Leseprobe »Die Staatsanwältin«

von
Armin A. Alexander

 

1.

 

Unverständliches Raunen drang wie durch dichten Nebel gedämpft zu ihr. Es war ihr unmöglich zu erkennen, ob es männliche oder weibliche Stimmen waren. Ihre Gedanken liefen träge ab. Sie wußte lediglich, daß sie nicht träumte. Sie verspürte leichte Übelkeit, begleitet von einem eigenartigen Druck auf den Kopf. Ihr Körper gehorchte ihr nicht. Sie besaß keine Erinnerung, wie sie in diesen Zustand geraten war. Nach einiger Zeit verstummten die Stimmen, um unbestimmbare Zeit später erbittert streitend erneut zu ertönen. Sie fühlte jemanden in ihrer unmittelbaren Nähe, hörte leises Klirren von Glas. Allmählich beruhigten sich die Stimmen. Dann verstummten sie wieder. Kurz darauf wußte sie, daß sie allein war.

Langsam gewann sie die Kontrolle über ihren Körper zurück, dabei verstärkten sich Übelkeit und Kopfschmerzen. Die bunten Nebel, die bisher vor ihren Augen flimmerten, wurden durchsichtiger. Reflexartig berührte sie mit der Rechten die Stirn, die sich feucht und kühl anfühlte. Sie blieb liegen, die Augen geschlossen. Sie fühlte sich noch nicht in der Lage, sie zu öffnen, noch weniger sich aufzurichten. Ein pelziger Geschmack auf der Zunge und leichtes Herzrasen begleiteten Übelkeit und Kopfschmerzen.

Sie öffnete die Augen. Sie mußte blinzeln, obwohl das Licht im Raum gedämpft war. Noch erkannte sie ihre Umgebung lediglich schemenhaft. Sie richtete sich mühsam auf, wodurch sich die Übelkeit verstärkte. Sie hatte das Gefühl, auf einem schwankenden Untergrund zu sein. Für kurz stellte sich ein Brechreiz ein, den sie aber niederkämpfte, außer Magensäure würde ohnehin nichts herauskommen, das spürte sie. Sie lehnte sich zurück und schloß erneut die Augen. Als das Schwanken und die Übelkeit etwas nachließen, der pelzige Geschmack und die Kopfschmerzen verringerten sich nur unwesentlich, öffnete sie erneut die Augen. Nun sah sie ihre Umgebung klarer. Sie war in ihrer Wohnung auf der breiten bequemen beigen Designer-Ledercouch sitzend.

Allmählich kehrte die Erinnerung an die vergangenen Stunden zurück.

Sie hatte sich von Martin überreden lassen, den Abend nicht im Club zu verbringen, sondern ihn mit zu ihr zu nehmen. Er hatte eine Flasche Sekt mitgebracht. Sie konnte sich noch erinnern, wie sie Gläser aus dem Schrank holte und er die Flasche öffnete. Während er die Gläser füllte, setzte sie sich ihm betont verführerisch gegenüber auf die Couch, die langen Beine lasziv übereinandergeschlagen, die oberen Knöpfe der Bluse bis zum Taillenkorsett geöffnet, ihm ihr üppiges Dekolleté präsentierend. Sie konnte sich täuschen, aber im Nachhinein hatte sie den Eindruck, daß er auf ihre exhibitionistische Einladung mehr pflichtschuldig reagierte. Sie trank ihr Glas schnell aus. Er schenkte ihr sofort nach. Sie plauderten über Belangloses. Er unternahm alles, um den entscheidenden Moment hinauszuzögern. Seine sanfte Stimme wirkte einschläfernd auf sie. Mehrmals wollte sie ihn schon unwirsch auffordern, das Reden zu lassen und sie endlich zu ficken, wofür sie schließlich bei ihr waren, aber sie konnte ihre zunehmende Schläfrigkeit nicht mehr überwinden. Seine Stimme wurde immer undeutlicher. Die Lider wurden ihr schwer. Sie sank zur Seite. Er mußte ihr das noch halbvolle Glas aus der Hand genommen haben oder sie hatte es in einem Reflex auf den Couchtisch zurückgestellt. Dann war eine Lücke in ihrer Erinnerung, bis diese Stimmen, die sie nicht identifizieren konnte, wie durch dichten Nebel zu ihr drangen.

Die Erkenntnis durchfuhr sie, daß nicht Müdigkeit sie übermannt hatte, sondern irgend etwas im Sekt gewesen sein mußte.

Martin schien nicht mehr dazusein, zumindest nicht in diesem Zimmer. Im Augenblick dachte sie nicht weiter darüber nach. Es fiel ihr noch zu schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Die Sektflasche und die beiden Gläser standen geleert und offenbar sorgfältig gespült auf der schweren Glasplatte des Couchtischs. Nicht einmal die Spuren ihres wie gewohnt üppig aufgetragenen Lippenstifts waren mehr vorhanden. Auch darüber machte sie sich – vorerst – ebensowenig Gedanken.

Kopfschmerzen, Übelkeit und der pelzige Geschmack ließen nur wenig nach. Sie wischte sich erneut über die Stirn. Ihr Schweiß fühlte sich kalt und ölig an. Ihre Hände zitterten leicht.

Schwerfällig und leicht schwankend erhob sie sich. Sie benötigte etwas, bis ihr Kreislauf sich an den Stellungswechsel ihres Körpers gewöhnte. Leicht unsicher tastete sie sich auf Strümpfen den Flur mit halb geschlossenen Augen zum Bad am anderen Ende ihrer großen Wohnung entlang.

Dort drehte sie das kalte Wasser auf und ließ ein Zahnputzglas halb vollaufen. Sie öffnete den kleinen Schrank neben dem Spiegel, in dem sich ihre Hausapotheke befand, nahm ein Aspirin heraus und riß mit zitternden Fingern die Schutzhülle auf. Während sich die Brausetablette im Zahnputzglas auflöste, stützte sie sich auf den Rand des Waschbeckens und hielt den Blick gesenkt. Erneut mußte sie einen Brechreiz unterdrücken. Ihre Bauchmuskeln schmerzten dabei. Das Sprudeln des sich auflösenden Aspirins erschien ihr unnatürlich laut und nicht nur, weil es so still in der Wohnung war. Sie fühlte sich, als hätte sie eine wild durchzechte Nacht hinter sich, dabei sprach sie seit vielen Jahren dem Alkohol nur noch mäßig zu. Sie atmete mehrmals tief durch. Ihr Herz schlug nicht mehr ganz so schnell, doch in ihren Adern kribbelte es noch immer unangenehm.

Das Aspirin hatte sich aufgelöst. Sie leerte das Glas in einem Zug. Jetzt hieß es abwarten, bis sich die Wirkung einstellte. Derweil ließ sie kaltes Wasser über die Handgelenke laufen. Langsam beruhigte sich ihr Kreislauf, auch die Kopfschmerzen ließen spürbar nach, lediglich der pelzige Geschmack auf der Zunge blieb. Sie trank noch einen Becher Wasser und stellte es ab, da es sie nun fröstelte, und trocknete die Hände ab, die noch immer leicht zitterten. Erst beim zweiten Anlauf gelang es ihr, das Handtuch wieder aufzuhängen. Sie öffnete den Deckel vom WC, schob den Rock hoch, einen Slip trug sie nur selten, und ließ sich fast schwerfällig auf den Sitz fallen.

Während ihr Urin mit einem kräftigen Strahl in die Porzellanschüssel prasselte, versuchte sie erneut zu rekapitulieren, wie der Abend verlaufen war, seit sie mit Martin ihre Wohnung betreten hatte, was ihr weiterhin nur unzureichend gelang. Sie konnte weder sagen, ob die Stimmen nicht nur Teil eines bizarren Traums waren, und noch weniger, aus welchem Grund Martin den Sekt mit etwas versetzt hatte, das sie betäubt hatte.

Sie betätigte die Spülung. Noch immer leicht unsicher auf den Beinen verließ sie das Bad, das ihrem ›Spielzimmer‹ gegenüber lag. Es war ihr Stolz. Sie hatte es mit viel Liebe zum Detail und ohne Rücksicht auf die Kosten eingerichtet. Selbst das edelste Dominastudio der Stadt wirkte dem gegenüber bescheiden. Prunkstück war ein moderner Untersuchungsstuhl, wie ihn nicht einmal ihre Gynäkologin besaß, die an ihrer Praxisausstattung gleichfalls nicht sparte. Die Spielgeräte waren von einem erfahrenen Schreiner und einem ebensolchen Metallbauer nach ihren Entwürfen gefertigt worden. Die Bezüge der Polsterungen bestanden aus feinem weinroten Lammnappaleder. Der Boden war mit dunkel lasierten Parkettdielen belegt, wie überall in der Wohnung, nur der Boden des Bads und des WCs mit der schmalen Dusche war gefliest. In einem Regal aus Stahl und Glas lagen verschiedene SM-›Toys‹ und links neben der Tür hingen säuberlich aufgereiht an der Wand Gerten, handgeflochtene Peitschen und andere Schlaginstrumente.

Sie stand einige Augenblicke in der Badezimmertür, sich an der Zarge abstützend, bis sie begriff, was sie sah.

Vor dem in der Nähe der Tür rechts stehenden Strafbock lag auf dem Boden nackt und in gekrümmter Haltung, ihr den, mit tiefroten Striemen übersäten Rücken zugewandt, die Hände mit Handschellen aus ihrer Sammlung gefesselt und mit einem Ballknebel im Mund, der ihm im Nacken ungewöhnlich fest fixiert worden war, Martin bewegungslos.

Mit zitternden Knien, diesmal keine Folge ihrer Übelkeit, betrat sie das ›Spielzimmer‹. Unbewußt hatte sie bereits erfaßt, was sie jetzt näher in Augenschein nahm, in der schwachen Hoffnung, sich aufgrund der derzeitigen Trägheit ihres Verstandes zu täuschen. Sie beugte sich über ihn, wobei sie fast das Gleichgewicht verlor. Sie sah, daß etwas vom Erbrochenem am Knebel vorbei aus seinem Mundwinkel gelaufen war. Seine Augen schauten seelenlos ins Leere. Es war nicht der erste Tote, den sie in ihrem Leben sah, dennoch fühlte sie zum ersten Mal das Aufkommen eines Schocks darüber. Es flimmerte ihr vor den Augen. Sie hatte das Gefühl, daß ihr Kreislauf gleich schlapp machte. Sie wankte zur Tür, taste sich an der Wand entlang zum Arbeitszimmer, wo die Basisstation mit dem Handgerät stand. Sie atmete tief durch und wählte fahrig zuerst die Nummer des Rettungsdienstes und anschließend die der Kripo.

 

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