Bruder gewünscht. Sie erhielt oft Gelegenheit, sich ihm gegenüber wie eine große Schwester zu geben. Er war ihr stets ›anvertraut‹ worden, unternahmen ihre Eltern etwas ohne den Nachwuchs. Ihm war es alles andere als unangenehm gewesen. So wie sie sich einen kleinen Bruder hatte er sich eine große Schwester gewünscht. Sie hatte sich ihm gegenüber stets verhalten, wie ein Junge im Alter von zehn, elf Jahren sich eine große Schwester wünscht. Erst während eines gemeinsamen Urlaubs ihrer Eltern, es war zugleich der letzte, an dem sie mit ihren Eltern verreiste, verlor ihre Beziehung fast schlagartig alles Geschwisterliche, wenngleich erste Anzeichen schon vorher vorhanden gewesen waren. Er war damals vierzehn, sie bereits siebzehn gewesen. Da ihre Eltern sie fast gänzlich sich selbst überließen, verbrachten sie die Zeit gemeinsam, saßen oft, während die Eltern bereits schliefen, auf der kleinen Terrasse des gemieteten Ferienhauses bis tief in die Nacht zusammen, genossen das mediterrane Klima und unterhielten sich auf diese tiefsinnige Weise, wie man es nur in diesem besonderen Alter kann, wo man noch genügend gesunde Naivität und Enthusiasmus besitzt, auch existentielle Fragen unbekümmert anzugehen. Gingen sie gemeinsam, sich nicht mehr wirklich geschwisterlich an den Händen haltend durch den kleinen Ort, tuschelten vor allem die Jungen seines Alters hinter ihnen her. Ihre Mimik, ihre Haltung war eindeutig; sie hielten sie für ein Liebespaar. Ihn erfüllte es mit Stolz, daß sie diese bildhübsche, ein wenig kräftige Siebzehnjährige für seine Freundin hielten, wenngleich er sich keine Illusionen darüber machte, daß es nur ein Gedanke war, schließlich war sie spürbar älter und im Gegensatz zu ihm nicht mehr unerfahren. Sie hatte schon ihren ersten Trennungsschmerz hinter sich. Kurz vor Ostern hatte sie von ihrem ersten Freund getrennt, mit dem sie fast zwei Jahre zusammengewesen war. Sie amüsierte sich anfänglich scheinbar über das Gebaren der anderen. Vielleicht war es zuerst wirklich nur als leichte Provokation gedacht, den Jungen einen konkreten Anlaß zum Tuscheln zu geben, als sie ihn am dritten Tag, während sie dieser Gruppe erneut begegneten, keck fragte: »Wollen wir denen mal einen Grund zum Starren geben?« Sie wartete seine Zustimmung nicht ab, sondern küßte ihn und schob ihm sogleich die Zunge tief in den Mund. Er war mindestens ebenso verdattert wie die Jungen, die sie mit offenen Mündern anstarrten. Trotz ihrer Spekulationen waren sie in Wahrheit doch für Geschwister gehalten worden. Sein erster Zungenkuß dauerte nicht lange, was auch gar nicht von ihr beabsichtigt war. Die Jungen ignorierend gingen sie weiter. Ohne sich dessen zuerst recht bewußt zu sein, hielten sie die Hand des anderen auf eine nicht mehr geschwisterliche Weise.

An diesem Nachmittag wurden ihre Gespräche auf eine besondere Weise einsilbiger. Beide befanden sich in einer wohlig verzauberten Stimmung, die das Gefühl vermittelt, alles sei in rosa Watte eingepackt und von einem warmen Licht durchdrungen.

Nachdem die Eltern sich zu Bett begeben hatten, saßen sie wie gewohnt allein auf der Terrasse. In seiner Erinnerung war es eine besonders schöne, warme Nacht. Sie küßte ihn erneut, diesmal länger und intensiver. Mit leicht geröteten Wangen fragte sie ihn leise, mit einem leichten Zittern in der Stimme, als befürchtete sie, er könne ablehnend reagieren, ob er mit ihr bumsen möchte. Er nickte nur, er hätte ihr ohnehin nie etwas abschlagen können. Er kam beim ersten Mal recht schnell, kaum daß er in sie eingedrungen war, aber es blieb nicht bei diesen einem Mal.

Ihre Erinnerung an diesen Abend war ein wenig prosaischer. Zwar war sie sicher, daß das Getuschel der Jungen den Ausschlag für ihre Entscheidung gegeben hatte, sie hatte ihn zum ersten Mal dadurch nicht mehr als ›kleinen‹ Bruder gesehen, aber sie erinnerte sich noch gut an den Ablauf des Abends. Sie hatte ihn in der Tat geküßt, aber eher kurz und dann prosaisch, wie eine Frau, die es gewohnt ist, zu ihrem Sexualtrieb zu stehen, gesagt: »Laß uns nach oben gehen und bumsen.« Sie hatte seit über drei Monaten nicht mehr gevögelt und sie vermißte es sehr. Jemand, mit dem sie eine Beziehung haben wollte, war bisher nicht in ihren Gesichtskreis geraten. Er stand sozusagen zur ›Verfügung‹ und würde mit Sicherheit kein ›Theater machen‹. Da er noch unerfahren war, konnte sie ihn für ihre Zwecke ›formen‹. Das dachte sie in erster Linie sinngemäß. Bezüglich des weiteren Verlaufs gingen sie in ihren Erinnerungen wieder konform.

Den Rest des Urlaubs vögelten sie oft miteinander und schliefen gemeinsam in einem Bett. Die Eltern ließen sie gewähren und ersparten es ihnen, sich dazu äußern zu müssen. Saskia war sicher, daß die Eltern ihr weiterhin vertrauten. Sie empfand es als sehr vorteilhaft, daß er, wie sie vermutet hatte, ohne Widerspruch nicht nur ihren ›Anweisungen‹ Folge leistete, sondern es ihn auch auf eine besondere Weise sexuell erregte. Sie lebte auf diese Weise ihre Phantasie bezüglich eines Lustknaben, der ihr jederzeit bereitwillig zur Befriedigung ihrer sexuellen Lust zur Verfügung stand, wogegen er nichts das geringste einzuwenden hatte. Sie erstaunte mitunter allenfalls ein wenig, wie oft er ohne Schwierigkeiten konnte, verfiel aber nicht auf die naheliegende Vermutung, daß sie der alleinige Grund dafür war. Mit ihrem ersten Freund hatte das nie so recht funktioniert, da er leider die Auffassung vertrat, daß doch bitte der männliche Teil eines Paares die hauptsächliche Initiative zu ergreifen hat, was sie mehrfach zur enervierten Äußerung veranlaßt hatte: »Wenn ich Lust zu ficken habe, warum soll ich dir das nicht sagen? Du scheust dich doch auch nicht zu sagen, wenn du Lust hast, mich zu ficken! Ich ficke nun einmal wahnsinnig gerne, darum sehe ich nicht ein, darauf zu warten, bis mein Freund sich dazu durchringt, den Anfang zu machen.« Da ihr Ex-Freund die Erfahrung gemacht hatte, daß sie an diesem Punkt nicht mehr mit sich reden ließ, schwieg er trotzig.

Sie hatte ihm diesbezüglich oft ihr Herz ausgeschüttet. Er hatte aufmerksam zugehört, zwar nicht gewußt, was er darauf erwidern sollte, doch war zu der Erkenntnis gelangt, daß es doch schön sei, eine Freundin zu haben, die nicht nur gerne Sex hatte, sondern es auch selbstbewußt artikulierte.

Mit dem Ende der Ferien endete auch bald die sexuelle Komponente ihrer Beziehung. Der in ihrem Alter doch noch recht große Unterschied von drei Jahren, der unterschiedliche Freundeskreis waren ausschlaggebend. Außerdem strebte sie für eine Beziehung eher einen um einige Jahre älteren Mann an.

Er machte sich nichts aus dem Ende. Er war nie von einer Beziehung ausgegangen. Er hatte den häufigen Sex mit ihr genossen und viel dabei gelernt, schließlich hatte sie ihm stets gesagt, was und wie er es machen sollte. Sie hatte manches mit ihm ausprobiert, von dem sie wußte und gehört hatte und sie mit ihrem ersten Freund nicht machen konnte. Trotz seiner Jugend war er in diesen Dingen schon reichlich eingefahren. Bei ihm dagegen war sie keinen Augenblick auf den Gedanken gekommen, er könnte ihren Wunsch unangenehm aufnehmen, schließlich hatte er bisher so gut wie alles, was sie von ihm verlangte, solange es einen bestimmten Rahmen nicht überschritt, gemacht. Aber an das wirkliche Überschreiten von Grenzen dachte sie nicht, in diesem Punkt fehlte ihre jede Form von sadistischer Böswilligkeit, die Kindern und Jugendlichen oftmals eigen ist, um ihre Macht über vermeintlich schwächere auszutesten. Im Nachhinein war für sie die Erfahrung, daß es für einen Mann kein Problem war, wenn eine Frau selbstbewußt ihren Sexualtrieb lebte, prägend für sie. Sie ließ sich nie mehr auf einen Kompromiß diesbezüglich ein. Einige Jahre später, beide befanden sich mitten im Studium, hatten sie noch einmal eine lebhafte, wenn auch kurze sexuelle Phase miteinander, in der sie nun offen der dominante Teil war.

Mittlerweile war sie Lehrerin für Deutsch und Philosophie an einem städtischen Gymnasium und verheiratet mit einem sympathischen Kollegen. Ihre beiden Töchter befanden sich mitten in der Pubertät und waren in so manchem ihrer Mutter erschreckend ähnlich. Es gab zwischen ihm und ihrem Mann nicht wenige charakterliche Gemeinsamkeiten. Ihr Mann hatte nicht nur nichts dagegen, daß seine Frau im Sexuellen das Heft in der Hand hielt, sondern es kam seinen Bedürfnissen entgegen. So sehr er auch in vielem seinen eigenen Kopf besaß und seiner Frau gerne in Nebensächlichkeiten widersprach, was sie mitunter ganz schön nervte, so hatte sie während ihrer Beziehung im Sexuellen nie ein ›Nein‹ oder auch nur ›Vielleicht‹ von ihm gehört. Oft konnte sie sich des Gefühls nicht erwehren, daß er ihr absichtlich widersprach, um sie herauszufordern, ihm zu zeigen, wer bei ihnen im Sexuellen das Sagen hatte.

»Also, wie ist das jetzt mit dem Tee«, riß Saskia ihn aus seinen Gedanken.

»Eine gute Idee, vorausgesetzt, wir finden die dazu nötigen Gerätschaften.«

Er lehnte im Türrahmen und sah Saskia zu, wie sie inmitten der, überwiegend noch geschlossenen Kartons stand, deren Beschriftung zwar einen ungefähren Hinweis auf den Inhalt gaben, aber das besagte bekanntermaßen nicht viel.

Sie sah selbst auch in der alten verwaschenen Jeans, dem labberigen Sweatshirt, ohne Make-up, bis auf den dunklen Lippenstift, reizvoll aus. Er konnte sich nicht erinnern, sie jemals ohne ihren Lippenstift gesehen zu haben, seit sie mit fünfzehn begonnen hatte, ihn zu benutzen. Die Farbe, ein schwer definierbarer Rotton, stand ihr gut. Mit den Jahren war sie üppiger geworden, was bei zwei Kindern und einem Beruf, der wenig mit körperlicher Bewegung zu tun hat, nicht verwunderlich war. Allerdings von einer Üppigkeit, die zum Vorteil gereichte und ihre Attraktivität und ihre ohnehin starke erotische Ausstrahlung erhöhte. Das Haar trug sie noch so lang wie mit siebzehn, jedoch meist zu einem Dutt geformt. Obwohl es schwarz war, zeigte sich noch keine eine graue Strähne darin, dabei hatte sie die vierzig schon deutlich überschritten. Sie färbte sie nicht, das wußte er.

»Tee habe ich selbst mitgebracht und der Rest ergibt sich schon«, riß ihn Saskia mit der ihr eigenen Zuversicht, die heute ein Lehrer auch braucht, erneut aus seinen Gedanken.

Teekanne, Wasserkessel und zwei Tassen waren in der Tat schnell gefunden – sie schien einen sechsten Sinn dafür zu haben, denn ihm war völlig entfallen, in welchem Karton er sie verstaut hatte, wenn er es überhaupt gewesen war und nicht sie selbst –, nur wenig später saßen sie am schmalen Küchentisch und tranken heißen Tee.

»Woran arbeitest du im Augenblick«, erkundigte sie sich interessiert, die dampfende Tasse in beiden Händen haltend.

Sie war gemeinsam mit Marius die einzige Person, mit der er grundsätzlich über seine Werke bereits während der Entstehung sprach. Er schätzte beider Urteil, da ihre Auffassung von ›guter‹ Literatur sich deutlich voneinander unterschied. Es hatte ihm schon mehr als einmal über strittige Fragen hinweggeholfen.

»An einer Erzählung, nichts Weltbewegendes eigentlich.«

»Das sagst du immer und dann liest es sich ausgezeichnet. Zeitkritische Themen allein machen noch keine große Literatur aus. Die kleinen Dinge des Lebens verdienen nicht weniger Aufmerksamkeit. – Also, was ist das Thema dieser Erzählung?«

Er mußte ein Grinsen unterdrücken. In diesem Tonfall redete sie sicher vor ihrer Klasse.

Er ging nicht weiter auf ihren ›Tadel‹ ein – zum einen hatte er ihn schon zu oft vernommen und zum anderen hatte sie im Prinzip recht –, sondern begann mit der Inhaltsbeschreibung.

»Ort der Handlung ist eines dieser alten verwinkelten Häuser, wo von der einen Wohnung aus ein Teil der Nachbarwohnung eingesehen werden kann. In eine dieser Wohnungen zieht ein junger Mann. Die Wohnung neben ihm wird von einer jungen Frau, einer Photographin bewohnt.«

»Wie ich dich kenne, sieht sie gut aus«, unterbrach Saskia ihn lachend.

»Nur kein Neid«, entrüstete er sich spielerisch. »Schließlich brauchst du dich auch nicht zu verstecken.«

»Man dankt, immerhin ist das ein Kompliment für eine Frau meines Alters«, entgegnete sie trocken.

»Bei einer Frau mit Persönlichkeit, Geist, Witz und Charme ist das Alter nebensächlich, sie faszinieren in jedem Alter.« Dabei sah er sie mit einem übertrieben schmachtenden Blick an. Zumindest versuchte er, einen solchen aufzusetzen.

»Also, weiter«, forderte sie ihn auf, seinen Blick mit ostentativer Gleichgültigkeit ignorierend, und schenkte sich Tee nach.

Da er keine andere Reaktion von ihr erwartet hatte, fuhr er, nachdem er einen Schluck aus seiner Tasse genommen hatte, fort:

»Zwei Zimmer kann er von seiner Wohnung aus einsehen; ihr kleines Studio und ihr Schlafzimmer. Sie macht überwiegend erotische Photos, hauptsächlich von Frauen, gelegentlich auch von Männern. Ihre erotischen Photos besitzen etwas Verträumtes. Nein, verträumt ist nicht das richtige Wort. Sie strahlen eine Erotik aus, die diesen Namen auch verdient. Sie fängt das erotische Potential ihrer Modelle ein. Diese Photos sind auf positive Weise unschuldig. Beim Anschauen dieser Photos spürt man, daß Erotik etwas mit gegenseitiger Hingabe, sich dem anderen öffnen zu tun hat, mit Vertrauen und auch Genuß. Daß man umso mehr zurückbekommt, je mehr man gibt. Ihr gelingt es, jede Person, die sie photographiert, erotisch begehrenswert zu machen. – Aber ich fürchte, ich schweife ab.«

»Nein, gar nicht«, Saskia schüttelte entschieden den Kopf, eine Locke fiel ihr tief ins Gesicht, die sie mit einer nachlässigen Handbewegung weg strich. »Ich weiß was du meinst. Sie photographiert ausnahmslos Frauen, die, je näher man sie kennenlernt, immer mehr faszinieren, weil sie sich mögen, wie sie sind, um ihr erotisches Potential wissen, ihren Sexualtrieb nicht verleugnen und ihn auch nicht verleugnen lassen, deren erotische Ausstrahlung sich deshalb letztlich niemand entziehen kann. – Es ist schön zu hören, daß Jugend und Schönheit nicht die Hauptsache darstellen.«

Für einen Augenblick wußte er nicht, ob sie den letzten Satz ernst oder ironisch meinte. Weder ihr Tonfall noch ihre Mimik gaben einen Hinweis darauf. Er entschied, es mit einem inneren Achselzucken zur Kenntnis zu nehmen.

»Er beginnt nicht wirklich absichtlich, sie zu beobachten. Er bemüht sich stets unauffällig zu bleiben, ja in seinem Auftreten ist fast schon etwas Schüchternes. Er wird Zeuge, wie zwischen einer der Frauen, die ihr häufiger Modell steht, eine üppige Schönheit mit Persönlichkeit, und ihr auch eine körperliche Beziehung besteht.«

»Typisch Mann«, unterbrach Saskia ihn lachend, aber es schwang kein wirklicher Vorwurf darin mit, »immer wollen sie zwei Frauen beim Liebesspiel zusehen.«

Er verzog pikiert das Gesicht, da ihm dergleichen Vulgärerotik nun wirklich fern lag.

»In dieser Hinsicht brauchst du dir keine Sorgen zu machen; sie hat ebenso Beziehungen zu Männern«, entgegnete er fast schon bissig, und sah absichtlich an ihr vorbei.

»Du willst wohl damit mehr diese ganz besondere Beziehung zwischen Modell und Künstler andeuten«, sah Saskia ein, daß Ironie im Moment nicht angebracht war. »Diese ganz eigene Form von Intimität, die sich dabei aufbauen kann. Allerdings kann es auch ganz reizvoll sein, zwei Männern beim Liebesspiel zuzusehen«, fügte sie mit einem leicht verklärten Gesichtsausdruck hinzu. Sie hatte aus ihrer Vorliebe für Schwulenpornos nie ein Geheimnis gemacht.

»Während er Gelegenheit bekommt, ihnen beim Liebesspiel zuzuschauen, beschleicht ihn zum ersten Mal das Gefühl, daß sie wissen, daß sie dabei beobachtet werden, und es ihnen nicht nur nichts auszumachen scheint, sondern es genießen, einen Zuschauer zu haben. Selbstverständlich kann er diesen Eindruck auf keine konkrete Beobachtung stützen. Dennoch wird er dieses Gefühl nicht mehr los, das sich mit der Zeit verstärkt. Es ist eines dieser Gefühle, das wie eine gesicherte Erkenntnis erscheint, das aber rational nicht begründet werden kann. Um dich zu beruhigen; er hat nicht nur Gelegenheit ihr und dieser Frau zuzusehen, sondern auch ihr und einem Mann.« Saskia ging mit keiner Miene darauf ein. »Da hat er jedoch nicht den Eindruck, daß der Mann weiß, daß sie beobachtet werden. Dafür festigt sich in ihm die Überzeugung, daß sie sich gerade beim Sex mit dem Mann für einen imaginären Zuschauer in Pose setzt.«

»Das gefällt mir schon deutlich besser«, ein breites Grinsen umspielte ihre Mundwinkel, schließlich kam es ihrem persönlichen Exhibitionismus entgegen.

»Wie dem auch sei, dieses ›Spiel‹ – nennen wir es einmal so – geht über einige Wochen. Die Handlung bezieht sich nicht auf eine externe Zeit, sondern sie besitzt nur eine interne. Alles geschieht innerhalb der Welt dieser beiden Wohnungen. Es gibt nur diese beiden Wohnungen und das Stück Hausflur, das sie verbindet, mehr nicht.«

»Das Verwischen der Grenzen zwischen Tagtraum und Realität also. Alles könnte sich so ereignet haben, aber der Leser kann nicht mit Bestimmtheit sagen, ob es nicht einzig in der Phantasie des jungen Mannes geschieht oder gar – was mir sogar wahrscheinlicher erscheinen würde – einem Tagtraum der jungen Frau entspringt.«

»Es kann auch auf diese Weise gesehen werden«, räumte er ein, diese Perspektive hatte etwas für sich, daran hatte er noch gar nicht gedacht. »Es geschieht schon innerhalb der Realitätsebene der Geschichte, die allerdings nur die beiden Wohnungen beinhaltet.«

»Die Wahrscheinlich eines Traumes ist demnach durchaus gegeben. Du sagst schließlich selbst, daß die Welt außerhalb dieser beiden Wohnungen nicht existiert. In einem Traum gibt es auch nur die Realität des Traumes und nichts anderes. Was man von der Realität, wie sie uns umgibt, nicht unbedingt sagen kann.«

Als Antwort lächelte er nur vielsagend, ihm fehlte im Augenblick die Lust, sich auf eine philosophische Grundsatzdiskussion über den Realitätsbegriff mit ihr einlassen. Sie ging aber auch von sich aus nicht weiter darauf ein.

»Selbstverständlich ist er kein gewöhnlicher Voyeur, kein verklemmter junger Mann, der sich an eine Frau nicht herantraut, aus welchen Gründen und negativen Erfahrungen heraus auch immer. Die Zeiten, zu denen er sie beobachtet, plant er ebenso wenig, es sind scheinbar zufällige Begegnungen. Um jedem möglichen Mißverständnis vorzubeugen; er bekommt, wenn auch unregelmäßig, Besuch von einer langjährigen Freundin, mit der er Sex aber keine Beziehung hat.«

»Eine Freundschaft mit Bonus also. Es schön, wenn es das gibt. Ich finde, das sollten mehr Frauen anstreben. Zumal ein Mann oftmals geeigneter als beste Freundin ist als eine Frau.«

Aus eigener Erfahrung konnte er ihr nicht einmal widersprechen.

»Ich bin sicher, daß er kein gewöhnlicher Voyeur ist, dann wäre der Reiz der Geschichte, so wie du sie erzählen willst, auch hin. Er darf ja nicht ihr Gegner, sondern muß ihr Komplize sein, es muß ein stilles Einverständnis zwischen ihnen bestehen, damit sich eine erotische Spannung zwischen ihnen aufbauen kann. Auch wenn er zuerst gar nicht weiß, daß sie ihn zu ihrem Komplizen macht.«

Er nickte, sie hatte die Grundidee erfaßt.

»Eines Tages findet er einen Umschlag nur mit seinem Namen darauf im Briefkasten, mit einem Photo und einem Zettel darin. Das Photo zeigt ihn, wie er am Fenster steht und sie beobachtet. Rechts unten ist ein Datum notiert. Es ist der Tag, an dem er sie zum ersten Mal in ihrer Wohnung beobachtet hat. Auf dem Zettel steht nur, daß er sie um eine bestimmte Uhrzeit an diesem Tag in ihrer Wohnung besuchen soll. Er ist etwas verunsichert über diese Einladung, sieht aber keine Veranlassung, ihrer Aufforderung nicht zu folgen. An ihrer lediglich angelehnten Wohnungstür hängt ein Zettel mit Aufschrift ›Bitte eintreten‹. Er geht hinein, schließt die Tür hinter sich. In der Wohnung ist es ruhig, es scheint niemand da zu sein. Er gelangt, einen kurzen Blick in verschiedene Zimmer werfend, in ihr kleines Studio. Auf dem Tisch unter dem Fenster liegen drei Stapel Photos. Die vom ersten zeigen ihn, wie er am Fenster steht, fast alle mit Datum, nahezu von allen Tagen, an denen er zu ihr hinüberschaute. Der zweite zeigt ihn beim Sex mit seiner Freundin, gleichfalls mit Datum. Also hat auch sie ihn beobachtet. Diese Erkenntnis ist ihm, nach der ersten Überraschung, alles andere als unangenehm. Der dritte Stapel erregt mehr als die beiden anderen seine Aufmerksamkeit. Auf den ersten Blick gleichen sie denen vom zweiten. Aber nur auf den ersten, auf den zweiten erkennt er, daß sie ihren Kopf per Computer auf den Körper der Frau gesetzt hat. Darüber verwirrt und geschmeichelt zugleich – denn es ist für einen Mann immer schmeichelhaft, von einer Frau begehrt zu werden –, hebt er den Blick und sieht, zumindest glaubt er es im ersten Augenblick, sie drüben in seiner Wohnung an seinem Fenster stehen und ihn beobachten. Doch erweist es sich schnell als Spiegelung, denn in Wahrheit steht sie nicht in seiner Wohnung, sondern hinter ihm. Er erkennt seinen Irrtum, dreht sich ein wenig unsicher lächelnd um, einige der Photos noch in der Hand haltend. Sie kommt auf ihn zu. – Den Rest kannst du dir ja denken.«

Saskia ließ seine Skizze auf sich wirken.

»Eine durchaus interessante Geschichte. Der vermeintliche Voyeur, der selbst zum Objekt wird und es nicht bemerkt. Nähe trotz Entfernung. Aber auch ihr Hang zum Exhibitionismus wird bedient. Ich mag es ja auch, wenn man mir beim Sex zusieht. Darin liegt für mich ja der eigentliche Reiz beim Besuch eines Swinger-Clubs. Da sie weiß, daß sie beobachtet wird, genießt sie es auch. Mit Sicherheit hat sie ihre Geliebte eingeweiht. Aber das hast du ja schon angedeutet. Das ergibt auch Sinn. Ich glaube auch nicht, daß sie einen ihrer Männer eingeweiht hat, da diese ihn, ob sie nun will oder nicht, als Konkurrenten sehen würden und sich von ihr benutzt fühlen. Dagegen dürfte sich die Verbundenheit zwischen beiden Frauen verstärken. Ich finde, daß gerade darin der Reiz deiner Geschichte liegt.«

Saskia schaute auf ihre Uhr und deutete damit an, daß sie ihr Schlußwort gesprochen hatte.

»Wir sollten beginnen, deine Sachen einzuräumen, wenn wir heute mit dem Gröbsten noch fertig werden wollen«, entschied sie.

Dem hatte er nichts entgegenzusetzen. Sie stellten die Tassen in die Spüle und machten sich an die Arbeit.

 

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