Wolfgang Borchert »Das Brot«

von
Armin A. Alexander

Interpretationen

Eine Frau erwacht von einem Geräusch in der Küche. Es ist halb drei in der Nacht. Ihr Mann liegt nicht neben ihr. Sie steht auf, geht durch die dunkle Wohnung und findet ihn in der Küche. Sie schaltet das Licht ein. Sofort fällt ihr Blick auf den mitten auf dem Tisch stehenden Brotteller. Auf der Tischdecke liegen Krümel, obwohl sie am Abend zuvor saubergemacht hat. Ihr Mann behauptet, er hätte ein Geräusch gehört und sei aufgestanden, um nachzusehen. Die Frau weiß, daß er sie belügt, denn nur er kann etwas vom Brot abgeschnitten haben. Sie weicht seinem Blick aus, da sie nicht ertragen kann, daß er sie nach neununddreißig Jahren Ehe belügt. Sie entfernt beiläufig die Krümel von der Tischdecke. Doch statt ihm zu sagen, daß er lügt, tut sie als glaube sie ihm und bringt ihn dazu, wieder mit ihr zu Bett zu gehen. Im Bett liegend hört sie, wie er das Brot ißt, das er die ganze Zeit im Mund hatte. Sie stellt sich schlafend und schläft über die vorsichtigen Kaugeräusche ihres Mannes tatsächlich ein. Am nächsten Abend gibt sie ihm vier anstelle der üblichen drei Scheiben Brot wodurch sie selbst nur zwei Scheiben zur Verfügung hat. Ihrem Mann ist das unangenehm, daß sie seinetwegen auf eine Scheibe verzichtet, aber sie versichert ihm, daß sie abends nicht mehr verträgt.

 

Wolfgang Borchert beschreibt in dieser Kurzgeschichte eine Situation, die auf den ersten Blick für den heutigen Leser nur schwer nachvollziehbar ist: Was soll daran so schlimm sein, daß ein Mann nachts Hunger bekommt, in die Küche geht, sich eine Scheibe Brot abschneidet und seine Frau deshalb eine Scheibe weniger zum Essen hat? Wenn kein Brot mehr da ist wird halt neues gekauft. Brot gehört schließlich zu den Grundnahrungsmittel, die in unseren Breiten im Überfluß vorhanden und preiswert sind. Doch zu der Zeit als Wolfgang Borchert diese Kurzgeschichte schrieb, waren Lebensmittel gleich welcher Art rationiert. Jedem stand pro Tag nur eine bestimmte Menge an Brot, Eier, Butter, Fleisch etc. zur Verfügung. Aß jemand mehr als die ihm zugedachte Menge, hatte ein anderer weniger zu essen. Brot ist zudem Symbol für (Grund-)Nahrungsmittel. Da es seit jeher das Hauptnahrungsmittel schlechthin ist. Heute in unserer Kultur nicht mehr üblich, wurde lange Zeit Brot und Salz dem Gast als Willkommensgabe gereicht, als Zeichen, daß er vorbehaltlos in die Hausgemeinschaft aufgenommen war, »das Brot miteinander zu brechen« ist eine Friedens- und Freundschaftsgeste.

Doch stellt die Frau, wie es in einer solcher Situation verständlich wäre, ihren Mann nicht zur Rede, sondern tut nicht nur so als hätte sie nicht bemerkt, daß er sich vom Brot genommen hat, sondern gibt ihm am nächsten Abend sogar einen Teil ihrer eigenen Ration ab. Beschämt und im Wissen, daß er ihr damit etwas Lebenswichtiges weg nimmt, zumal er nun weiß, daß sie am Abend zuvor sofort bemerkt hat, wie er vom Brot genommen hat, antwortet er: »[–] Du kannst doch nicht nur zwei Scheiben essen«, sagte er auf seinen Teller. [–]«. Sie beruhigt seine Vorbehalte mit der Aussage: »[–] Abends vertrag ich das Brot nicht gut. [–]«. Er muß ihre Geste akzeptieren, andernfalls würde er sie tief kränken.

Zugleich ist ihr Handeln eine Geste der Selbstlosigkeit, denn offenkundig scheint er einen größeren Bedarf an Nahrung zu haben als sie – das kann verschiedene Ursachen haben, die aber aus dem Text nicht hervorgehen und darum für Borchert auch nebensächlich gewesen sein müssen, ihm war nur die Situation an sich wichtig. Wie es auch eine Geste der Zuneigung ist, denn trotz der fast vierzig Jahre, die das Paar verheiratet ist, scheinen sie sich nicht auseinandergelebt zu haben.

Vollständiger Text

Das Brot

 

Plötzlich wachte sie auf. Es war halb drei. Sie überlegte, warum sie aufgewacht war. Ach so! In der Küche hatte jemand gegen einen Stuhl gestoßen. Sie horchte nach der Küche. Es war still. Es war zu still und als sie mit der Hand über das Bett neben sich fuhr, fand sie es leer. Das war es, was es so besonders still gemacht hatte: sein Atem fehlte. Sie stand auf und tappte durch die dunkle Wohnung zur Küche. In der Küche trafen sie sich. Die Uhr war halb drei. Sie sah etwas Weißes am Küchenschrank stehen. Sie machte Licht. Sie standen sich im Hemd gegenüber. Nachts. Um halb drei. In der Küche.

Auf dem Küchentisch stand der Brotteller. Sie sah, daß er sich Brot abgeschnitten hatte. Das Messer lag noch neben dem Teller. Und auf der Decke lagen Brotkrümel. Wenn sie abends zu Bett gingen, machte sie immer das Tischtuch sauber. Jeden Abend. Aber nun lagen Krümel auf dem Tuch. Und das Messer lag da. Sie fühlte, wie die Kälte der Fliesen langsam an ihr hochkroch. Und sie sah von dem Teller weg.

»Ich dachte, hier wär was«, sagte er und sah in der Küche umher.

»Ich habe auch was gehört«, antwortete sie und dabei fand sie, daß er nachts im Hemd doch schon recht alt aussah. So alt wie er war. Dreiundsechzig. Tagsüber sah er manchmal jünger aus. Sie sieht doch schon alt aus, dachte er, im Hemd sieht sie doch ziemlich alt aus. Aber das liegt vielleicht an den Haaren. Bei den Frauen liegt das nachts immer an den Haaren. Die machen dann auf einmal so alt.

»Du hättest Schuhe anziehen sollen. So barfuß auf den kalten Fliesen. Du erkältest dich noch.«

Sie sah ihn nicht an, weil sie nicht ertragen konnte, daß er log. Daß er log, nachdem sie neununddreißig Jahre verheiratet waren.

»Ich dachte, hier wäre was«, sagte er noch einmal und sah wieder so sinnlos von einer Ecke in die andere, »ich hörte hier was. Da dachte ich, hier wäre was.«

»Ich hab auch was gehört. Aber es war wohl nichts.« Sie stellte den Teller vom Tisch und schnippte die Krümel von der Decke.

»Nein, es war wohl nichts«, echote er unsicher.

Sie kam ihm zu Hilfe: »Komm man. Das war wohl draußen. Komm man zu Bett. Du erkältest dich noch. Auf den kalten Fliesen.«

Er sah zum Fenster hin. »Ja, das muß wohl draußen gewesen sein. Ich dachte, es wäre hier.«

Sie hob die Hand zum Lichtschalter. Ich muß das Licht jetzt ausmachen, sonst muß ich nach dem Teller sehen, dachte sie. Ich darf doch nicht nach dem Teller sehen. »Komm man«, sagte sie und machte das Licht aus, »das war wohl draußen. Die Dachrinne schlägt immer bei Wind gegen die Wand. Es war sicher die Dachrinne. Bei Wind klappert sie immer.«

Sie tappten sich beide über den dunklen Korridor zum Schlafzimmer. Ihre nackten Füße platschten auf den Fußboden.

»Wind ist ja«, meinte er. »Wind war schon die ganze Nacht.« Als sie im Bett lagen, sagte sie: »Ja, Wind war schon die ganze Nacht. Es war wohl die Dachrinne.«

»Ja, ich dachte, es wäre in der Küche. Es war wohl die Dachrinne.« Er sagte das, als ob er schon halb im Schlaf wäre.

Aber sie merkte, wie unecht seine Stimme klang, wenn er log.

»Es ist kalt«, sagte sie und gähnte leise, »ich krieche unter die Decke. Gute Nacht.«

»Nacht«, antwortete er und noch: »ja, kalt ist es schon ganz schön.«

Dann war es still. Nach vielen Minuten hörte sie, daß er leise und vorsichtig kaute. Sie atmete absichtlich tief und gleichmäßig, damit er nicht merken sollte, daß sie noch wach war. Aber sein Kauen war so regelmäßig, daß sie davon langsam einschlief.

Als er am nächsten Abend nach Hause kam, schob sie ihm vier Scheiben Brot hin. Sonst hatte er immer nur drei essen können.

»Du kannst ruhig vier essen«, sagte sie und ging von der Lampe weg. »Ich kann dieses Brot nicht so recht vertragen. Iß du man eine mehr. Ich Vertrag es nicht so gut.«

Sie sah, wie er sich tief über den Teller beugte. Er sah nicht auf. In diesem Augenblick tat er ihr leid.

»Du kannst doch nicht nur zwei Scheiben essen«, sagte er auf seinen Teller.

»Doch. Abends Vertrag ich das Brot nicht gut. Iß man. Iß man.«

Erst nach einer Weile setzte sie sich unter die Lampe an den Tisch.

 

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