Kurzes #110 – Unkonventionelle Maßnahmen

von
Armin A. Alexander

Fortsetzung von: Nachhife tut Not und Der wilhelminische Erziehungsratgeber

 

»Wir müssen unbedingt miteinander reden«, sagte er anstelle einer Begrüßung, kaum daß er hinter Ulla die Tür geschlossen hatte.

Unsicher, wie sie seinen Vorschlag aufnehmen würde, war sein Tonfall ernster als beabsichtigt ausgefallen. Das versetzte ihr einen schmerzlichen Stich. Ihre Ahnung schien sich zu bestätigen, daß er die Zusammenarbeit aufkündigen wollte, doch hatte sie gehofft, er würde noch etwas Geduld mit ihr haben.

»Du willst also aufhören«, klang ihre Stimme unüberhörbar belegt.

Sie sah ihn enttäuscht aus großen Augen an. Es war nicht allein weil sie fürchtete, er könne den Nachhilfeunterricht abbrechen, wenngleich sie das Andere noch vor sich selbst verbarg.

Ihre Enttäuschung wiederum versetzte ihm einen Stich. Nicht nur weil es ihm leid tat, daß sie selbst kaum noch Hoffnung für sich sah.

Ihr wurde bewußt, wieviel ihr daran lag, gerade mit ihm zu lernen – noch mehr als die Prüfung zu bestehen – das war ein Muß, davon hing ihre Zukunft ab, immerhin stand die Arbeit von fünf Jahren auf dem Spiel.

»Das habe ich nicht gesagt«, beeilte er sich richtigzustellen.

Ihr Blick hellte sich auf. Beruhigt war sie aber noch nicht.

»Was schlägst du vor?« fragte sie, bereit, so ziemlich alles zu versuchen.

»Du wirst es bestimmt als absolute Schnapsidee ansehen, was ich gut verstehen könnte«, begann er mit der in den meisten Fällen völlig ungeeigneten Salamitaktik.

»Solltest du das nicht mir überlassen?« fragte sie höflich aber ungeduldig. Sie haßte nichts mehr als wenn jemand um den heißen Brei herumredete.

»Sicher, klar«, ging ihm selbst auf, daß dies der falsche Weg war. Er atmete tief durch und sagte: »Dein Problem ist mangelnde Aufmerksamkeit.« Sie nickte beipflichtend. Niemand wußte das besser als sie selbst! »Darum habe ich mir etwas überlegt, wodurch es dir leichter fallen könnte, dich zu konzentrieren. Es ist aber – sagen wir mal – etwas ungewöhnlich.«

»Wenn es hilft«, meinte sie mit leichtem Achselzucken, obwohl sie sich nicht im geringsten vorstellen konnte, was er sich ausgedacht haben könnte.

»Du wärst wirklich bereit, es zu versuchen?« vergewisserte er sich nochmals.

Sie bejahte erneut, jetzt schon etwas ungehaltener. Reichte ihm nicht ein Ja? Das war typisch Mann, nie wirklich gerade heraus, selbst einer wie er nicht.

»Also gut«, sagte er mehr zu sich selbst.

»Was ist es?« fragte sie mehr neugierig als ungeduldig und sah sich im Zimmer um.

Ihr fiel auf, daß nur ein Stuhl am Tisch stand und ein Kissen auf dem Boden daneben lag. Aber sie brachte beides nicht miteinander in Verbindung.

»Es besteht darin«, begann er mit einer gewissen Feierlichkeit, feucht werdenden Handflächen und sich beschleunigendem Herzschlag, »daß du während unserer Stunde vor dem Tisch knien wirst. Natürlich auf einem Kissen und nicht auf dem nackten Boden«, fügte er schnell hinzu.

»Das ist deine Idee?« Irgendwie hatte sie sich etwas anderes vorgestellt, mehr eine Art Meditationsübung oder etwas Vergleichbares.

»Ich habe ja gesagt, daß es ungewöhnlich ist. Ich kann verstehen, wenn du das für ausgemachten Schwachsinn hältst.«

»Ich habe nicht gesagt, daß ich – wie du so schön sagst – das für ausgemachten Schwachsinn halte«, sagte sie in einem Tonfall als halte sie seine Aussage, es könne sich bei seinem Vorschlag um einen solchen handeln, für ausgemachten Schwachsinn. Ihr Widerspruchsgeist war geweckt. »Ich habe nur nicht damit gerechnet. – Versuchen kann man’s ja mal.«

Sie schenkte ihm ein Lächeln, das ihn warm durchlief.

Ohne ein weiteres Wort rückte sie sich das Kissen zurecht und kniete sich darauf.

Ihm fiel ein Stein vom Herzen. Daß es so leicht sein würde hätte er nicht gedacht.

Er setzte sich auf den Stuhl neben ihr.

Es war eine merkwürdige Situation. Zudem reichte sie ihm so mit dem Kopf nur noch bis zur Schulter. Aber es schien ihr merklich leichter zu fallen, sich zu konzentrieren, wenn auch noch nicht so gut, wie er sich gewünscht hätte.

Im ersten Moment hatte es sie schon ein wenig amüsiert, es für einen netten Versuch gehalten, aber es schien tatsächlich zu wirken. Sie hatte sich das Knien leichter vorgestellt, vor allem durch das Kissen. Verhältnismäßig schnell mußte sie erkennen, daß es alles andere als eine bequeme Stellung war. Sie konnte nun gut nachvollziehen, warum in einer solchen Haltung Gebete stattfinden sollten – da ihre Eltern allem Religiösen mit Ablehnung gegenüberstanden, war sie nicht getauft und mit dem ganzen Brimborium – wie sie es selbst beschrieb – nie Berührung gekommen und vermißte es in keiner Weise. Allerdings wäre es ihm gegenüber nicht fair, würde sie wehleidig abbrechen. Schließlich hatte er sich etwas dabei gedacht. Ihm mußte wirklich viel an ihrem Erfolg liegen, wenn er sich gezwungen sah, zu derart ungewöhnlichen Methoden zu greifen. Hoffentlich merkte er nicht, daß das Knien sie anstrengte. Sie mußte sich ablenken, sich auf etwas anderes konzentrieren, den Schmerz vorübergehend aus ihrem Bewußtsein verbannen. Sie bemühte sich, sich auf seine angenehme Stimme zu konzentrieren, seinen Erklärungen zu folgen. Je mehr sie sich darauf konzentrierte, desto mehr vergaß sie das unangenehme Gefühl in den Knien und den Oberschenkeln. Überrascht stellte sie ab einem bestimmten Punkt fest, daß es ihr eine eigentümliche Freude bereitete, durchzuhalten, ihr das Überwinden des Schmerzes sogar ein besonderes Lustgefühl bereitete.

Es entging ihm durchaus nicht, daß es sie anstrengte. Aber sagte er ihr jetzt, daß sie nicht weiterhin knien müsse, wenn sie nicht mehr könne, würde das seine Autorität als Lehrer untergraben. Abgesehen davon hätten sie nichts dabei gewonnen.

Nach einer knappen Stunde fand er, daß es für diesmal genug war. Sie hatten das bescheidene Pensum geschafft, das er für sie ausgesucht hatte.

So steif hatten sich ihre Gelenke noch nie angefühlt, war sie überzeugt, als sie versuchte aufzustehen. Im ersten Moment gelang es ihr nicht so richtig, sich auf ihren hohen Absätzen zu halten, obwohl sie sonst absolut sicher darauf ging und sie ihr eigentlich gar nicht hoch genug sein konnten.

Hilfesuchend lehnte sie sich für einen Moment an ihn. Er faßte sie stützend um die Taille. Es war das erste Mal, daß sie sich körperlich so nahe kamen. Obwohl die Berührung nur wenige Augenblicke dauerte, enthielt sie doch mehr als nur Hilfsbereitschaft, wenngleich beide das noch nicht so empfanden.

»Wann sehen wir uns wieder?« fragte sie hoffnungsvoll.

»Montag?«

»Montag paßt gut.«

»Gut.«

»Ich finde, daß es keine Schnapsidee von dir war«, sagte sie entschieden von einem Lächeln begleitet zum Abschied.

Er schloß die Tür hinter ihr und hörte, wie sie fröhlich die Treppe hinunterlief.

Das lief ja besser als er gehofft hatte. Aber es war nur ein Anfang. Jedesmal knien lassen konnte er sie nicht, irgendwann hatte sie sich auch daran gewöhnt und die Gefahr der Ablenkung kehrte wieder zurück.

 

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