Kurzes #49 – Der Fluchtversuch

von
Armin A. Alexander

Der folgende Text ist die Fortsetzung von: Fluchtgedanken

 

Am achten August 1987 war sein Entschluß endgültig, die Flucht zu wagen. Es war ein warmer, wolkenloser Spätsommerabend und nahezu windstill. Er hoffte, daß die Hunde ihn deshalb nicht so schnell würden wittern können. Schon einige Wochen zuvor hatte er einen robusten Seitenschneider aus dem Kombinat mitgehen lassen, was keinem je aufgefallen war. Er bemühte sich den ganzen Tag über in niemandem auch nur den geringsten Verdacht über sein Vorhaben aufkommen zu lassen. Bereits in der vorigen Nacht hatte er ein Bündel geschnürt, das neben dem Wichtigsten, dem Seitenschneider, einige Wäschestücke zum Wechseln und die wichtigsten Papiere enthielt, damit man ihn ›Drüben‹ auch als einen Flüchtling anerkannte.
Wenn er sich recht erinnerte, dann nannten die das ›Drüben‹ nicht Flüchtling, wenn einer aus dem Osten geflohen war, sondern ›Übersiedler‹, als hätte man nach dort ganz selbstverständlich ausreisen dürfen, hätten SIE einen einfach in das Land seiner Wahl ziehen lassen. Wäre alles wirklich nur so einfach gewesen, wie dieser Begriff einem unbedarften Menschen suggerierte dann – Er dachte den Gedanken nicht weiter. Eine solche Vorstellung war einfach zu abwegig. Ebensogut konnte man sich vorstellen, die Volkskammer beschloß freie Wahlen, ließ die Grenze abbauen und womöglich löste sich auch noch der Warschauer Pakt aus eigenem Antrieb auf. Es hätte so viele weitere Dinge nach sich gezogen, daß sich die Tragweite gar nicht mehr überschauen ließ.
Offiziell taten beide Seiten so, als gäbe es viele der gegenwärtigen Probleme gar nicht, als wäre alles immer noch ein Staat, der, lediglich vorübergehend, zwei verschiedene Verwaltungen besaß. Sie beschönigten alles mit Worten. Die Übereinkunft, daß die aus dem Westen, die nach West-Berlin wollten, sei es mit dem Zug oder dem Auto, es konnten, ohne ein Durchreisevisum beantragen zu müssen, nannten sie ›Transitabkommen‹. Unter einem solchen hätte er verstanden, daß jeder einen Weg seiner Wahl nehmen konnte und es ihm, im Gegensatz zu einem Einreisevisum, lediglich erlaubt wäre, einen oder maximal zwei Tage im Land zu verweilen. Jedoch nicht, daß nur ein Grenzübergang, der von Helmstedt, benutzen werden darf und jeder auf der ganzen Strecke beäugt wird, wie ein ganz besonders gefährliches Subjekt. Und dann hatten die West-Deutschen auch keine Botschaft in Ost-Berlin, sondern nur eine ›ständige Vertretung‹, obwohl die meisten Staaten die DDR als eigenständig anerkannt hatten, man hatte sogar einen eigenen Sitz in der UNO wie die West-Deutschen. Und dann reagierten die ›Drüben‹ auch immer so verstimmt, gebrauchte jemand statt Bundesrepublik Deutschland die Abkürzung BRD. Im Fernsehen, in der Öffentlichkeit, überhaupt wo es ging, sprachen die hiesigen Offiziellen fast schon genußvoll herablassend von der »Bäh-Err-Däh«.
Je länger er darüber nachdachte, desto mehr Ungereimtheiten fielen ihm auf. Er mochte nicht wissen, wie viele es gab, von denen er nicht einmal etwas ahnte und die vermutlich nicht weniger haarsträubend waren.
Die Mehrzahl der Waldeneckner empfing schon seit langem West-Fernsehen, wodurch sich nicht nur ihm viele Widersprüche erst so richtig offenbart hatten. Doch konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die ›Drüben‹ auch nicht so frei von Propaganda waren, wie sie sich gerne präsentierten. Ihr Recht auf freie Meinungsäußerung – zumindest rückten sie es bei jeder Gelegenheit in den Vordergrund –, zwang sie aber, subtiler vorzugehen.
Beim gemeinsamen Abendessen bemühte er sich, so natürlich wie immer zu erscheinen. Er war sich sicher, daß niemand aus der Familie ahnte, was er auszuführen gedachte. Wie jeden Tag begab er sich anschließend auf sein Zimmer.
Dort holte er mit zittrigen Fingern sein Bündel hervor, das er weit hinten unter seinem Bett versteckt hatte. Er wog es eine Zeitlang zögerlich in der Hand, war mehr als einmal versucht, es wieder unter dem Bett verschwinden zu lassen, seinen Fluchtversuch auf morgen, auf einen anderen, vermeintlich besser geeigneten Tag zu verschieben. Er mußte sich setzen, seine Knie zitterten. Das Bündel lag auf seinem Schoß. Er starrte es an, als könne es ihm zu einer Entscheidung raten. Er dachte an seine Familie, seine Eltern, seine Großmutter, eine Kriegerwitwe, die gemeinsam mit ihnen im Haus lebte und an der er sehr hing. Sie machte ihm die Entscheidung wirklich schwer. Ging er jetzt, würde er sie vielleicht nie wiedersehen. Vor zwei Monaten hatte sie ihren achtzigsten Geburtstag gefeiert, war durchaus eine rüstige Person, aber die immer schlechter werdende Versorgung mit Heizmaterial während der Wintermonate ging auch an ihrer Gesundheit nicht spurlos vorüber. Und dann waren da noch seine Tante Grete und ihr Mann Karl. Im Gegensatz zu seinen Eltern, die sich, wie wohl die Mehrheit, innerlich murrend damit abgefunden hatten, in einem Staat leben zu müssen, wo beinahe alles auf die eine oder andere Weise streng reglementiert war, die ihr Mißfallen nicht nach außen dringen ließen, ja es sogar nur höchst selten vor ihren eigenen Kindern zeigten, waren sie froh, in einem Staat zu leben, wo »der Werktätige nicht von ausschließlich auf ihren persönlichen Profit fixierten Kapitalisten ausgebeutet wurde«. An jedem ersten Mai hingen sie stolz die Fahne der DDR aus ihrem Fenster und der Jahrestag der Gründung der DDR war ihnen mehr wert als Weihnachten, das in ihren Augen ohnehin ein Relikt bourgeoisen Denkens war. Ihr Leben hatten sie ganz der Partei gewidmet und sein Onkel rechnete sich gute Chancen aus, in Bälde einen Sitz im Rat der Gemeinde zu bekommen. Ulrichs Mutter hatte nie verstanden, warum ihre Schwester einen so überzeugten ›Kommunisten‹ geheiratet hatte. Das Ansehen, das er damals schon genoß, weil er so linientreu war, mußte es ihr wohl angetan haben. Sie besaßen auch mehr als die meisten; er hatte seinen Wartburg nach deutlicher kürzerer Wartezeit erhalten als andere. Ein Trabi war ihm zu gewöhnlich gewesen! Ulrichs Vater hatte nie daran gedacht, sich einen zuzulegen. »Wer weiß ob ich überhaupt noch lebe, wenn ich ihn bekomme«, hatte er immer scherzhaft im Hinblick auf die langen Lieferzeiten gesagt. Selbstverständlich schauten Onkel und Tante niemals West-Fernsehen, diese »imperialistische Propaganda, diese stetige dekadente Amoralität, die in den dortigen Filmen offen zur Schau gestellt wird, die Verführung der Massen zum hemmungslosen Konsum und dergleichen« lehnten sie aufs entschiedenste ab. Sie lobten die ›ehrliche‹ Berichterstattung in ihrem DDR-Fernsehen. Seit ihnen Ulrichs ›Fehlgriff‹ in der Schule bekannt geworden war, begegneten sie ihm nur noch mit Distanz. Bei jedem ihrer Besuch bedauerten sie seine Eltern, daß ihr Sohn so offenkundig vom rechten Weg abgewichen sei.
Mit dem tiefen Seufzer der Gewißheit der Unumkehrbarkeit seiner Entscheidung, stand er auf. Aus der Schreibtischschublade holte er eine lange Schnur, befestigte das Bündel gut an dem einen Ende und ließ es behutsam in den Garten hinunter. Geschickt plazierte er es zwischen den Sträuchern unter seinem Fenster. Dann setzte er sich ans Fenster und wartete auf die einsetzende Dämmerung. Er bemühte sich, ruhig zu bleiben, was ihm aber nur unvollständig glückte. Die Zeit floß unerträglich lang hin, jede Minute drohte zur Ewigkeit zu mutieren.
Als die Sonne nur noch ein großer feuerroter Ball am Firmament war, ging er nach unten und erklärte seiner Familie, er wolle noch einen kleinen Abendspaziergang machen. Er war erleichtert, weil seine Stimme dabei wie immer klang. In den Augen seiner Familie besaßen diese Spaziergänge am Abend nichts Ungewöhnliches. Er unternahm sie schon seit langem gerne an warmen Sommerabenden. Er verabschiedete sich wie gewöhnlich von ihnen, wohl wissend, daß es diesmal ein Abschied für sehr lange, wenn nicht gar für immer werden würde.
Ob seine Großmutter an diesem Abend etwas von seinem Vorhaben geahnt hatte? Sie hatte in einem so merkwürdigen Ton gesprochen, als sie sagte: »Paß gut auf dich auf, mein Junge.« Oder hatten ihm seine angespannten Nerven nur etwas vorgegaukelt?
Seine innere Anspannung hatte Spuren an ihm hinterlassen. Er bemühte sich wie noch nie zuvor in seinem Leben um Beherrschung. Trotzdem hatte er nicht verhindern können, daß seine Handflächen schon den ganzen Abend über feucht gewesen waren. Vielleicht hatte das seine Großmutter stutzig werden lassen, als er ihr wie stets die Hand zum Abschied gedrückt hatte?
Seine Knie zitterten, sein Herz raste, als er die Haustür hinter sich geschlossen hatte. Er mußte sich an die Wand neben der Tür lehnen und ein paarmal tief durchatmen, ehe er seine Schritte zum Strauch, unter dem sein Bündel lag, lenken konnte.
Er löste mit zittrigen Fingern die Schnur ab, wickelte sie sorgfältig auf und schob sie dann in seine Tasche. Es geschah rein mechanisch. Die Schnur einfach unter dem Strauch liegen zu lassen, wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Von klein auf hatte er erfahren müssen, daß in diesem Land wirklich nichts im Übermaß vorhanden war, eigentlich an allem Mangel herrschte, der sich in der letzten Zeit sogar noch stetig verschlimmerte. Alles was irgendwie brauchbar war, wurde deshalb aufbewahrt, da niemand sagen konnte, wann wieder etwas zu bekommen war.
Ulrich hoffte, daß niemand Verdacht schöpfte, wenn er das kleine Bündel unter seinem Arm erblickte. Doch seine Furcht war unbegründet, da er unterwegs nur wenigen begegnete. Wenn er sich nicht täuschte, dann lief an diesem Samstag eine allseits beliebte Sendung im West-Fernsehen.
Er ging mit ruhigen Schritten aus dem Ort hinaus. Es war schon beinahe dunkel, als er den schmalen Feldweg betrat, der ihn nahe an jene Stelle brachte. Lediglich der Mond erhellte alles ausreichend genug.
Verdammt, durchfuhr es ihn in diesem Moment, vielleicht hätte er doch besser auf eine mondlose Nacht warten sollen. Ihm fiel ein, daß man ihn dadurch auf dem freien Platz zwischen dem Wäldchen und dem Zaun relativ gut würde erkennen können. Doch die Erkenntnis kam für ihn zu spät. Er machte sein Vorhaben nicht mehr rückgängig. Er wußte nicht, ob er später noch einmal den Mut aufbringen würde, es zu versuchen. Er fühlte, wie ihn dieser schon zu verlassen begann, ehe er überhaupt in die Nähe der Grenzbefestigung gekommen war.
Er würde noch eine halbe Stunde gehen müssen. Seine Knie wurden immer weicher und er mußte sich von nun an jeden Schritt erkämpfen. Er versuchte nicht an das Kommende zu denken, nur wie wichtig es war, einen Fuß vor den anderen zu setzen und das Bündel nicht fallen zu lassen. Einzig das beherrschte seine Gedanken, etwas anderes fand in ihnen keinen Raum mehr. Nur noch wenige Schritte, dann würde er das Dickicht erreicht haben.
Für einen Moment glaubte er, das Dickicht wäre urplötzlich aus dem Nichts vor ihm aufgetaucht, fast wäre er über das Unterholz gestolpert. Er blieb stehen. Vor ihm türmte sich eine dunkle grüne hohe Masse auf, die jetzt im silbrigen Licht des Mondes undurchdringlich wirkte. Für einen Moment stockte ihm der Atem und er glaubte, sein Herzschlag würde weithin schallend zu hören sein. Das Blut pochte ihm in den Schläfen und für kurz flimmerten Blitze vor seinen Augen auf.
Er atmete tief durch und machte sich auf die Suche nach dem kleinen Trampelpfad, der einen relativ mühelosen Weg durch das Dickicht erlaubte. Unbefugtes Gelände hatte er längst betreten. Mehr als einen Kilometer durfte sich ja keiner der Grenze nähern. Er fand den Pfad schnell, hatte ihn schon sooft gesucht, daß er ihn selbst mit geschlossenen Augen nicht verfehlt haben würde.
Vorsichtig setzte er einen Schritt vor den anderen, befühlte erst mit dem Fuß den Untergrund, ehe er ihn aufsetzte. Diesmal geschah es jedoch nicht aus Schwäche, sondern um nicht Gefahr zu laufen, zu stürzen und sich zu verletzen. Es herrschte im Schutz der Bäume und Sträucher fast absolute Dunkelheit, nur schemenhaft erkannte er etwas, was ihm aber genügte. Zwar benötigte er für die letzten fünfhundert Meter, die er sich durch das Dickicht quälen mußte, einige Zeit, aber dafür fühlte er sich dort sicherer und das wirkte sich positiv auf sein Allgemeinbefinden aus. Jetzt hätte ihn nur noch ein durch eine Unachtsamkeit aufgeschrecktes Tier verraten können.
Und auf einmal war das Dickicht zu Ende. Er sah die Grenze so dicht vor sich, wie noch nie. Für seine Augen, die sich an die Dunkelheit im Dickicht gewöhnt hatten, präsentierte sich die monddurchflutete Schneise in fast gleißender Helligkeit. Der Zaun wirkte wie auf Hochglanz poliertes Silber. Vielleicht noch einhundert Meter trennten ihn davon, schätzte er.
Er hielt erneut den Atem an. So weit hatte er sich noch nie vorgewagt. Selbst bei seinen Erkundigungen war er nie bis zum Ende des Dickichts gegangen, sondern gerade so weit, daß sich halbwegs etwas zwischen den Sträuchern hindurch erkennen ließ.
Für einige Zeit hatte er sogar die Hoffnung gehegt, man hätte ihn seinen NVA-Dienst an der Grenze ableisten lassen. Dann hätte er in Ruhe und aus nächster Nähe und in allen Details etwas über diesen ›Antiimperialistischen Schutzwall‹ erkunden können. Aber das war nicht geschehen. Man hatte ihn vorsorglich weit von dieser Grenze entfernt stationiert. Das hatte er sicherlich Sukows ›Empfehlung‹ zu verdanken, entsprach es doch ihrer Logik, es keinem zu erleichtern, der schon einmal durch systemkritische Äußerungen aufgefallen war und labile Geister gar nicht erst auf den Gedanken zu bringen.
Auf seine Weise war der Zaun imposant, und hoch, fand er. Und der Stacheldraht oben kam ihm unüberwindlich vor. Wenn, dann konnte man sich nur unten durchgraben, oder ihn eben auf Bodenhöhe zerschneiden und sich durchzwängen, was ja sein sein Vorhaben war. Er fragte sich, wieso dieser mehrere hundert Kilometer lange Befestigungswall aus so hochwertigen Materialien gefertigt war und alles was den Menschen hier im Alltag zur Verfügung stand, nur aus so billigem sein mußte. Ging tatsächlich alles für diesen Zaun drauf? War so ein Zaun wichtiger als alles andere?
Er trat aus dem Schutz des Dickichts heraus und legte sich sofort bäuchlings auf den Boden. Das Bündel vor sich herschiebend, robbte er auf den Zaun zu. In der Ferne hörte er einen der Wachhunde bellen.
Eine Viertelstunde lediglich, eine Viertelstunde unbehelligt bleiben und ich bin gerettet, dachte er fortwährend, während er, flach auf dem Boden liegend, seinen Körper Zentimeter um Zentimeter vorwärts schob.
Der frische würzige Geruch der Gräserpollen zog ihm in die Nase. Er war froh, nicht unter Heuschnupfen zu leiden, denn ein einziger lauter Nieser hätte seine Flucht vereiteln können.
Nur noch wenige Meter.
Der Zaun schien ihm aus seiner gegenwärtigen Position bis ganz in den nächtlichen Himmel hinaufzureichen, ihn erdrücken zu wollen, ihm seine Unüberwindlichkeit zu demonstrieren. Für einen Lidschlag lang war es ihm, als lebte der Zaun. Schnell schüttelte er diesen absurden Gedanken ab. Sein Herz raste, seine Handflächen waren naß, die Hände zitterten, er hatte sein Hemd durchgeschwitzt, obwohl es eine milde, ja fast schon frische Nacht war. Sein Mund war trocken, seine Zunge klebte am Gaumen, sein Magen schmerzte.
Er hatte den Zaun beinahe erreicht. Nur noch ein halber lächerlicher Meter und einige wenige Schnitte trennten ihn von der Freiheit.
Zitternd fingerte er den Seitenschneider aus dem Bündel, wartete noch einen Moment, den Seitenschneider fest umklammert in der rechten Hand haltend, versuchte seine Kräfte zu sammeln, ruhiger zu werden, damit ihm der Seitenschneider nicht im entscheidenden Moment aus den Fingern glitt, die Kraft fehlte, die stabilen Maschen mit einem Schnitt zu durchtrennen. Gleich würde er sich ein wenig aufrichten müssen, die letzten Zentimeter zum Zaun kriechen und ein kleines Loch hineinschneiden, gerade groß genug um ihn durchzulassen.
Er hatte diesen Gedanken kaum zu Ende gebracht, sich entschlossen, ihn in die Tat umsetzen, da krachte ein ohrenbetäubender Schuß hinter ihm.
Es war ihm, als wäre er unmittelbar neben seinem Ohr ausgelöst worden, so laut war er gewesen. Ihm wurde zuerst gar nicht bewußt, daß ihm der Schuß gegolten hatte, daß sich in seiner rechten Wade ein brennender Schmerz ausbreitete. Doch dann nahm dieser Schmerz, von der Wade her kommend, seinen ganzen Körper in Besitz, schlug über seinem Bewußtsein wie eine riesige Welle zusammen. Ihm traten Tränen in die Augen. Und der Gedanke, daß seine Flucht ein Ende gefunden, ehe sie überhaupt begonnen hatte, wurde zur Gewißheit. Welcher Schmerz der größere war, ließ sich in diesem Augenblick kaum ermessen.
»Da haben wir doch tatsächlich so einen Parasiten erwischt«, ertönte eine junge Stimme hinter ihm.
Die Worte, so voller Haß und zugleich auch voller Triumph über den errungenen Jagderfolg, ließen Ulrich erschaudern. Er hatte noch nie einen Menschen so reden gehört, selbst in Sukows damaliger Tirade hatte bei weitem nicht ein solcher Abscheu ihm gegenüber mitgeschwungen. Ulrich fühlte sich in diesem Moment wie ein gefährliches Tier, dem zum Schutz aller besser der Garaus gemacht würde.
Er hatte den Grenzposten weder kommen gehört noch gesehen. Ulrich glaubte, daß sein Herz stehen blieb, als ihm aufging, wie der andere vermutlich schon die ganze Zeit über irgendwo hinter einem der Sträucher des Dickicht gelauert und ihn aufmerksam beobachtet hatte, wie er langsam über den freien Platz auf dem Bauch liegend auf den Zaun zu gekrochen war. Er hatte mit ihm gespielt wie auf einer Jagd.
Ulrich drehte sich um, versuchte seine brennende Wade zu ignorieren und schaute unmittelbar in den Lauf eines Gewehres, nur wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt. Aus dem Lauf strömte noch der beißende Pulverdampf des Schusses, der ihn verletzt hatte, ihm mitten ins Gesicht. Hilflos lag er auf den Rücken. Sein Blick wanderte an dem Lauf entlang zum Schützen.
Ulrich war überrascht und entsetzt zugleich, als er in das Gesicht eines Jungen sah, dem seine Uniform viel zu groß war. Er konnte kaum älter als neunzehn sein, besaß nicht einmal einen richtigen Bartwuchs. Ein wahres Milchgesicht, dachte Ulrich, und doch scheint er keine Skrupel zu besitzen, mich einfach zu ermorden.
Die ganze Situation war zu tiefst grotesk, sagte ihm sein Verstand, wenn sie nicht gänzlich absurd war. Ulrich hatte sich immer darüber amüsiert, wenn er in irgendeiner Geschichte gelesen hatte, wie jemand einen mit »Augen ansah, aus den der Haß sprühte«. Doch der Blick des Junge entsprach überdeutlich dieser Metapher. Eigentlich hätte er Angst haben müssen, doch angesichts der Irrationalität in der er sich befand, empfand er weder Angst noch Furcht oder irgendein verwandtes Gefühl. Für ihn existierte in diesem Moment weder eine Vergangenheit, noch eine Zukunft und auch keine übrige Welt mehr, sondern nur der unmittelbare Augenblick und er und dieser Jungen. Selbst die nächste Sekunde erschien nie jemals existent werden zu können.
Der Junge hielt das Gewehr, das viel zu schwer für ihn sein mußte, ruhig und sicher, als wäre es ein Teil seines Körpers. Er zitterte nicht, war offenbar zu keiner anderen Regung fähig als die des Hasses auf ihn, Ulrich. Vor diesem Hintergrund verschwand sogar der brennende Schmerz in seiner Wade.
Ulrich lag ungünstig, mit dem Steißbein auf einem spitzen Stein, der leicht aus dem Gras herausragte und der ihm, je länger er in seiner jetzigen Position verharrte, fast mehr Schmerzen verursachte als die Schußwunde an seiner Wade. Aber er wagte nicht sich zu rühren. Er spürte, wie der Junge nur auf eine Bewegung von ihm hoffte, um dann hinterher behaupten zu können, wenn Ulrichs toter, noch warmer Körper in seinem eigenen Blut lag, das Gras tiefrot färbte und langsam im Boden versickerte, wenn alles nach süßlichem, warmen klebrigem Blut roch, daß er gezwungen gewesen sei, diesen Flüchtigen zu erschießen, denn er hatte ihn trotz wiederholter Warnungen angreifen wollen, mit der Absicht ihn zu töten.
In der Ferne vernahm Ulrich das sich nähernde Gebell der Hunde.
Er fragte sich, warum der Junge ihn nicht gleich erschossen hatte. Oder wollte er nur mit ihm spielen, wie eine Katze, jagt sie eine Maus, diese fängt, wieder laufen läßt, erneut fängt und so weiter, bis sie ihr einfach und mit innerem Genuß die Kehle durchbeißt? Aber nein, bei einer Katze war das eine natürliche Handlung, von ihrem Instinkt vorgeschrieben, sie konnte beim Töten niemals Genuß empfinden! Das konnte nur ein Mensch! Wollte der Junge, daß er sah, wer ihn da umbrachte? Oder hatte Ulrich nur Glück gehabt, daß bloß seine rechte Wade getroffen worden war, weil der Junge nicht so gut zielen konnte, wie er glaubte?
»Klassenfeinde wie dich, sollte man einfach niederknallen«, preßte der Junge von innerem Ekel geschüttelt hervor.
Ulrich sah, wie seine Finger sich um den Abzug herum verkrampften.
Würde er in diesem Moment seine Drohung wahr machen, dann war alles vorbei. Dann gab es ihn, Ulrich Bernow, nicht mehr. Dann versank er im Nichts. Dann würde er nicht mehr sein, als die ausgenommenen Schweine- und Rinderhälften, die er beim Metzger im Dorf gesehen hatte, leblose Fleischstücke, bei deren Anblick es ihm immer schwergefallen war, sich zu vergegenwärtigen, wie diese vor wenigen Tagen noch lebendig in irgendeinem Stall herumgestanden, ihr Futter gefressen und gelebt haben.
Das Gebell der Hunde kam rasch näher.
Ulrich hielt noch immer den Seitenschneider umklammert.
Vielleicht würde der Junge jetzt gleich abdrücken, ihn erschießen, oder wäre ermorden nicht der richtigere Ausdruck? Nein, für seine Vorgesetzten hätte er einen Republikflüchtling gestellt und diesen in heldenhafter Notwehr bedauerlicherweise erschießen müssen. Es gab ja diesen Schießbefehl, der jeden, der der Grenze näher kam als gestattet, zum Vogelfreien erklärte. Er hätte es also mit gutem Gewissen tun können, er wäre sicherlich befördert worden. Eine Belobigung war ihm auf jeden Fall sicher, und ihm, Ulrich, ein lausiges Begräbnis, wie es sich für einen Volksfeind gehörte. Was würde nun mit seiner Familie geschehen?
Das Gebell der Hunde war jetzt dicht bei ihnen. Ulrich glaubte deren fauligen, auf blutiges Fleisch gierenden Atem riechen zu können.
»Was ist hier los«, erscholl eine andere, reifere Stimme, voll absoluter Autorität.
Ulrich wagte nicht, den Blick von dem Jungen abzuwenden. Er sah darin die einzige Möglichkeit, sein Leben zu erhalten. Trotz allem hoffte er, daß der Junge noch nicht derart abgestumpft war, einen wehrlos vor ihm liegenden Menschen, der ihn direkt ansah, zu ermorden. Das konnte er sicherlich nicht – noch nicht!
»Ich habe einen von diesen Parasiten erwischt«, sagte der Junge mit vom Rausch des Triumphes zittriger Stimme.
Ulrich fühlte, wie die Hunde um ihn herumschnüffelten, bereit, auf den kleinsten Wink ihres Führers über ihn herzufallen und ihn mit Genuß zu zerreißen.
»Das ist der erste, der es bei uns versucht hat, seit diese Grenze besteht«, meinte der andere nüchtern, doch nicht ohne eine gewisse Bewunderung. »Er wollte sich wohl durch den Zaun schneiden.«
Er wies mit der Stiefelspitze auf den Seitenschneider in Ulrich Hand. Für den Moment fürchtete Ulrich, er könnte ihm mit dem Absatz das Handgelenk zertrümmern. Aber er berührte ihn nicht einmal. Für ihn war er weniger als ein Nichts.
»Aber letztlich kriegen wir die meisten doch«, fuhr der Mann mit der Sicherheit eines Menschen fort, der von der Rechtmäßigkeit seines Handelns und Denkens absolut überzeugt ist. »Die sind alle zu naiv, sie glauben, sie könnten uns entwischen. Wären alle Grenzposten so wachsam wie du, es würde uns keiner entweichen können.«
»Am besten sollte ich ihn für alle Zeit unschädlich machen«, meinte der Junge und sah zu seinem Vorgesetzten hin, ohne den Lauf von Ulrichs Gesicht zu entfernen.
»Das hättest du schon beim ersten Mal machen sollen«, erklärte der andere nüchtern, begleitet von einem leichten Bedauern. »Jetzt ist es zu spät dafür. Zwischen beiden Schüssen wäre eine zu lange Zeit verstrichen. Fast zehn Minuten.« Er mußte auf seine Uhr gesehen haben. »Wir sind hier zu nah am Ort. Man kann die Schüsse dort gut hören. Und es gibt immer jemanden, der unangenehme Fragen stellt. Es gibt immer irgendwo einen ehrgeizigen Emporkömmling. Wir sind hier am Arsch der Welt, glaube mir das. Was meinst du, warum bisher noch keiner versucht hat hier über die Grenze zu gehen? Und nach Berlin wollen viele dieser Provinzbeamten, da lassen die auch schon einmal einen ehrlichen Grenzer über die Klinge springen, wenn es ihnen in den Kram paßt. In den letzten zwanzig Jahren habe ich schon an vielen Abschnitten dieser Grenze Dienst getan, ich weiß, wovon ich rede. Nun werden sich die anderen um ihn kümmern müssen.«
»Los, auf, du Schmarotzer«, brüllte dieser Ulrich jetzt an und trat ihm in die Seite.
Ulrich krümmte sich vor Schmerzen. Dann wurde er hochgerissen.
»Du nimmst sein Bündel und den Seitenschneider«, wies er den jüngeren an.
»Und wenn er fliehen will?«
»Dann haben die Hunde ihr Vergnügen«, meinte sein Vorgesetzter lakonisch.
Ulrich humpelte unter Schmerzen. Ihm kam es lächerlich vor, daß die anderen dachten, er könnte mit seinem Bein fliehen, ihnen entwischen. So schnell wären sie bei ihm gewesen, so gerne hätte ihn der Junge niedergeschossen, hätte der andere die Hunde auf ihn gehetzt. Den Gefallen wollte er ihnen nicht auch noch tun. Der Weg bis zum Wachturm kam ihm endlos vor. Seine beiden Bewacher sprachen kein Wort miteinander. Die Hunde trotteten laut hechelnd neben ihnen her.

Welche Folgen Ulrichs gescheiterter Fluchtversuch nach sich zieht kann unter Die Folgen nachgelesen werden.

 

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