Kurzes #109 – Der wilhelminische Erziehungsratgeber

von
Armin A. Alexander

Fortsetzung von: Nachhife tut Not

 

»Wir sehen uns dann Donnerstag.« Ulla reichte ihm zum Abschied die Hand.

Es war mehr eine vorsichtige Frage. Sie spürte, daß Rüdigers Geduld mit ihr langsam erschöpft zu sein schien, wenngleich er so kollegial war, es nicht offen zu zeigen. Sie wußte ja selbst, daß es ihr einfach nicht gelingen wollte, sich zu konzentrieren. Sie konnte nicht verhindern, daß ihre Gedanken ständig abschweiften. Es blieb kaum etwas von dem haften, was er ihr erklärte. Dabei war der Stoff eigentlich simpel. Sie ärgerte sich sicherlich selbst mehr darüber als er. Er war unglaublich geduldig und wirklich sehr nett. Sein Studium bestritt er zielstrebig, arbeitete in den Semesterferien noch nebenbei. Wie sie hätte er es nicht nötig gehabt, wenn auch seine häuslichen Zuwendungen weit weniger üppig waren als ihre. Häufig saß er allein in der Cafeteria in ein Buch vertieft, fast immer am selben Platz neben dem Eingang, und die Bücher hatten oft nichts mit dem Studium zu tun. Er sah ja auch alles andere als schlecht aus. War ihm eigentlich bewußt, daß er einen ziemlichen Knackarsch besaß? Sicher, sie konnte sich nicht vorstellen, daß die eine oder andere Geschlechtsgenossin ihm das nicht bereits gesagt hatte. Diese hübsche schwarzhaarige Architekturstudentin, mit der sie ihn eine Zeitlang gesehen hatte, hatte es ihm bestimmt gesagt. Das war eine, die so etwas zu schätzen wußte, und nicht nur das! Sie war wählerisch und nahm ihre Chancen wahr. Sie gehörte zu den Frauen, die ihren Körper und ihren Sexualtrieb nicht verleugneten, sondern mit beidem in Einklang waren und dadurch eine Faszination ausstrahlen, der sich letztlich kein Mann entziehen konnte.

»Donnerstag«, bestätigte er und drückte ihre Hand mehr pflichtschuldig, zumindest schien es ihr so.

Mit einem etwas gezwungenen Lächeln verließ sie ihn.

Nachdem er die Tür hinter ihr geschlossen hatte, ließ er die Hand noch einen Augenblick auf der Klinke ruhen, als wollte er die Tür noch einmal öffnen und ihr etwas hinterherrufen. Er hörte wie ihre Schritte im Treppenhaus verhallten und unten die Haustür ging.

Mit einem Kopfschütteln ging er in die kleine Küche und setzte Teewasser auf.

So würde das nie etwas werden. Wüßte er es nicht besser, nähme er an, daß ihr weder am Bestehen der Prüfung noch an ihrem Studium etwas lag. Selbst die einfachsten Dinge schien sie nicht behalten zu können oder zu wollen. Fortwährend kaute sie auf ihrem Bleistift herum und wippte, hatte sie die Beine übereinandergeschlagen, unausgesetzt mit dem freien Fuß, so daß der Stuhl, auf dem sie saß, permanent leise knarrte, ein Geräusch, das einem relativ schnell lästig wurde. Nicht daß er sie nicht gerne bei sich hatte, im Gegenteil. Er mochte sie, nicht nur, weil sie so gut aussah, schöne Beine hatte und gleich ihm ein Faible für echte Nylons und elegante hochhackige Schuhe besaß. Er hatte ihr diesbezüglich auch schon das eine oder andere Kompliment gemacht und nicht den Eindruck, daß es ihr mißfiel. Sie hatte sogar ein wenig verlegen gelächelt, als hätte sie es gerade aus seinem Mund nicht erwartet. Aber all das täuschte nicht darüber hinweg, daß seine Zuversicht, was das Bestehen ihrer Baustoffkundeprüfung betraf, nicht sehr groß war. Wenn sich Donnerstag bezüglich ihrer Unaufmerksamkeit nicht etwas einschneidend veränderte, würde er ihr sagen müssen, daß er keinen Sinn in einer Fortführung ihrer Nachhilfestunden sah und sie letztlich nur ihre Zeit verschwendeten. Er wußte, daß das hart war. Aber wozu Zeit und Energie in etwas investieren, das sich nicht auszahlte? Es wäre unredlich, nicht zuletzt, weil sie ihn, entgegen seiner Intension für ihre Stunden großzügig entlohnte. »Es handelt sich um Arbeit und du könntest die Zeit sicherlich sinnvoller für dich nutzen«, hatte sie auf ihrem Standpunkt beharrt, sich seine Hilfe nicht schenken zu lassen. Das Band der Freundschaft behinderte sie schließlich nicht, sie kannten sich ja kaum.

Das Teewasser kochte. Er schüttete das heiße Wasser über das Teesieb in die Kanne.

Andererseits hatte sie in der Matheklausur, die alles andere als leicht war, fast die volle Punktzahl erreicht. Überhaupt schien ihr alles was mit Mathematik zu tun hatte, leicht zu fallen. Schließlich bestand das Studium zum größten Teil aus Mathematik. Am Ende sollte sie am simplen Auswendiglernen scheitern? Das wäre bitterböse Ironie des Schicksals. Eine Welle des Mitleids mit ihr durchströmte ihn.

Er sah auf die Uhr. Der Tee war ausreichend lang gezogen. Er holte das Sieb aus der Kanne. Er goß sich eine Tasse ein, gab einen kräftigen Spritzer Zitrone hinzu und setzte sich mit ausgestreckten Beinen aufs Sofa.

Was könnte er tun, das ihr half, sich besser zu konzentrieren?

Sie mußte sicher ein kleines Vermögen für ihre Strümpfe ausgeben, schließlich trug sie bald jeden Tag andere. Immerhin handelte es sich dabei um echte Nylons, das hatte sein Kennerblick sofort entdeckt. Würde man einen Wettbewerb unter den Kommilitoninnen zur ›Miss Leg‹ veranstalten; Ulla stünde als Titelträgerin sofort fest. Andererseits besäßen Sandra und Ilka auch eine gewisse Chance. Noch ein wenig atemberaubender als ihre schönen, zartbestrumpften Beine empfand er ihre engen Röcke, die sie gelegentlich trug, bei denen er sich mitunter fragte, wie es ihr gelungen waren, den Reißverschluß problemlos zu schließen. Wenn es etwas gab, daß die ›Harmonie‹ ihrer Figur ein wenig aus dem Gleichgewicht brachte, waren es ihre, für ihre Figur, auffallend breiten Hüften, was ihr wiederum optisch eine schmalere Taille bescherte. War es Absicht, geschah es unbewußt, oder war es mit breiten Hüften kaum möglich anders zu gehen? Jedenfalls besaß ihr Gang stets etwas mehr oder wenig erotisch provozierendes. Allerdings wirkten breite Hüften auf ihn in der Regel erotisierend.

Hier ging es aber nicht um Ullas und schon gar nicht um Sandras oder Ilkas Beine, noch weniger um Ullas auffallend breite Hüften, sondern darum sie durch diese dämliche Baustoffkundeprüfung zu treiben.

Im Grunde war Herbotsheim einfallslos, was seine Prüfungsfragen betraf. Er variierte sie von Jahr zu Jahr lediglich marginal. Eigentlich genügte es, eine beliebige zurückliegende Klausur zu nehmen und die Fragen und Antworten auswendig zu lernen, um problemlos bestehen zu können. Die Note würde lediglich von der Stärke der Variation abhängen, aber selbst im ungünstigsten Fall deutlich auf der sicheren Seite liegen. Vielleicht sollte er ihr vorschlagen, seine Klausur, bei denen er dreiundneunzig von einhundert möglichen Punkten erreicht hatte, solange auswendig lernen zu lassen, bis sie die im Schlaf hersagen konnte? Doch das war nicht sein Ding. Er wollte, daß sie es nicht nur herunterleiern konnte, sondern weitgehend begriff, wovon die Rede war.

Es müßte schön sein, mit ihr zu vögeln und nicht nur, aber auch gerade wegen ihrer breiten Hüften. Es war unübersehbar, daß sie zu genießen wußte, ihren Körper mochte und ihren Sexualtrieb nicht verleugnete. Nicht wenigen Frauen fiel es schwer zu akzeptieren, daß sie einen eigenen besaßen und sie das Recht hatten, diesen auszuleben. Wie Iliane – jene Architekturstudentin – deren Unstetigkeit und Laisser-faire nicht so ganz mit seiner Zuverlässigkeit harmonieren wollten, was letztlich zum Bruch geführt hatte. Ob Ulla ihr Schamhaar entfernte? Abgesehen davon, daß ihm aus mehreren Gründen eine nackte Scham besser gefiel, hatte es den nicht zu unterschätzenden praktischen Vorteil, sich im unpassendsten Augenblick nicht mit lästigen Härchen auf der Zunge herumplagen zu müssen, denn gerade in Ullas Schoß würde er nur zu gerne das Gesicht vergraben.

Nein, so ging das nicht. Er schweifte ja selbst mit den Gedanken ständig ab. Anstatt konsequent zu überlegen, wie er Ulla helfen könnte, ihre Konzentrationsprobleme zu lösen, stellte er sich vor, wie es wäre, mit ihr zu vögeln. Vermutlich spielte auch ein wenig die Tatsache mit hinein, daß er vor über drei Monaten das letzte Mal mit einer Frau – eben jener Iliane – Sex gehabt hatte, so etwas wurde als Entzugserscheinungen oder so ähnlich bezeichnet.

Er stand auf und stellte die leere Tasse auf dem Tisch ab.

Vielleicht sollte er noch kurz auf einen Sprung in seine Stammbuchhandlung gehen. In der Antiquariatsabteilung hatte er schon manch interessantes Buch gefunden.

Er löschte das Teelicht im Stövchen, schlüpfte in seine Schuhe und verließ seine kleine Studentenwohnung.

Es kam selten vor, daß ihn das Wühlen in der Grabbelkiste, aus der immer der muffige Geruch von alten Kellern und Dachböden strömte, nicht ablenkte. Aber seine Gedanken schienen heute fest auf Ulla fixiert zu sein.

Er achtete kaum auf die Titel der Bücher, die durch seine Finger gingen.

Seinen Entschluß, ihr nach dem nächsten Treffen zu sagen, daß er die Fortsetzung ihrer Nachhilfestunden auf Grund ihr fortgesetzten Unaufmerksamkeit nicht für sinnvoll hielt, hatte er bereits verworfen. Nicht allein weil sie ihm als Mensch und als Frau gefiel, ihre Gesellschaft sehr angenehm war, wenn man nicht gerade versuchte ihr etwas beizubringen, das partout nicht in ihren hübschen braunen Lockenkopf wollte, warum auch immer. An den lukrativen Salär, der ihm dadurch entging, dachte er nicht einen Augenblick. Fiel das Scheitern des Schülers nicht auch immer auf den Lehrer zurück?

Ein guter Lehrer kann nahezu jedem Schüler etwas beibringen. Wenn dieser nicht aus sich heraus motiviert ist, muß er motiviert werden, notfalls auch mit ungewöhnlichen Methoden.

An das Motto seines Onkels, einem Lehrer aus Leidenschaft, der sich zu recht damit brüsten konnte, die mit Abstand geringste Quote von Wiederholern unter seinen Schülern zu haben, mußte er denken. Ulla einfach aufzugeben verstieße gegen diesen Grundsatz und das wollte er seinem Lieblingsonkel nicht antun. Abgesehen davon fiel ja auch immer etwas vom Ruhm des Schülers auf dessen Lehrer zurück. Und wer hat nicht gerne Erfolgserlebnisse, nimmt er sich einer Sache an?

Rüdiger haßte es zu scheitern. Ullas Scheitern wäre ebenso sein Scheitern.

Er hielt schon eine ganze Weile dieses kleine zerlesene Buch mit dem speckigen Leineneinband zwischen den Fingern, das muffiger als die anderen roch. Wie lange mochte es wohl auf irgendeinem Dachboden in irgendeinem alten staubigen Koffer sein Dasein gefristet haben, ehe es bei einer Wohnungsauflösung wieder aufgetaucht war?

Wie man verstockte Zöglinge zum Lernen anhält

Den in Fraktur gesetzten Titel las er bereits zum zweiten Mal, ohne sich dessen recht bewußt zu sein. Gedankenverloren blätterte er einige der vergilbten, teilweise abgegriffenen, aber noch gut zu lesenden Seiten durch, bis er langsam bemerkte, was er da in den Händen hielt.

Zuerst schmunzelte er, paßte der Titel doch zu seiner Situation – oder wie ein anderer Onkel gerne salopp mit einem breiten Grinsen zu sagen pflegte: »Wie Arsch auf Eimer.«

Die wenigen Illustrationen waren aus heutiger Sicht kurios anzusehen und nicht wirklich umsetzbar. Kinder auf einen Stuhl zu setzten, der mehr an ein mittelalterliches Folterinstrument erinnerte oder den Stuhl mit einer Fixiervorrichtung zu versehen, die kerzengerades aufrechtes Sitzen ermöglichte, war kaum mit modernen pädagogischen Erkenntnissen vereinbar. Abgesehen davon waren diese Stahlschnitte von reichlich mäßiger Qualität, besaßen etwas unfreiwillig Karikierendes, von den mangelhaften anatomischen Kenntnissen des Illustrators einmal ganz abgesehen.

Wahllos las er einige Stellen.

Ein Hauptproblem für Unaufmerksamkeit ist Ablenkung. Erfahrungsgemäß lassen sich selbst lernwillige Zöglinge gerne ablenken, wie sehr dann erst ein unwilliger? Darum sollten im Zimmer, in dem der Zögling seine Hausarbeit verrichtet, so wenige Gelegenheiten wie möglich zum Ablenken vorhanden sein. Der Tisch sollte am besten in Fensternähe stehen, wegen des Lichts, aber nicht zu nahe, damit der Zögling nicht durch das, was draußen vor sich geht, abgelenkt werden kann. Selbst die folgsamsten Jungen lassen sich durch das rege Treiben auf der Straße ablenken, gibt man ihnen nur die Gelegenheit dazu. Ein Zimmer auf einen ruhigen Hinterhof hinaus ist grundsätzlich einer lärmenden Straße vorzuziehen. Der Stuhl sollte solide mit festem Sitz sein. Alles, was ein allzu bequemes Sitzen ermöglicht, sollte tunlichst vermieden werden. Des Weiteren sollte es im Raum nicht zu warm sein, da Wärme träge erden läßt. Es sollte aber auch nicht zu kalt sein, da Frieren nicht weniger ablenkend sein kann, wenn auch aus anderen Gründen. Zwar ist es gut, erfährt der Zögling eine gewisse Abhärtung, doch alles mit Maß und Ziel. Verständlicherweise sollten sich nur die Utensilien auf dem Tisch und in Reichweite des Zöglings befinden, die unerläßlich für seine Arbeiten sind. Ebenso sollte der betreffende Knabe stets unter Aufsicht stehen. Er muß spüren, daß das kleinste Vergehen, das ihn von seiner Arbeit abhält, sofort geahndet wird. Das ist wichtig, damit ihm der Zusammenhang zwischen Strafe und Vergehen bewußt bleibt. Verstreicht zwischen Vergehen und Strafe zuviel Zeit, wird aus Sicht des Knaben der Zusammenhang nicht mehr so verständlich und es könnte bei ihm den Eindruck von Willkür erwecken, was weder seiner persönlichen Entwicklung noch der Sache an sich dienlich ist.

Er konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Was die sich damals alles ausgedacht haben! Wann war das Büchlein erschienen? Er blätterte nach vorne zum Impressum. Der aufgeführte Verlag sagte ihm nichts. Vermutlich existierte der schon lange nicht mehr. Was ihn nicht wunderte. Hatte der noch mehr solche ›Ratgeber‹ herausgebracht, muß er gleichzeitig mit diesen aus der Mode gekommen sein. Druckort war Leipzig. Das Jahr ließ sich kaum noch eindeutig feststellen, lediglich die beiden ersten Ziffern waren zu entziffern, 1 und 8, die dritte könnte eine 6 oder auch eine 8 sein und die vierte vielleicht eine 3. Aber eigentlich war es nebensächlich. Solche Bücher mußte es seinerzeit zuhauf gegeben haben. Erziehungsregeln, die einen modernen Pädagogen die Hände vor Entsetzen über den Kopf zusammenschlagen ließen, zumal bei Kindern mit so etwas ohnehin nur das Gegenteil erreicht wurde. Abgesehen davon wurde ausschließlich von Jungen und Knaben geredet, auch auf den Zeichnungen waren keine Mädchen zu sehen. Natürlich, nach damaliger Auffassung brauchten Frauen bloß das absolute Minimum an Bildung, damit sie ihren Männern den Haushalt führen und deren Kinder gebären konnten. Zum Glück waren diese Zeiten vorbei. Was sollte er auch mit einem Dummchen anfangen, selbst wenn sie so gut aussah wie Ulla oder Iliane? Grausliche Vorstellung. Er mußte sich schütteln.

Ist mit dem Wissenserwerb eine unangenehme Erfahrung verbunden, wird der Zögling sich noch einmal so gut an das erworbene Wissen erinnern. Denn, Hand aufs Herz, liebe leidgeprüfte Erzieher eines lernunwilligen Eleven, an was erinnern wir uns alle am besten? An Erfahrungen, die mit angenehmen Begleiterscheinungen einhergegangen sind oder an die doch viel zahlreicheren mit Unannehmlichkeiten verbundenen Dinge? Es handelt sich eindeutig um Letztere, die stärker mit unserem Gedächtnis verhaftet bleiben. Natürlich dürfen sie nicht zu unangenehm für den Zögling sein, also keine aus Wut und Enttäuschung über dessen Unwillen verabreichten Schläge, sondern sorgfältig dosierte, die ihm nicht schaden und die vor allem ohne persönlichen Groll angewendet werden. Der Zögling darf nicht den Eindruck gewinnen, daß er persönlich angegriffen wird, sondern muß immer und in jedem Fall erkennen, daß es nur zu seinem Besten ist und man es nicht tun würde, wenn es nicht unbedingt sein müßte, und einen selbst die Schläge noch mehr schmerzen als ihm.

Was Menschen doch für einen absoluten Blödsinn schreiben können, dachte er kopfschüttelnd. Obwohl die Sache mit der negativen Erfahrung klang eigentlich sehr modern, wenn er es genau betrachtete. Bernadette, die Psychologiestudentin, mit der er vor etwas mehr als einem Jahr zusammen gewesen war, hatte ihm ähnliches erzählt. Hätte sie nicht so penetrant versucht, seine Psyche zu analysieren, hätte mehr aus ihrer Beziehung werden können. Auch sie hatte wundervoll breite Hüften und einen faszinierend üppigen Busen, war das, was zu Zeiten jenes Erziehungsratgebers als bäuerlich bezeichnet worden wäre.

Kopfschüttelnd schlug er das kleine Kuriosum zu und wollte es schon wieder in die Grabbelkiste zurückstellen, da hielt er mitten im Tun inne.

Aber halt! Mit solchen Methoden ließen sich zwar keine empfindsamen Kinderseelen bändigen, aber war es deshalb wirklich vom ersten bis zum letzten Buchstaben Unsinn? Lag hier nicht ein Ansatz zur Lösung seines Problems? Natürlich waren die im Buch beschrieben Ratschläge völlig inakzeptabel. Ulla würde sich bedanken, ließ er sie während der ganzen Zeit auf dem harten Boden knien, wie in einem der ersten Kapitel beschrieben, ganz zu schweigen von dem Gestell, das ein absolut aufrechtes Sitzen ermöglichte und gerade einmal genug Bewegungsfreiheit ließ, um zu schreiben. Abgesehen von der Bastelarbeit, die es erfordern würde, etwas Vergleichbares zu bauen. Außerdem war die mittelmäßige Zeichnung als Konstruktionsvorlage ungeeignet. Vermutlich hat die Vorrichtung ohnehin nur in der Phantasie des Autors existiert, der sein Machwerk nicht einmal mit Namen gezeichnet hatte, was er gut nachvollziehen konnte.

Er kaufte das Büchlein. Es kostete ohnehin nur einen Euro. Was konnte man bei einem Euro schon falsch machen? Außerdem machte es Spaß, so eine kleine Kuriosität zu besitzen.

Zu Hause las er das Bändchen von der ersten bis zur letzten Seite aufmerksam durch. Je länger er darin las, über das Geschriebene nachdachte, desto weniger hielt er es für unqualifiziertes Geschreibsel einer abstrusen Epoche. Zwar hatte sich an seiner Überzeugung, daß es für die Kindererziehung untauglich war, nichts geändert. Jedoch Ulla betreffend, begann er eine andere Meinung zu vertreten.

Keine Frage, es konnte sich schnell als eine aus der Verzweiflung heraus geborene Schnapsidee erweisen, vermutlich würde sie sich auch nicht darauf einlassen. So verzweifelt konnte sie gar nicht sein. Andererseits, wenn er es ihr ruhig erklärte – es würde genügen, sich auf etwas Einfaches zu beschränken, Knien zum Beispiel, aber auf einem Kissen, nicht auf dem harten Boden, wie im entsprechenden Kapitel gefordert. Über eine längere Zeit zu knien, war an sich schon anstrengend genug.

 

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