Kurzes #96 – Die ›Schöne Künstlerin‹
von
Armin A. Alexander
Die Fortsetzung von: Der Einzug
Dank Saskias tatkräftiger Hilfe ging das Auspacken und Einräumen zügiger vonstatten, als er vermutet hatte. Innerhalb weniger Tage schien es ihm, als wohne er bereits einige Jahre in diesem Haus, wozu die ländliche Ruhe ihr übriges beitrug. Nachdem er das Konzept seiner Erzählung überarbeitet und verschiedenes gestrichen hatte – nicht wenig davon beruhte auf Saskias durchaus berechtigten Einwänden –, machte er sich an den ersten Entwurf.
Das Arbeitszimmer hatte er im Eckzimmer im Obergeschoß eingerichtet. In unmittelbarer Nähe des Fensters stand eine alte riesige Buche mit weit ausladendem Geäst und üppigem Laub, die an warmen Sommertagen kühlenden Schatten auf das Haus warf. Den Schreibtisch hatte er fast vors Fenster gestellt, damit er ohne aufzustehen nach draußen sehen konnte und gerade soviel Platz gelassen, daß man halbwegs bequem ans Fenster treten konnte. Der Anblick des üppigen Gartens, in dem sich jede Phase des erwachenden Frühlings mit allen Sinnen spüren ließ, ließ seine Arbeit wie von selbst anlaufen. Er hatte stets eines der beiden Fenster geöffnet, außer es regnete, da es dann je nach Windrichtung mal mehr mal weniger hineinregnete.
In den Pausen, wenn er eine Szene in Gedanken auf ihren Gehalt prüfte, wandte sich sein Blick der gegenüberliegenden Villa zu, die auf ihn eine eigenartige Faszination ausübte. Dabei hatte sich seit seinem Einzug dort nichts ereignet, was dies irgendwie gerechtfertigt hätte. Es hatte sich niemand im Garten gezeigt, die Fensterläden waren ausnahmslos geschlossen. Fast schien es, als stünde das Haus leer. Das war jedoch nicht der Fall. Der Makler hatte nebenbei bemerkt, daß seine unmittelbaren Nachbarn ruhig seien. So wie er das Wort ›Nachbarn‹ gebraucht hatte, konnte es sich ebenso gut um eine einzelne Person wie um eine Großfamilie mit Gefolgschaft handeln. Er hatte aus einem unerfindlichen Grund nicht nachgehakt, obwohl er gerne wußte, neben wem er ein Haus erwarb.
Er ertappte sich dabei, wie er beim Hinübersehen bisweilen den Gedanken vergaß, den er eigentlich weiterverfolgen wollte.
Der andere Garten, das Grundstück war um rund ein Drittel größer, wurde durch eine niedrige, schadhafte alte Ziegelmauer von seinem Grundstück getrennt. Teile des Mauerwerks waren herausgebrochen und der grobe, nachlässig aufgebrachte Putz war an vielen Stellen großflächig abgebröckelt. Anscheinend war niemand, weder der Besitzer der Villa noch der Vorbesitzer seines Hauses, je auf die Idee gekommen, diese wenigstens notdürftig instandzusetzen. Man schien es lieber der Natur zu überlassen, eine neue, natürliche Einfriedung zu schaffen. Auf beiden Seiten wuchsen dichte, leicht verwilderte Sträucher davor und längst hatte Efeu die meisten der verbleibenden freien Stellen erobert. Das nicht allzu hohe Gras ließ die Vermutung zu, daß der oder die Bewohner erst kurz vor seinem Einzug verreist waren. Links neben der großen Terrasse lag ein großes gepflegtes Beet, in dem sauber geschnittene niedrige Ziersträucher wuchsen, die bereits kräftig ausschlugen. Eine Buche, in Alter und Größe ähnlich der vor seinem Fenster stehenden, beschattete die Terrasse während der heißen Stunden des Tages. Vom Tor aus verlief ein breiter sauberer Kiesweg zum seitlich liegenden Eingang, zu dem drei breite, nicht sehr hohe Stufen hinaufführten. Beiden Grundstücken war gemein, daß die große hintere Rasenfläche zu über zwei Dritteln von großen Bäumen beschattet wurde. Zu der Zeit, als die Häuser erbaut worden waren, hielt man noch nicht viel davon, die eigene Haut lange ungeschützt der Sonne auszusetzen.
Was mochte sich wohl hinter den großen Fenstern im Obergeschoß, die bis zum Boden reichen mußten, verbergen? Die geschwungenen Gitter davor waren eindeutig mehr als nur architektonische Zierde. Selbstverständlich kam er bei seinen Betrachtungen zu keinem Ergebnis. Er würde sich gedulden müssen, bis der oder die Bewohner wieder zurückgekehrt waren.
Zwei Wochen wohnte er jetzt hier. Die Schilderung des Einzugs seines jungen Protagonisten in dessen Wohnung hatte er fast abgeschlossen. Was nicht einfach gewesen war, denn er wollte den Leser einerseits in die besondere Stimmung der Erzählung einführen, ihm andererseits noch nicht zu viel verraten, um nicht den Eindruck zu erwecken, es handle sich eindeutig um einen Tagtraum. Doch war er überzeugt, daß ihm diese Gratwanderung geglückt war.
Es war relativ früh am Morgen. Er lag noch im Bett. Sein Schlafzimmer ging nach vorne hinaus. Er schlief nicht mehr. Er hatte sich angewöhnt, nach dem Aufwachen noch einige Zeit liegen zu bleiben, die Gedanken zu ordnen und seine Träume, sofern er sich noch an sie erinnern konnte, Revue passieren zu lassen. Daneben lauschte er gerne der morgendlichen Stille, die hier lediglich unterbrochen wurde vom Gesang der Vögel und dem Rauschen des Laubes, und allenfalls vom entfernten Brummen eines Traktors, der über die Felder fuhr und einem in der Ferne vorbeifahrendem Auto. Doch diesmal fuhr das Auto nicht an seiner Zufahrtsstraße vorbei, sondern bog in sie ein und näherte sich.
Er horchte auf, fragte sich, wer um kurz nach neun hier etwas suchte. Der Wagen bremste ab und kam vor dem Nachbargrundstück zum Stehen. Der Motor wurde jedoch nicht abgestellt. Er hörte laute kraftvolle Schritte auf dem Asphalt und das deutlich wahrnehmbare Quietschen des nachbarlichen Gartentores. Sein erster Gedanke darauf war nicht, daß sein Nachbar offenbar zurückgekommen war, sondern kurioserweise, daß er sein Gartentor noch immer nicht geölt hatte. Das Gartentor wurde vollständig geöffnet, denn er hörte eine längere Zeit das Knirschen von Schritten auf Kies. Kurze Zeit später wurde die Wagentür wieder zugeschlagen und der Wagen erneut in Bewegungen gesetzt. Der Kies knirschte unter den Reifen. Obwohl er auf seinen Nachbarn neugierig war, war er um diese Zeit noch zu träge, um aufzustehen und nachzusehen. Der Wagen hielt noch einmal. Das Motorengeräusch erstarb. Die Autotür knarrte, erneut knirschten Schritte auf Kies. Es waren stets dieselben Schritte. Ein wenig später war zweimaliges Türenschlagen mit etwas Abstand voneinander zu vernehmen, vermutlich Fahrertür und Kofferraum. Die Schritte – auf Kies war es wirklich unmöglich unbemerkt zu gehen –, klangen schwerer, wahrscheinlich trug der Ankömmling sein Gepäck zum Haus. Kurz darauf fiel die Haustür ins Schloß. Es kehrte wieder die morgendliche Ruhe ein.
Wenig später stand er auf und ging ins Bad. Noch vor einem leichten Frühstück, das den Namen kaum verdiente, morgens aß er nur wenig, hatte die Neugier schließlich den Sieg davon getragen. Er begab sich ins Arbeitszimmer und sah zur Villa hinüber.
Die Fenster auf der Terrassenseite waren geöffnet. Jetzt erkannte er auch, warum das Haus exakt nach Süden ausgerichtet war, wenngleich man früher meist die nördliche Seite dafür gewählt hatte; im Obergeschoß war ein großzügiges Atelier eingerichtet, das zudem als solches benutzt wurde. Auf einer Staffelei stand ein mit einem Tuch abgedecktes Bild. An den Wänden lehnten, mit der Bildseite zur Wand, Bilder in verschiedenen Formaten. Ein großer Zeichentisch, auf dem wohlgeordnet diverse Zeichen- und Malutensilien lagen, stand unmittelbar unter einem der Fenster. Außer dem Atelier befand sich auf dieser Etage noch ein Schlafzimmer und ein Bad. Das Schlafzimmer wurde von einem Spiegelschrank und einem filigranen Metallbett beherrscht. Durch die bis zum Boden reichenden Fenster konnte er sehen, daß keinerlei Teppiche auf dem Parkett lagen, das einen gepflegten Eindruck machte. Dagegen wies das Parkett im Atelier die unvermeidlichen Gebrauchsspuren auf, die eine derartige Raumnutzung unweigerlich nach sich zog. Über das Bett waren verschiedene Kleidungsstücke gebreitet, ob es die eines Mannes oder einer Frau waren – die Schritte hatten ihm keinen eindeutigen Hinweis geben können –, konnte er aus der Entfernung nicht beurteilen, eine große dunkelblaue, offenbar noch unausgepackte Sporttasche befand sich ebenfalls auf dem Bett. Der Bewohner schien wohl noch nicht dazu gekommen zu sein, die Sachen nach dem Auspacken wegzuräumen. Mehr als daß das Bad von einer altmodischen großen Wanne dominiert wurde und die graublauen Fliesen bis unter die Decke reichten, konnte er durch das schmale Fenster nicht sehen. Im Erdgeschoß war, so weit er das von seiner erhöhten Position aus erkennen konnte, ein großes Wohnzimmer, fast schon ein Salon, und eine Art Eßzimmer. Das Interieur in beiden Räumen war stilvoll und alles andere als überladen.
Das Klingeln des Telefons beendete vorerst seine Beobachtungen. Offenbar war es ihm noch nicht vergönnt, seinen Nachbarn zu sehen. Es war sein Verleger, der ihn fragte, ob er bei seiner Einweihungsparty vor zwei Tagen nicht sein Notizbuch bei ihm vergessen hatte. Er verneinte und sie kamen wie üblich ins Plaudern. Als er den Hörer nach fast einer Stunde wieder auflegte, blickte er noch einmal zum Haus hinüber.
Das Badezimmerfenster war geschlossen worden, die anderen waren aber weiterhin geöffnet. Die Kleidungsstücke und die Sporttasche lagen noch immer auf dem Bett. Er überlegte schon, ob er seinen Beobachtungsposten nicht aufgeben sollte, da trat eine Frau ins Schlafzimmer und ging direkt zum Fenster. Sie stützte sich auf das schmiedeeiserne Geländer, stellte die Beine leicht gekreuzt und sah in den Garten hinunter. Hätte sie zu ihm hinübergesehen, hätte sie ihn am Fenster stehen sehen können, aber sie machte keinerlei Anstalten in seine Richtung zu schauen, was ihm Gelegenheit gab, sie ungestört zu betrachten.
Sie mußte Ende dreißig sein, war relativ groß, das schwere weizenblonde Haar hatte sie im Nacken zusammengebunden, einige Strähnen hingen ihr nachlässig in der Stirn. Daß sie gut aussah, konnte er auch aus der Entfernung erkennen, und daß sie über ein üppiges Dekolleté. Er mußte schmunzeln, als ihm bewußt wurde, daß er wie viele Männer seine Aufmerksamkeit sogleich darauf lenkte, allerdings war es auch schwer, den Blick nicht darauf zu werfen. Ihr enger, knielanger blauer Lederrock betonte die etwas zu breiten Hüften und die leichte Wölbung ihres Bauches. Ihre Füße steckten in dunkelblauen hochhackigen Schuhen. Sie schien mit ihren Gedanken weit weg zu sein, stand eine ganze Weile so da, strich sich nur ab und zu gedankenverloren eine Strähne aus der Stirn, die ein leichter Windhauch dorthin geweht hatte.
Nach einem kurzen Blick in Richtung der Straße ging sie ins Zimmer zurück und begann die auf dem Bett liegenden Kleidungsstücke in den Schrank zu räumen. Als sie sich daran machte, den Inhalt der Sporttasche gleichfalls in den Schrank zu räumen, konnte er sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Es waren ausschließlich Kleidungsstücke aus Latex, soweit er das von seinem Standpunkt aus erkennen konnte, darunter zwei Ganzanzüge und drei Kleider, in diversen Blaumetallic-Tönen. Das bestätigte seine Theorie, daß Gummifetischismus im Grund relativ weit verbreitet war.
Seine Neugierde war fürs Erste gestillt. Er beobachtete sie nicht weiter, weil er fand, sie nun genug ›belästigt‹ zu haben. In jedem Fall war er angetan davon, eine attraktive Nachbarin zu haben, die zudem Fetischistin zu sein schien. Latex empfand er bei einer Frau als sehr sexy, wenngleich ihm das Material an sich auch gefiel, so besaß er keinen eigentlichen Fetisch dafür. Unter seiner Garderobe befanden sich zwar einige Stücke als Latex, die auch hin und wieder gerne trug, die er aber in erster Linie angeschafft hatte, um eine Frau auf eine Fetischparty begleiten zu können und weil er immer wieder Frauen kennenlernte, denen Latex an einem Mann gefiel.
In deutlich gehobener Stimmung setzte er sich an den Schreibtisch und setzte die Arbeit an seiner Geschichte fort.
In den folgenden Tagen saß die ›Schöne Künstlerin‹ – wie er sie bei sich nannte – fast täglich am Zeichentisch, die Atelierfenster weit geöffnet, schließlich zeigte sich der Frühling von seiner besten Seite und vermittelte einen Vorgeschmack auf den nahenden Sommer.
Im Haus schien sie ärmellose knielange körperbetont geschnittene Baumwollkleider mit großen hellbunten Blumenmustern zu bevorzugen, die nicht zuletzt, weil sie vorne durchgehend vom Saum bis zum Kragen geknöpft wurden, an Kittel erinnerten. Obwohl sie eindeutig nach praktischen Erwägungen ausgesucht waren, betonten sie ihre Silhouette aufs angenehmste. Das lange Haar trug sie meist zu einem Zopf geflochten. Sie hegte offenkundig eine Leidenschaft für hohe Absätze, denn er sah sie selbst im Haus so gut wie nie auf flachen Sohlen.
Auf einem aparten zartbestrumpften Frauenbein, über dessen Fuß ein hochhackiger Schuh gestreift war, ließ er nur zu gerne seinen Blick ruhen. Ihm gefiel ein Rocksaum auf Höhe der Waden mehr als allzu nah bei der Taille, obwohl das natürlich auch seine Reize besaß. Lediglich einen Teil ihres Beines zu sehen, die Knie bedeckt, vor allem wenn sie leger die Beine übereinandergeschlagen hatte, besaß für ihn mehr Reiz, beflügelte eher seine Phantasie. Er stellte sich dabei gerne vor, wie es weiter oben aussah, welche Säume ihre Strümpfe hatten. Zuviel zu sehen fand er auf Dauer langweilig.
Gelegentlich trug sie einen Ganzanzug aus Latex unter ihren Baumwollkleidern. Sie schien bei Ganzanzügen eine Vorliebe für Blaumetallic-Tönen zu haben, denn er sah sie nie in einem andersfarbigen. Es erstaunte ihn, wie viele verschiedene Töne es davon gab. Birgit, eine befreundete passionierteste Fetischistin, hätte ihm diesbezüglich sicherlich umfangreich Auskunft geben können. Wenn sie nicht gerade kunsthistorische Texte lektorierte, war Latex das einzige Thema, das sie interessierte und über das sie reden wollte. Nur wer sie nicht kannte, nahm ihre Aussage, ihre Wohnung sei ein begehbarer Kleiderschrank für Latexbekleidung, als übertriebene Koketterie.
Zuerst war ihm gar nicht bewußt, daß er immer häufiger zu der ›Schönen Künstlerin‹ hinübersah. Waren es anfangs nur spontane flüchtige Blicke, so sah er bald absichtlich hinüber. An den ersten beiden Tagen zögerte er noch, sein Fernglas aus der unteren Schreibtischschublade zu holen und zu benutzen. Er fürchtete, daß sie, sollte sie zufällig im gleichen Moment in seine Richtung blicken, ihn mit dem Fernglas sehen könnte. Doch war diese Befürchtung, wie er wußte, unbegründet. Obwohl die Gardine vor seinem Fenster kaum mehr als ein hauchzarter Gazeschleier war, war sie doch dicht genug, daß sie ihn, solange die Sonne nicht unmittelbar ins Zimmer schien, kaum mit bloßem Auge würde sehen können.
Am dritten Tag überwand er seine ›Skrupel‹. Es war ein starkes hochwertiges Fernglas. Er hatte es gekauft, als er vor einigen Jahren eine Zeitlang mit einer jungen Ornithologin liiert gewesen war, die er durch Birgit kennengelernt hatte und wie diese eine passionierte Gummifetischistin war – Birgit schien überhaupt nur Fetischistinnen zu kennen. Er hatte sie gerne auf ihren Beobachtungsstreifzügen begleitet.
Er sah durch das Fernglas seine Nachbarin so deutlich, als säße er ihr fast unmittelbar gegenüber. Zwar zeichnete die dünne Gardine das Bild ein wenig weich, aber das gab allem etwas romantisch Verträumtes.
An was sie arbeitete, konnte er nicht erkennen. Dafür entdeckte er, daß sie braune Augen hatte – sie hatte für den Moment aufgeschaut, doch nicht direkt zu ihm hinüber, sondern ein wenig an ihm vorbei, war mit den Gedanken ganz woanders –, und ein kleines Muttermal auf der linken Wange, ein wenig unter dem Ohr, das, trug sie ihr Haar offen, von diesem verdeckt wurde, zudem waren ihre Lippen stets in einem kräftigen Rot geschminkt. Das Bild auf der Staffelei war noch immer mit einem Tuch abgedeckt.
Jetzt, wo er seine Scheu überwunden hatte, benutzte er das Fernglas häufiger, bald regelmäßig, doch nur, wenn sie sich im Atelier aufhielt. So weit, sie im Schlafzimmer oder gar im Bad zu beobachten, war er noch nicht. Auch als sie an einem späten Nachmittag, die Sonne hatte schon einen Teil ihrer Kraft eingebüßt, nackt auf einer Liege auf der Terrasse lag, warf er nur einen verstohlenen Blick hinüber.
Einen Tag in der Woche fuhr sie mit einer großen Zeichenmappe unter dem Arm weg und kam erst am späten Abend zurück. Ihre kittelähnlichen Kleider vertauschte sie dann mit körperbetont geschnittenen Kostümen, deren Röcke wirklich sehr kurz waren und in Kombination mit hochhackigen Schuhen ihre Beine noch länger erscheinen ließen, als sie ohnehin schon waren, zudem trug sie das schöne dichte Haar offen.
Ohne es vorerst zu wissen, hatte sie einen neuen Bewunderer gewonnen. Er ›bedauerte‹ einzig die Kürze ihrer Röcke, in engen knielangen hätte sie ihm besser gefallen, wenngleich sie für sein Empfinden sehr schöne Beine besaß. Zugleich hatte er ›entdeckt‹, daß sie zu ihren kurzen Röcken Strumpfhosen ohne Zwickel trug und ohne etwas darunter. Früher hatte er Strumpfhosen als piefig empfunden, seit er aber von einer Frau über das erotische Potential von Strumpfhosen aufgeklärt worden war, die einen Fetisch dafür besaß, hatte sich seine Meinung diesbezüglich geändert.
Jeden Morgen, während er sein eher spartanisches Frühstück zu sich nahm, sah er sie durchs Küchenfenster von ihrem Morgenlauf zurückkommen. War es halbwegs warm, trug sie lediglich ein knappes enganliegendes Trikot, das gerade soviel vom Körper verdeckte, wie nötig war. Obwohl sie innerhalb weniger Augenblicke an seinem Fenster vorbei war, ohne jemals auch nur einen Blick auf sein Haus zu werfen, konnte er doch deutlich das Spiel ihrer Muskeln bewundern. Sie kehrte fast immer um die gleiche Zeit zurück. Schon bald wartete er ihre Rückkehr am Fenster stehend ab. Er fragte sich nicht nur, wohin sie ihr Morgenlauf führte, sondern vor allem wann sie mit ihm begann. Von dieser Frage bis zum Entschluß ihr einmal zu folgen, war es kein allzu großer Schritt.
Bereits an einem der nächsten Tage suchte er seine alte Sporthose und die Joggingschuhe heraus und legte sie für den nächsten Morgen bereit. Vor sich selbst rechtfertigte er es damit, daß er ruhig etwas mehr Bewegung gebrauchen könnte. Dabei ignorierte er einfach, daß er fast jeden Nachmittag seine Runde auf dem Rad zwischen den Feldern drehte.
Entgegen seiner Gewohnheit und wissend, alles andere als ein Frühaufsteher zu sein, stand er frühzeitig am nächsten Morgen und zum Laufen fertig am Küchenfenster und wartete darauf, daß sie an seinem Fenster vorbeikam. Fast eine Dreiviertelstunde stand er dort, mehrmals gähnend und mehr dem Bett als einem Langlauf zugeneigt, bevor er ihr Gartentor quietschen hörte. Kurze Zeit später lief sie fröhlich vorbei, die langen Haare im Nacken zusammengebunden. Er wartete nur wenige Augenblicke, dann verließ auch er das Haus. Als er auf der Straße stand, besaß sie schon etwa fünfzig Meter Vorsprung. Es war ein frischer Morgen, der ihm sagte, daß trotz der Wärme des Tages es eben doch noch Mai und nicht Sommer war. Die Kühle vertrieb jedoch seine Müdigkeit und er setzte sich in Bewegung.
Sie legte ein schönes Tempo vor, wie er fand. Er mußte sich sputen, um sie nicht aus den Augen zu verlieren.
Zuerst lief sie ein ganzes Stück den Feldweg entlang. Langsam kam er in den richtigen Rhythmus, spürte aber, daß ihm das Laufen ungewohnter als das Radfahren war. Einholen würde er sie nicht. Das brauchte er nicht zu fürchten. Er konnte schon froh sein, wenn er die Distanz hielt und keine Seitenstiche bekam.
Vom Ort und schon gar nicht von ihren beiden Häusern war mehr etwas zu sehen, als sie in einen unbefestigten Nebenweg einbog, der direkt zum Wald führte. Er versuchte, die Distanz ein wenig zu verkürzen. Ihm gelangen indessen nur wenige Meter. Zwar wollte er sie im Wald nicht gleich aus den Augen verlieren, andererseits bewahrte ihn ein größerer Abstand davor, von ihr entdeckt zu werden. Solange sie nicht fühlte, daß ihr jemand folgte, solange würde sie sich auch nicht umdrehen. Hoffte er zumindest.
Im Wald war es merklicher frischer. Die ersten Strahlen der Morgensonne, die sich einen Weg durch eine leichte Diesigkeit bahnen mußten, hatten nicht genügend Kraft, die Luft im Inneren des Waldes zu erwärmen. Andererseits war ihm diese Erfrischung recht, denn ihm war schon reichlich warm geworden.
Nachdem sie vielleicht zwanzig Minuten gelaufen waren, machte sich in ihm der Wunsch breit, abzubrechen. Um diesem Drang nicht zu erliegen, konzentrierte er sich auf ihre Rückfront, dachte nur an sie und zwang sich somit, ihr weiterhin zu folgen. Bald hatte er den ersten toten Punkt überwunden und es lief sich besser, ja er verringerte den Abstand zu ihr auf etwa dreißig Meter.
Sie lief eine Schleife und verließ den Wald auf einem anderen Weg, der gut dreihundert Meter von ihren Häusern entfernt auf den befestigten Feldweg zurückführte. Eine Stunde war fast um. Sie hatte sich nicht einmal umgedreht. Er war froh, als sie wieder auf dem Feldweg waren. Allzu lange hätte er nicht mehr durchgehalten. Ihr dagegen war nicht die geringste Erschöpfung anzusehen. Sie lief noch immer, als hätte sie gerade erst begonnen.
Die letzten Schritte bis zum Haus lief er nicht mehr, sondern ging. Er hörte ihr Gartentor quietschen – er hatte das seine mittlerweile geölt, so daß es lautlos in den Angeln lief –, und atmete erleichtert mehrmals tief durch. Sein Puls raste und das T-Shirt hatte er durchgeschwitzt. Im Haus ließ er sich der Länge nach im Wohnzimmer auf die Couch fallen. Es war lange her, daß ihn eine Frau derart geschafft hatte, und das, ohne daß sie einander selten näher als ungefähr dreißig bis vierzig Meter gekommen waren. Das wollte etwas heißen!
Nachdem Herzschlag und Atemfrequenz wieder normale Werte angenommen hatten, stand er auf, ging in die Küche und leerte fast eine ganze Flasche Wasser. Dann duschte er und legte sich anschließend noch mal aufs Bett. So schnell würde er einer Frau nicht mehr hinterherlaufen, zumindest nicht bevor er besser trainiert war.
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