Kurzes #15 – Die neue Wirtin
von
Armin A. Alexander
Der folgende Text ist das erste Kapitel der Erzählung »Ein neues Zimmer« aus dem veraussichtlich im Spätsommer erscheinenden Erzählband »Felizia & Felix«
Das Zimmer war geräumig, die Möbel unübersehbar neu. Das breite Bett, dessen Matratze sogar noch neu zu riechen schien, der Kleiderschrank wie auch das hohe schmale Regal, bislang ohne Inhalt, wollten erst noch in Besitz genommen werden. Nur der Schreibtisch und die beiden um einen niedrigen Tisch mit einer farbenfrohen flachen Keramikschale darauf, aufgestellten bequemen Sessel waren eindeutig älteren Datums, jedoch sehr gut gepflegt.
»Es ist hier den ganzen Tag über sehr ruhig«, war ihr Bemühen offensichtlich, daß er das Zimmer nahm.
Sie stand mit vor dem Schoß gefalteten Händen im Türrahmen und beobachtete ihn erwartungsvoll, während er sich umschaute.
Die Art wie er das Zimmer durchmaß verunsicherte sie leicht. Es gelang ihr nicht die Befürchtung zu unterdrücken, daß es ihm nicht gefallen könnte. Er war zwar nicht der erste Interessent, aber der erste, der ihr zusagte. Da sie nicht gezwungen war zu vermieten, konnte sie wählen. Selbst wenn es anders wäre, hätte sie zwei Bewerbern auf jeden Fall abgesagt. Der eine war ein älterer Herr. Nicht daß sie etwas gegen ältere Herren hatte. Jener hätte gut als Inbegriff des kultivierten ruhigen Vertreter seiner Gattung herhalten können. Wäre es ihr lediglich ums Geld gegangen, hätte sie sich keinen besseren Mieter vorstellen können. Der andere Bewerber war eine Frau, die von ihrer Firma für einige Monate in diese Stadt versetzt worden war und letztlich nichts anderes brauchte als eine Schlafgelegenheit für unter der Woche, da sie am Wochenende grundsätzlich zu ihrer Familie fuhr. An ältere Herren und Frauen wollte sie jedoch prinzipiell nicht vermieten. Darüber hinaus hatten noch zwei Studenten auf die Annonce reagiert, bei denen sie für kurze Zeit Zweifel hegte ob sie nicht doch einen von ihnen nehmen sollte. Letztendlich hatte sie sich dagegen entschieden; sie waren ihr einfach zu jung. Ihn dagegen sah sie bereits beim Vorgespräch am Telephon als aussichtsreichsten Kandidaten. Als er dann vor ihrer Tür stand sagte ihr die Intuition, daß er möglicherweise der Richtige sei.
»Vom Fenster aus haben Sie einen guten Blick in den Garten«, fuhr sie mit ihrer Anpreisung fort, eifriger als sie es wohl beabsichtigt hatte. »Er war der Stolz meines verstorbenen Mannes«, hier schneuzte sie sich leicht, aber es wirkte künstlich. Ihm schien es als sei sie überzeugt, daß dies von ihr erwartet würde. »Ursprünglich wollte mein Mann hier ein Arbeitszimmer einrichten, doch er kam nicht mehr dazu. Einzig den Schreibtisch konnte er noch anschaffen. Ich habe alles gut gepflegt.«
Für einen Moment erwog Gero das Zimmer nicht zu nehmen, obwohl es ihm zusagte, auch war der Preis zu dem sie es vermieten wollte – einhundertfünfzig Euro im Monat – für die relativ nahe Lage zum Zentrum bemerkenswert günstig. Trotzdem verspürte Gero nur wenig Lust in einer Art Mausoleum zu leben, wo alles und jedes an den verstorbenen Vorbesitzer erinnerte und nichts verändert werden durfte.
»Ich vermiete es letztlich nur, weil ich in dem großen Haus nicht allein sein möchte«, hatte sie Gero bereits am Telephon erklärt, so daß ihr später nicht der Vorwurf gemacht werden konnte, sie habe andere Gründe vorgeschoben, und schnell hinzugefügt – war es doch für sie mit der ausschlaggebende Punkt bei ihm: »Und an einen Kulturjournalisten sogar gerne.«
Gero hatte sich ihr als Journalist für kulturelle Themen vorgestellt, was nicht so ganz der Wahrheit entsprach. Er schrieb zwar hin und wieder Artikel, Kritiken und Essays über Literatur und gelegentlich auch über Kunst, aber nur um sich einigermaßen über Wasser halten zu können. Eigentlich war er Schriftsteller, doch bisher über die Veröffentlichung mehrerer Kurzgeschichten in Literaturzeitschriften und einen Band mit Erzählungen, der in einem kleinen rührigen Verlag erschienen war, nicht hinausgekommen. Leider verkaufte sich der Band mehr schlecht als recht, obwohl ihm von verschiedener Seite außergewöhnliche Begabung bescheinigt wurde und die Kritik sich seiner wohl wollend angenommen hatte.
»Wir haben unser Haus einfach zu großzügig geplant«, fuhr sie fort, während Gero durch das Fenster einen Blick in den gepflegten Garten warf. »Aber mein Mann meinte, daß es seiner Stellung angemessen sei.«
Gero konnte sich nicht helfen, sie klang wie eine ältere Frau die nach mindestens vierzig Jahren Ehe – einschließlich mittlerweile erwachsenen Kindern, die längst ihr eigenes Leben lebten, vermutlich gab es bereits Enkelkinder – plötzlich von einen Tag auf den anderen in die Witwenschaft gestoßen wurde und nun versuchte sich mit der Einsamkeit zu revanchieren, was ihr mehr schlecht als recht gelingen wollte.
»Im Prinzip gefällt mir ein großer Garten«, fuhr sie wie beiläufig plaudernd fort, um jeden Eindruck zu vermeiden, sie wolle ihm das Zimmer aufdrängen. Sie hoffte, daß er, je länger diese Besichtigung dauerte, sich leichter entschließen würde das Zimmer zu nehmen. »Es erinnert mich an meine Kindheit. Meine Großeltern besaßen einen vergleichbar großen Garten.«
Gero hörte ihr lediglich mit halbem Ohr zu. Er würde das Zimmer doch nehmen. Allein auf Grund der Miete konnte er nicht ablehnen, aber noch mehr, weil er einfach nicht länger in Wolfs Atelier wohnen wollte und konnte. Wolf war ohne Zweifel ein lieber Kerl und prima Kumpel, was auch niemand, der ihn näher kannte jemals ernsthaft bestritten hätte, doch er lebte in seiner eigenen Welt. Daneben begann Gero der Geruch von Ölfarbe und Zitrusterpentin, der bei Wolf alles zu beherrschen schien, lästig zu werden. Für sich genommen war es kein wirklich unangenehmer Geruch, doch durchdrang er bei Wolf wirklich alles. Selbst soeben mitgebrachtes frisches Gemüse schien bereits danach zu schmecken. Zudem mußte man immer aufpassen, daß man sich nicht auf einen der vielen mit Farbe getränkten Lappen setzte, die Wolf so gerne überall achtlos verteilte.
»Ich nehme es«, sagte Gero laut und wandte sich ihr wieder zu.
»Wenn Sie wollen, können Sie sofort einziehen«, war sie sichtbar erleichtert über seine Entscheidung.
»Es wäre mir ganz recht«, sagte Gero von einem lautlosen inneren Seufzer begleitet.
Er konnte die Befürchtung nicht unterdrücken, daß seine Wirtin ihn ›bemuttern‹ könnte. Sie schien der Typ dafür zu sein, zumindest weckte ihr Auftreten diesen Gedanken bei ihm, obwohl sie überhaupt nichts Mütterliches an sich hatte.
Sie hatte nach ihrem Telephonat den Eindruck einer ältlichen Witwe irgendwo in den Sechzigern bei ihm hinterlassen. Einzig ihre relativ junge Stimme, deren Tonfall Unsicherheit verriet, hatte ihn irritiert. Sie hatte ihm erzählt, daß sie seit zwei Jahren Witwe sei. Ihr Mann, ein hoher Beamter bei der Stadtverwaltung, war nur wenige Jahre vor dem wohl verdienten Ruhestand plötzlich einem Herzinfarkt erlegen.
Darum war Gero umso überraschter als ihm eine etwas mehr als mittelgroße ausnehmend attraktive, für seinen Geschmack allerdings ein wenig üppige Enddreißigerin in unaufdringlicher Eleganz gekleidet öffnete, das dichte schwarze Haar mittellang und gut frisiert. Ihr Make-up war viel zu sorgfältig auf Wirkung bedacht aufgelegt als daß sie sich immer so schminkte, doch in keiner Weise aufdringlich. Im ersten Moment hielt er sie für die Tochter. Auch jetzt fiel es ihm noch schwer, ihre Erscheinung mit dem Bild in Einklang zu bringen, das er sich während des Telephonats von ihr gemacht hatte. Was verhinderte, daß er ihre durchaus nicht schwache erotische Ausstrahlung bewußt wahrnahm. Er fühlte sich auf eine gewisse Weise zu ihr hingezogen, der wahre Grund weshalb der das Zimmer nahm, auch wenn er es vor sich selbst nicht eingestehen wollte, sondern schrieb es dem trotz allem liebenswerten Eindruck zu, den sie auf ihn machte.
Anfangs war es ihm nicht aufgefallen, aber ihr Parfum war trotz der fruchtigen Note ein wenig schwer; es beherrschte schnell den Raum.
Er zahlte sofort die erste Monatsmiete. Sie setzte sich an den Schreibtisch, wobei sie die Beine mit der lässigen Eleganz einer Frau übereinanderschlug, die um deren Schönheit und Wirkung weiß. Der seitliche Schlitz des Rocks öffnete sich dabei soweit, daß er ein Teil des Strumpfsaums sichtbar werden ließ. Dadurch zog sie unwillkürlich Geros Blick auf sich und er nahm sie zum ersten Mal bewußt als Frau und nicht nur als seine neue Wirtin wahr. Für den Moment durchfuhr ihn ein angenehmes Gefühl, was nicht nur mit der Tatsache zusammenhing, daß sie Strümpfe und keine Strumpfhose trug.
Sie schien den bewundernden Blick, den er auf ihre Beine, ihre schmalen Fesseln, ihren durch den Rockschlitz teilweise entblößten muskulösen Oberschenkel ruhen ließ, nicht zu bemerken. Sie stellte ihm eine Quittung in einer steilen, ein wenig fahrig wirkenden Handschrift aus und reichte ihm die Quittung mit einem leicht zaghaften freundlichen Lächeln. Sie wollte ihre Zufriedenheit nicht zu offen zeigen, aus Furcht, er könnte es sich im letzten Moment noch anders überlegen.
Gero nahm die Quittung entgegen und fragte sich, warum ihm nicht schon eher aufgefallen war, daß sie schöne gepflegte Hände mit schlanken Fingern hatte, deren halblange Nägel sie in einem hellen Rot lackiert hatte.
Gero steckte die Quittung achtlos in die Jackentasche. Sie stand mit einer fließenden Bewegung auf und übergab ihm die Schlüssel. Nun war das Geschäft perfekt. Mit einem sichtlich erleichterten Lächeln geleitete ihn zur Tür.
Obwohl Gero sich immer noch nicht darüber im klaren war, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte, war er froh bereits diese Nacht wieder in einem richtigen Bett schlafen zu können und nicht mehr mit Wolfs zwar breiter doch reichlich unbequemer Schlafcouch vorliebnehmen zu müssen.
Wolf tat zwar so, als bedauere er es, Gero als Mitbewohner zu verlieren, doch seine Mimik sprach allzu offen ihre eigene Sprache. Der in seinen Augen vorhandene Ordnungsfimmel des Freundes war ihm bereits lästig geworden. Gero nahm es Wolf nicht übel. Er empfand ähnlich. Wolf fuhr Geros Sachen; die Wäsche, die wenigen Bücher, das nicht mehr allzu neue Notebook mit dem altersschwachen Kombi zu seinem neuen Domizil. Geros neue Wirtin hielt sich während des Einzugs erfreulicherweise im Hintergrund und Wolf verschwand, kaum daß sie die Sachen in Geros Zimmer geschafft hatten. Ordentliches Einräumen war nicht Wolfs Ding, er vertrat den Grundsatz; wo etwas lag konnte es liegen bleiben, man fand es später umso leichter wieder. Gero war zwar auch kein Freund übertriebener Ordnung, doch gewisse Dinge wußte er gerne an ihrem Platz. Suchen war ihm lästig.
Das Bett zwar zwischenzeitlich bezogen worden. Die unaufdringlich gemusterte Bettwäsche, nicht unangenehm zum Ansehen, roch frisch, war mit Sicherheit im Garten getrocknet und schien neu zu sein. Wolf dagegen ›vergaß‹ bisweilen frische Wäsche aufzuziehen, auch etwas, was ihn an dem Freund störte. Während seiner Zeit bei Wolf hatte Gero dafür gesorgt, daß stets saubere Bettwäsche zur Verfügung stand.
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