Kurzes #50 – Die Folgen

von
Armin A. Alexander

Der folgende Text ist der dritte und letzte Teil von: Fluchtgedanken und Der Fluchtversuch.

 

Die nächsten Stunden erwiesen sich als Steigerung dieses Alptraums. Zwar hatte er überlebt, aber innerhalb der folgenden Tage, Wochen und Monate fragte er sich oft, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn der Junge ihn einfach erschossen hätte.
Nachdem seine Wunde notdürftig verbunden worden war – wohl damit er keine Blutstropfen auf dem Boden der Wachstube hinterließ –, wurde er in den Ort zurückgebracht und vom dortigen Leiter der Vopo, einem feisten Menschen mit kahlem Schädel, glattrasiertem gerötetem Gesicht›verhört‹, der seine Uniform wie eine Auszeichnung trug und die makellos an ihm saß, als sei sie seine eigentliche Haut, obwohl sie sich über seinem Bauch spannte. Ein leichter Alkoholgeruch ging von dem Mann aus.
Der Mann ließ seinen Aggressionen freien Lauf. Er schrie Ulrich unentwegt an, als koste es ihn keine Kraft, als sei es sein größtes Vergnügen. Ulrich achtete nicht auf den Inhalt der Worte, der nur eine endlose Folge von Klassenkampfparolen, Platitüden und Beschimpfungen war. Für ihn war es kaum mehr als ein lautes unartikuliertes Brüllen ohne jeden Sinn und Nutzen.
Irgendwann in den frühen Morgenstunden – Ulrich hatte jedes Zeitgefühl verloren, er sah nur, wie die Morgensonne einen schmalen hellen Streifen auf den stumpfen und fleckigen Linoleumbelag warf –, hörte der Mann mit seinem sinnlosen Brüllen auf. Er hatte sich offensichtlich ausgetobt, war ermüdet. Ulrich fühlte sich innerlich leer, ausgebrannt. Er dachte an nichts mehr. Ihm war egal, was weiter mit ihm geschah.
Man führte ihn in den Keller, in eine dunkle, kühle, feuchte, zugige und vollständig geflieste Zelle. Selbst die Pritsche war ein gefliester Betonklotz. Alles roch nach Desinfektionsmitteln und für den Moment fühlte Ulrich sich in ein Schlachthaus versetzt. Er legte seinen müden, schmerzenden und tauben Körper auf die eiskalte harte Pritsche, erleichtert endlich ein wenig ruhen zu können und versuchte etwas zu schlafen.
Irgendwann im Laufe des Tages wurde er aus seiner Zelle geholt und in ein anderes Zimmer geführt, das sich aber kaum von dem unterschied, wo er das erste ›Verhör‹ über sich hatte ergehen lassen müssen. Dort saßen zwei aus Suhl eingetroffene Stasi-Männer an einem leeren Tisch mit stumpf gescheuerter Platte.
Sie schrien ihn nicht an. Ihr Verhör, das wirklich eines war und keine endlose Aneinanderreihung von Beschimpfungen, verlief subtiler. Sie stellten seinen Fluchtversuch als eine unüberlegte Kurzschlußhandlung dar, die rein menschlich betrachtet durchaus zu verstehen wäre, wenn es nicht die Gemeinschaft gäbe, die er durch ein so egoistisches Verhalten, das sie doch in einer Gesellschaft wie der ihren, wo das Wohl des Kollektivs schließlich über den unwichtigen persönlichen Belangen des Einzelnen stand, kompromittiert habe. Im imperialistischen Westen, ja da konnten solche volksfeindlichen Handlungen gedeihen, aber sie waren dort auch alle dekadent und würden sich nicht mehr lange halten können, irgendwann würden auch die Werktätigen dort das erkennen und die kapitalistischen Ausbeuter zum Teufel jagen. So und ähnlich redeten sie endlos auf ihn ein.
Mehrere Stunden hintereinander überschütteten sie ihn mit ihren Worten. Er glaubte, darin ertrinken zu müssen. Sie sprachen abwechselnd, monoton, austauschbar, als hätten sie jedes ihrer Worte lange einstudiert. Fast wie beiläufig erkundigten sie sich nach seiner Familie, drangen zum Kern der Frage vor, wer ihm geholfen, ob seine Familie etwas von seinem Vorhaben gewußt haben könnte. Er verneinte alles, schwieg meist, seine Wunde brannte, sein ganzer Körper schmerzte vom Liegen auf den kalten Fliesen, die Stelle, wo ihn der andere getreten hatte, fühlte sich taub an. Er war erschöpft und hatte keine Lust mehr zu reden noch ihren Reden zuzuhören, die wie Treibsand waren, in dem er längst unwiderruflich gefangen war.
Sie verhörten ihn stundenlang. Es war ihm, als benötigten sie keinerlei Schlaf. Man ließ ihn kaum schlafen, brachte ihn nur für kurze Zeit in die kalte Zelle zurück. Er verlor jedes Gefühl für die Zeit. Er wußte nicht, ob er erst seit einigen Stunden oder gar schon seit vielen Tagen hier war, und er versank mehr und mehr in einen Treibsand aus Worten.
Und irgendwann fand er sich im Verhörzimmer der nächsten Kreisstadt wieder. Wie er dort hingekommen war, wann sie ihn aus seiner Zelle geholt und ihn in ihren Wagen verfrachtet hatten, konnte er nicht mehr sagen. Er besaß nur eine schemenhafte Erinnerung daran. Dort legten sie ihm ein mehrseitiges Papier vor, sagten ihm, es sei sein abgetipptes Geständnis, das er nur noch zu unterschreiben bräuchte und dann würde man ihn in Ruhe lassen. Es sei nur zu seinem Besten, schließlich habe er selbst ihnen ja alles bereitwillig erzählt. Er habe sie mit seinem Redefluß derart in Atem gehalten, daß sie schon dachten, ihn zum Innehalten bewegen zu müssen, da kein Ende abzusehen gewesen sei. In der Tat war das Protokoll sehr umfangreich. Es bringe nichts, wenn er ihnen nur unnütze Arbeit machen und sich weigern würde, das zu unterschreiben, was er selbst von sich gegeben hatte, damit wäre keinem gedient. Am Schluß unterschrieb er kraftlos – ihm war alles gleichgültig geworden –, ›sein‹ Geständnis, in dem er sich selbst und in aller Konsequenz unter anderem der Republikflucht bezichtigte.
Er wurde in eine Zelle gebracht, die zwar eng und schmuddelig war, aber nicht ganz so zugig, wie die in Waldeneck, falls es wirklich noch in Waldeneck gewesen war.
Man ließ ihn sich erst ein wenig erholen, ehe man ihm den Prozeß machte. Sogar einen Anwalt gedachten sie ihm zu, der ihn zweimal im Gefängnis besuchte.
Ulrich hatte sich weit genug erholt, um wieder klare Gedanken fassen zu können. Aber er fühlte sich noch immer matt. Die Schußwunde war längst verheilt, der Junge würde gewiß schon seine Belobigung erhalten haben. Und was hatte man mit seiner Familie gemacht? Das fragte er den Anwalt bei seinem ersten, nur kurz währenden Besuch.
»Wenn sie nichts mit Ihrem Vergehen zu schaffen haben, dann hat Ihre Familie auch nichts zu befürchten«, antwortete der Anwalt geschäftsmäßig.
Ulrich fühlte, daß es dem Mann gleichgültig war, was mit seiner Familie geschah. Er konzentrierte sich nur auf seinen Part in diesem Possenspiel.
Ulrich sagte nichts darauf, konnte sich jedoch sehr gut vorstellen, wie die Stasi seine Familie, seine wenigen Freunde mit Argusaugen überwachte, sie sicherlich ausgiebig verhört hatte, wenn sie ihnen nicht gar mit kleineren Schikanen das Leben von nun an erschwerten. Er konnte sich gut vorstellen, wie sein Onkel Karl und seine Tante Grete mit Entsetzen auf seine Tat reagiert hatten. Onkel Karl sah sich von nun an sicherlich jeder Möglichkeit auf einen Posten im Rat der Gemeinde beraubt, sich gar schon aus der Partei ausgeschlossen. Sicherlich hatte er keine Möglichkeit ausgelassen, seinen Neffen in ein noch schlechteres Licht zu stellen, als es ohnehin schon der Fall war, nur damit er vor seinen Parteifreunden besser dastand.
»Bekomme ich viel«, erkundigte Ulrich sich beim letzten Besuch des Anwalts vor dem Prozeß.
»Sie haben sich immerhin der Republikflucht schuldig gemacht«, sagte der Anwalt, als hätte Ulrich das schwerste Verbrechen begangen, das sich ein Mensch je vorzustellen in der Lage gewesen ist und das durch nichts gerechtfertigt werden kann. »Außerdem haben Sie ein Geständnis unterschrieben, in dem Sie es zugeben. Sie haben sogar sehr ausführlich Ihre Beweggründe beschrieben, wie Sie die Flucht vorbereitet haben, wie Sie über Jahre hinweg mit einer nahezu beispiellosen kriminellen Energie vorgegangen sind. Ich kann Ihnen gerne eine Kopie davon zeigen. Aber Sie wissen sicherlich am besten, was darin steht. Sie können schließlich nicht behaupten, Sie wüßten nichts mehr davon.«
»Nichts von alledem weiß ich«, sagte Ulrich müde. Er war sich sicher, daß der Anwalt die Wahrheit kannte. Er mußte sie einfach kennen. Keiner kann jahrelang Anwalt in einem solchen System sein, wo doch nur sehr wenige überhaupt eine Zulassung bekommen, und nicht wissen, was hinter den Kulissen ablief. »Ich habe kein Wort von dem gesagt, was darin steht. Man hat mir am Ende der endlosen Verhöre einfach ein Dokument vorgelegt, das ich dann unterschrieb, um endlich meine Ruhe zu bekommen. In dieser Verfassung hätte ich einfach alles unterschrieben, auch daß ich Schuld am Hunger in der Dritten Welt bin.«
»Daran trägt einzig der imperialistische Westen die Schuld, weil er die dortigen Ressourcen rücksichtslos ausbeutet«, entgegnete der Anwalt voller Inbrunst.
Ulrich winkte müde ab.
»Ich kann nur sagen, daß nichts von dem, was in diesem Protokoll steht, der Wahrheit entspricht.«
»Auch nicht, daß der Grenzposten Sie mehrmals anrief, stehenzubleiben und Sie nicht reagierten? Sie haben ihn sogar bedroht. Dabei ist er ein junger Mann und Sie ihm körperlich deutlich überlegen. Doch er überwand heldenhaft seine Angst und machte Sie mit einem Schuß in die Wade kampfunfähig.«
Der Anwalt sprach, als hielte er das Plädoyer des Anklägers.
»Er hat sofort auf mich geschossen. Ich wundere mich heute noch, daß er nur meine Wade traf. Er hätte mich mit Genuß umgebracht, dessen bin ich mir sicher. Womit hätte ich ihn denn bedrohen sollen? Mit meinem Seitenschneider?« sagte Ulrich ohne jeden Sarkasmus.
Für ihn waren die Grotesken an diesem Staat alltäglich geworden.
»Es steht Ihnen nicht zu, einen verdienten jungen Grenzsoldaten zu beleidigen. Sie können froh sein, daß ich Ihr Anwalt bin und Sie es nur in meiner Gegenwart sagten«, maßregelte ihn der Anwalt schroff. »Sein unmittelbarer Vorgesetzter, ebenfalls ein verdienter Mann, bestätigt den Vorgang im Wortlaut. Und wem wird man mehr glauben? Einem verdienten Unteroffizier der Nationalen Volksarmee oder einem zwielichtigem Menschen wie Ihnen? Außerdem liegt eine eidesstattliche Aussage Ihres ehemaligen Lehrers und Schulleiters Sukow vor, wonach Sie schon als Schüler mehrfach klassenfeindliche Gedanken geäußert haben. Das spricht auch nicht gerade für Sie. Und ihr Onkel, ein langjähriges treues Parteimitglied, dessen Ansehen Sie mit Ihrem Verhalten, wie auch dem Ihrer ganzen Familie geschadet haben, erklärte, daß Sie schon immer ein Einzelgänger gewesen seien und mitunter reichlich dubiose Ansichten geäußert hätten.«
Ulrich unterließ eine Antwort darauf, es wäre sinnlos gewesen. Er mußte dieses absurde Spiel, in dem die Regeln von den Herrschenden bestimmt wurden, mitspielen, er hatte keine Wahl.
»Warum gibt es eigentlich noch einen Prozeß, wenn meine Schuld ohnehin festzustehen scheint«, fragte er den Anwalt herausfordernd. »Warum überbringt man mir nicht einfach die Nachricht, wie lange ich einsitzen muß?«
»Aber Ihre Schuld muß doch erst noch bewiesen werden. Man kann doch keinen Menschen ohne ordentliches Verfahren einsperren. So etwas gibt es doch nur bei den Faschisten«, wies der Anwalt diese Unterstellung empört von sich.
Ulrich hätte soviel dagegen einzuwenden gehabt, aber er unterließ es. Er fühlte sich nicht kräftig genug dafür, und warum auch sollte er diesem Mann etwas erklären, was der so viel besser wußte? Ulrich schwieg und der Anwalt verließ ihn.
Der gesamte Prozeßverlauf wirkte auf Ulrich einstudiert. Die Worte folgten monoton aufeinander, kaum voneinander zu unterscheiden. Es war schwierig, einen Sinn herauszulesen. Gelegentlich sprach man ihn an, er sagte auch irgend etwas, aber was es war, wußte er selbst nicht. Obwohl Hauptbeteiligter an dieser Juristengroteske, fühlte er sich wie ein Unbeteiligter, der durch puren Zufall an diesen Ort gelangt war und sich nun gezwungen sah, einem skurrilen Schauspiel beizuwohnen. Alle im Saal bewegten sich wie eine Schar von, an unsichtbaren Fäden geführter Marionetten. Die eigentlichen Spieler blieben in der Unendlichkeit des Dunkels verborgen. Am Ende dieser Farce wurde das Urteil verkündet. Er achtete nicht einmal darauf, wie lange er eingesperrt werden sollte. Er war nur froh, daß diese Lächerlichkeit endlich ein Ende gefunden hatte. Nach der Urteilsverkündung glaubte er für einen Moment, jetzt würden sich alle Akteure im Saal erheben und sich vor einem imaginären Publikum verbeugen, welches ihnen für diese kurzweilige Posse stehende Ovationen zuteil werden ließ. Doch nichts von alledem geschah, statt dessen erhob sich alles unter lautem Stühlerücken. Sein Anwalt räumte seine Akten zusammen, sagte etwas zu Ulrich, auf das dieser nicht achtete und das wohl auch nicht des Beachtens wert war. Man brachte ihn wieder ins Gefängnis zurück.
Ein ganzes langes Jahr bildete eine feuchte, dunkle, schmuddelige, im Winter eiskalte und im Sommer brütendheiße Zelle sein Heim. Er hatte offensichtlich Glück gehabt. Er hatte von Gefängnissen gehört, wo Häftlinge in Zellen saßen, in denen ständig knöcheltief das Wasser stand und von anderen, in denen manchmal Häftlinge im Nichts verschwanden.
Dieses eine Jahr kam ihm endlos, wie eine Ewigkeit vor. Eigentlich waren alle seine Mithäftlinge entweder wegen Republikflucht, weil sie offen Mißstände anzuprangern versucht, weil sie unliebsame Äußerungen über die Partei und ihre Führung abgegeben, weil sie jemanden auf dessen politischer Karriereleiter im Weg gestanden hatten und ähnlich absurden Beschuldigungen verurteilt und inhaftiert worden waren, sogenannten »Vergehen gegen die sozialistische Gemeinschaft«. Ihre Verurteilungen beruhten auf ähnlich diffusen Anklagen und Geständnissen, wie die seine. Natürlich hatten auch ihre Urteile schon vorher festgestanden. Von seinen politisch aufgeklärteren Mitgefangenen – sie saßen schließlich wegen dieses Umstandes ein –, erfuhr er erst hier, daß auch er ein politischer Gefangener war, denn ein wirkliches klassisches Verbrechen hatte er ja nie begangen. Er hatte niemanden bestohlen, was in einem Land schwierig war, in dem so ungefähr alle das gleiche besaßen, ebensowenig gab es hier Banküberfälle, denn was hätten die Täter auch mit einer Währung anfangen sollen, für die sie sich nichts kaufen und mit der sie sich noch weniger ins Ausland absetzen konnten, um es dort zu verprassen, unbeachtet der Tatsache, daß die dort fürs geraubte Geld noch weniger bekamen als zu Hause. Raus kam doch kaum einer, dafür war die Grenze zu gut bewacht, besser jedenfalls als sein Gefängnis. Und wenn es doch einer schaffte, dann hatte er in der Regel Glück gehabt, es an einem Abschnitt versucht zu haben, wo die Grenzer weggesehen hatten. Doch an welchem Abschnitt ein Grenzer wegsah und an welchem nicht, wußte keiner. Und die Grenzer hüteten sich, es publik werden zu lassen, daß sie bei einem Fluchtversuch absichtlich weggesehen oder wenn es nicht mehr ging, zumindest vorbeigeschossen, und somit in vielen Fällen dem Flüchtling doch noch das Durchkommen nach ›Drüben‹ ermöglicht hatten. Das Glück hatte Ulrich leider nicht gehabt. Vielmehr hatte er noch Glück im Unglück gehabt, daß der Junge ihn erst lediglich an der Wade verletzt und dann gezögert hatte, ein weiteres Mal zu schießen.
Ulrich glaubte, es nur seiner jugendlichen Gesundheit zu verdanken, daß er dieses eine Jahr ohne große gesundheitliche Folgen überstand. Im Winter war es am schlimmsten gewesen. Die Zellen wurden kaum beheizt, der Atem kondensierte in der Luft, die Decken waren zu dünn, um nachhaltig zu wärmen. Mit von der Kälte klammen Fingern konnte man kaum etwas vernünftig festhalten. Dennoch wurde es in den Zellen nie so kalt, daß die Gefangenen Gefahr gelaufen wären, des Nachts in ihren eisigen, schlechten und unbequemen Betten zu erfrieren, dafür war es wiederum zu warm. Die Gefängnisleitung wußte, was sie den Insassen zumuten durfte.
Ulrich war zuerst überzeugt, daß dieser Winter ewig währen würde. Jeder Tag zog sich endlos hin. Schon lange vor Sonnenaufgang wurden sie geweckt, harrten in ihren schlecht beleuchteten Zellen auf den beginnenden Tag. Für die Wärter und die Leitung waren sie kaum mehr als Spielzeuge, Versuchsobjekte und nicht selten wurden sie auch zu medizinischen Experimenten mißbraucht, keine auffälligen, großen, doch darum oft nicht weniger abträglich für die Gesundheit. Davon blieb Ulrich aber verschont.
Ulrich mußte in den Augen seiner Bewacher ein ganz normaler Republikflüchtling sein, dem darüber hinaus keinerlei aufwieglerische Ambitionen nachzuweisen waren, trotz Sukows Beurteilung. Das entsprach der Wahrheit, denn er hatte sich zuvor nur sehr wenig Gedanken darüber gemacht, was alles in der DDR nicht stimmte. Von der herrschenden Willkür der Führungsleute hatte er durch Sukow lediglich einen zarten Hauch vermittelt bekommen. Er wußte, wie viele seiner Landsleute gar nicht, wie die Stasi jedes Telefongespräch überwachte und jeden Brief las, der verschickt wurde, wie sie über jeden eine Akte führten, der auch nur irgendwie und sei es durch eine, für andere unbedeutende kleinste Kleinigkeit aufgefallen war. Die Besuchsbücher, die viele Leute zu führen hatten, waren da nur die Spitze des Eisberges.
Mitten im Juli brachten sie ihn ohne Angabe von Gründen von einem Tag auf den anderen aus dem Gefängnis weg. Für den Moment glaubte er, irgendwohin überstellt zu werden, wo sie mit ihm machen durften, was sie wollten. Doch schnell stellte er fest, daß dem nicht so war. Er wurde statt dessen neu eingekleidet und bekam seine wichtigsten Papiere. Auf seine Fragen, warum das alles und wohin man ihn brachte, erhielt er zunächst nur einsilbige Antworten, aus denen er wenig herauslesen konnte. Später, als sie ihn mit dem Auto wegfuhren, sagten sie ihm, er würde aus der DDR ausgewiesen. Gründe dafür gaben sie keine an.
Sie fuhren mit ihm zu einem schwach frequentierten Grenzübergang im Thüringer Wald. Ulrichs Herz klopfte heftig, als sie die Grenze erreichten. In wenigen Minuten würde er die Grenze überqueren, die sich vor rund einem Jahr als unüberwindliches Hindernis für ihn entpuppt hatte. Seine beiden Begleiter sprachen kein Wort mit ihm. Es war heiß und stickig in dem Lada. Die Grenzer winkten ihren Wagen heran. Der Fahrer hielt und zeigte ihnen seinen Ausweis. Ulrich war sich sicher, daß sie informiert worden waren, denn der Grenzer warf nur einen kurzen Blick darauf, grüßte militärisch korrekt und ließ sie passieren. Das stand so völlig im Gegensatz zu den peniblen Kontrollen, die an dieser Grenze üblich waren und die bis zu einer völligen Demontage des Fahrzeugs führen konnten. In Ulrich stieg wieder das Gefühl auf, ein beliebiger Statist in einer Posse zu sein, ähnlich seinem Prozeß.
Der Fahrer ließ den Wagen langsam auf den Standstreifen im Niemandsland rollen. Sie mußten sich ungefähr in der Mitte befinden, schätzte Ulrich. Vermutlich waren sie zu früh gekommen, denn seine Begleiter schauten mit einem beruhigten Gesichtsausdruck auf ihre Uhren und hüllten sich weiterhin in Schweigen.
Lange brauchten sie sich nicht zu gedulden. Ulrich sah, wie sich auf der anderen Seite ebenfalls der Schlagbaum öffnete und eine große dunkle West-Limousine ihnen langsam entgegenrollte und nur wenige Meter entfernt anhielt.
Der Mann, der neben Ulrich saß, wies ihn an, auszusteigen. Ulrich folgte mechanisch. Der Mann sagte ihm nur, während er Ulrich seine Tasche ausgehändigte, er solle zu dem anderen Auto gehen. Alles weitere würden die ihm dann sagen.
Ulrich ging unsicheren Fußes die wenigen Schritte auf den anderen Wagen zu, seine Knie zitterten und fast schon glaubte er, er würde das kurze Stück nicht schaffen. Er hörte, wie hinter ihm der Mann wieder einstieg. Der Motor des Ladas wurde gestartet und seine Begleiter fuhren zurück.
Nun stieg aus dem anderen Auto jemand aus. Ein großer junger, sportlicher, leger gekleideter Mann. Er schaute ihn freundlich an.
»Willkommen im Westen«, sagte er, nahm Ulrich seine Tasche ab und wies ihn an, einzusteigen.
In diesem Auto herrschte eine angenehme Temperatur. Es mußte eine Klimaanlage besitzen. Der Mann verstaute Ulrichs Tasche im Kofferraum, dann setzte er sich neben ihn. Der Fahrer startete den Motor und wendete. Die Grenzer auf dieser Seite hatten den Schlagbaum schon geöffnet und sie fuhren langsam hindurch.
Jetzt war Ulrich im Westen, gegen harte Devisen freigekauft.
Als er in dem West-Auto sitzend, die Grenze in seinem Rücken wußte, atmete er erleichtert auf. Ein endlos geglaubter Alptraum schien ein Ende gefunden. Viel sprachen sie nicht auf der Fahrt mit ihm, doch freundlich waren sie, nichts von der Verbissenheit seiner eigenen Leute. Er war froh, ab jetzt endlich wieder ruhig schlafen zu können.
Hatte er sich zuerst in dem Glauben befunden, die Verhöre seien endlich Vergangenheit, so sah er sich bald eines Besseren belehrt. Natürlich vermittelten sie ihm hier im Westen nicht für einen Moment das Gefühl, es könne sich um ein Verhör handeln. Sie boten ihm Kaffee an, waren insgesamt sehr freundlich und überhaupt um sein Wohlergehen bemüht, setzten ihn nicht unter Druck und wiesen ihn darauf hin, er bräuchte nicht zu antworten, wenn er nicht wollte, aber dennoch war es ein Verhör. Sie befragten ihn über die Grenze bei Waldeneck, wo er verhört worden war, wie das Verhör ablief, über seine Verhandlung, über das Gefängnis in dem er das Jahr verbracht hatte, wer dort noch einsaß und weswegen, und so weiter und so fort. Er gab ihnen bereitwillig Auskunft, wissend, sie so am schnellsten los werden zu können, um endlich frei zu sein.
Auf seine Frage, warum sie denn Leute aus der DDR freikauften, gaben sie ihm zur Antwort:
»Aus Humanität allein machen wir es nicht. Das wäre auch etwas übertrieben, so dick haben wir es im Westen nun doch nicht. Wir machen es, um einen besseren Kontakt nach ›Drüben‹ zu bekommen. Außerdem können die Geld dringend gebrauchen«, fügte der Mann mit einem ironischen Grinsen hinzu.
Sie benachrichtigen seine Tante Hermine, die ein Jahr vor dem Mauerbau über Berlin in den Westen geflüchtet war und heute in einem kleinen Ort nahe Frankfurt lebte. Ihr Mann besaß eine gutgehende Tischlerei. Weihnachten hatte sie ihnen immer große Pakete mit hochwertigem Kaffee und echter Schokolade geschickt, nicht den Ersatz, den sie bei sich hatten. Gelegentlich schrieb sie ihnen auch einmal außerhalb der Festtage, Belangloses nur, man wußte ja, wie die Stasi die Briefe aus dem Westen kritisch beäugte und man wollte wenigstens auf diesen kleinen Kontakt zum Westen nicht verzichten, nicht auf die echte Schokolade, den guten Bohnenkaffee. Besucht hatte sie sie nie. Irgendwie fehlte ihr immer die Zeit dazu, auch hielt sie nicht viel vom Zwangsumtausch, der in ihren Augen eine reine Devisenbeschaffungsmaßnahme darstellte.
Aber sie waren bereit ihn aufzunehmen.

 

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