Kategorie-Archiv »Literarisches«

Kurzes #57 – Der Brief

Kaffeeduft erfüllte wie jeden Morgen seit über fünf Jahrzehnten die kleine, zur Straße hinausliegende Küche im dritten Stock. Auf dem Küchentisch stand ein altmodischer Toastständer mit zwei frischen, leicht gebräunten Scheiben Toast neben einem Glas Erdbeermarmelade, einer Butterdose und einem Teller mit einem Stück Leberwurst und Holländerkäse.
Früher war die Küche um diese Zeit stets von Lärm erfüllt gewesen, schien sie zu klein für die beiden Kinder, ihren Mann und sie selbst zu sein. Wie oft hatte sie sich damals gewünscht, hin und wieder allein frühstücken zu können. Dabei liebte sie die Geschäftigkeit am Morgen, das fröhliche Lachen der Kinder, der stets halbverschlafene Zustand ihres Mannes.
Die Kinder waren größer und ruhiger geworden, waren seltener zum gemeinsamen Frühstück erschienen. Mit ihrem Auszug war es mit einem Schlag ruhiger und ihr Mann noch wortkarger als früher geworden. Sie aßen schweigend. Er las die Zeitung, bis es für ihn Zeit war, zur Arbeit zu fahren. (mehr …)

Kurzes #56 – Chambre d’Amour

Blitze zuckten. Der Donner grollte unnatürlich laut. Das Gewitter befand sich genau über dem Stadtteil. Er schaffte es gerade noch, den schützenden Hausdurchgang zu erreichen, bevor der fast schwarze Himmel seine Schleusen öffnete.

Der Regen peitschte durch die Straßen. Das Wasser konnte gar nicht so schnell abfließen, wie es von oben kam. Die auftreffenden Tropfen bildeten auf der dünnen, alles überziehenden Wasserschicht Blasen. In den Straßenrinnen hatten sich kleine reißende Bäche gebildet. Keine Menschenseele war mehr zu sehen.

Er lehnte sich mit der linken Schulter an die Wand des Durchgangs und beobachtete interessiert das Naturschauspiel. Was blieb ihm auch anderes übrig, wollte er nicht innerhalb kürzester Zeit bis auf die Haut durchnäßt werden?

Es waren nur wenige Augenblicke vergangen, als er hinter sich eine Tür gehen und das Klacken hoher Absätze auf Betonplatten hörte. Diese Melodie erfüllte ihn stets mit einem leichten, lustvoll prickelnden Gefühl. Es waren entschlossene Schritte, die sich schnell näherten. Er widerstand dem Drang, sich umzudrehen, weil er kaum mehr als Umrisse gesehen hätte, lag doch der ganze Durchgang im Dunkel.

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Kurzes #55 – Ängste

Die Angst ist ein gefährliches Raubtier, das geduldig auf den Moment lauert, in dem sein Opfer am ahnungslosesten ist, um dann gnadenlos zuzupacken.

Die Leuchtziffern des Radioweckers zeigten 2:52 Uhr. Holger versuchte sich zu erinnern, was ihn geweckt hatte. Soweit er sich entsinnen konnte, waren seine Träume reichlich konfus gewesen. Er war aus einem erwacht, der irgendeinen Bezug zu einem längst vergangenen Abschnitt seines Lebens besaß. Er wollte aufstehen, doch schien es, als drücke ihn die unsichtbare Hand eines Riesen aufs Bett. Er war nicht in der Lage, auch nur ein Glied zu regen, obwohl er nicht den Eindruck besaß, plötzlich von einer Lähmung befallen worden zu sein. Er versuchte sich gegen diesen Druck zu stemmen, denn das Gefühl, unter dem Druck der Riesenhand zu ersticken, und einer sich ihm von hinten nähernden Bedrohung nicht ausweichen zu können, wurde immer stärker. So sehr er sich jedoch auch anstrengte, der Druck der unsichtbaren Hand war stärker. Ein Anflug von Panik stieg in ihm auf, die Angst nie mehr aufstehen zu können und hilflos der sich ihm unweigerlich nähernden Gefahr ausgeliefert zu sein, wurde immer stärker. Bevor es für ihn jedoch wirklich bedrohlich zu werden begann, war er schweißgebadet erwacht.
Doch war er jetzt tatsächlich wach? Schließlich hatte er zu Beginn jenes Traumes ja auch den Eindruck gehabt, wach zu sein. Oder befand er sich lediglich in einem erneuten Traum, der nur ein weiterer in einer Reihe von Träumen war, die ineinander verschachtelt zu sein schienen, wie diese berühmten russischen Puppen?
Wenigstens wußte er, daß ihn nichts daran hindern könnte, aufzustehen.
Holger lauschte auf Geräusche. Es war ruhig im Haus. Marianne schlief. Sie lag wie üblich auf der Seite, ihm den Rücken zugewandt. Ihre Atemzüge waren ruhig und gleichmäßig. (mehr …)

Kurzes #54 – Begegnung im Café

Wohl oder übel würde Marius das letzte Stück Weg laufen müssen, wollte er nicht bis auf die Haut durchnäßt werden. Im allgemeinen mochte er den Frühlingsregen, aber nicht unbedingt, wenn er sich mittendrin und ohne Schirm befand. Diese praktische Erfindung lag wieder einmal dort, wo sie in einer solchen Situation nicht liegen sollte; bei ihm zu Hause in der Diele auf dem Schuhschrank. So konnte er ihn unterwegs zwar nirgendwo liegen lassen, doch dafür war ihm jetzt eine kostenlose Dusche sicher.

Natürlich war der Himmel bereits mit dichten grauen Wolken tief verhangen gewesen als er das Haus verlassen hatte. Zeichen genug zu überprüfen, ob man denn nun das tragbare Regendach mitgenommen hatte und wenn nicht, noch einmal bequem umkehren konnte, um es zu holen. Doch wie dem meist so ist; man vertraut naiv auf sein mehr als zweifelhaftes Glück und fordert mit dieser Gleichgültigkeit der Macht der Elemente gegenüber, diese geradezu heraus, einem zum ungezählten Male zu beweisen, daß ihre eindeutigen Vorankündigungen stets ernst zu nehmen sind.

Trotz allem war ihm das Glück doch noch ein wenig hold, denn bevor sich die Schleusen gänzlich öffneten, hatte er sein Ziel erreicht und trat durch die Eingangstür seines Stammbistros.

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Zitat des Tages #82

Selbstgefällig

Mein Büdelein
Is noch so tlein,
Is noch so dumm,
Ein ames Wum,
Muß tille liegen
In seine Wiegen
Und hat noch keine Hos’.
Ätsch, ätsch!
Und ich bin schon so goß.

Wilhelm Busch (1832–1908)

Zitat des Tages #81

Wie die Griechen das Leben blühend und heiter darstellten und zur Aussicht gaben die trübe Schattenwelt des Todes, so hingegen ist nach christlichen Begriffen das jetzige Leben trüb und schattenhaft, und erst nach dem Tod kommt das heitre Blütenleben. Das mag Trost im Unglück geben, aber taugt nicht für den plastischen Dichter. Drum ist die »Ilias« so heiter jauchzend, das Leben wird um so heiterer erfaßt, je näher unsre Abfahrt zur zweiten Schattenwelt, z.B. von Achilles.

Heinrich Heine (1797–1856)

Kurzes #53 – Begegnung im Auwald

Ein Spaziergang im Auwald bringt eine unerwartete Begegnung.

 

Im Tal war schon immer äußerst regenreich gewesen. Durch die besondere geographische Lage – das Tal war von einem Mittelgebirgszug umgeben – waren die Winter mild und trocken, die Sommer zwar nicht allzu warm, dafür die Temperaturen bereits Ende März angenehm. Erst zu Beginn des Novembers wurde es kühler, zugleich mit dem Nachlassen der Niederschläge. Diese gingen die meiste Zeit des Jahres als anhaltender Nieselregen oder ergiebiger Landregen nieder. Richtig heftige Güsse gab es, wenn überhaupt lediglich in den Sommermonaten nach eher seltenen längeren, regenfreien und sonnigen Perioden. Dichte Wälder und üppige Weiden durchzogen das Tal, nebst einem größeren Fluß und vielen kleineren Bäche. Das Tal war schon immer relativ dünn besiedelt gewesen, da die Feuchtigkeit nur bestimmte Formen der Landwirtschaft ermöglichte. Zwar waren die meistens durchweichten Ackerböden sehr fruchtbar, aber sie ließen sich nur schlecht bearbeiten.

Die überwiegend nasse Witterung machte regenfeste Kleidung unentbehrlich, weshalb die Bewohner wohl mehr Regenbekleidung aus Gummi und PVC beschichtetem Gewebe und Gummistiefel besaßen als andere Sachen. Nicht wenige hatten dazu ein fetischistisches Verhältnis entwickelt.

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