Wolfgang Borchert »Die Hundeblume«

von
Armin A. Alexander

Interpretationen

Ein junger Mann wird in eine Einzelzelle mit der Nummer 432 gesperrt. Seine ersten Gedanken drehen sich darum, wie schwer es ist, mit sich selbst allein sein zu müssen. Jeden Morgen müssen die annähernd achtzig Gefangenen im Hof im Kreis um ein kleines armseliges Rasenstück gehen, von einem Dutzend Blauuniformierter bewacht. Die Monotonie, die Einsamkeit in den Zellen, das schlechte und unzureichende Essen lassen aggressiv werden. Der junge Gefangene beginnt seinen Vordermann, den er bei sich die Perücke nennt und von dem er nie das Gesicht sieht, zu hassen. Ihm wird aber auch bewußt, daß er auf seinen Hintermann ebenso wirken muß wie sein Vordermann auf ihn und jeder zugleich Hinter- und Vordermann ist. Während dieser täglichen Rundgänge, die sich in nichts voneinander unterscheiden, entdeckt er mitten auf dem kargen Rasenstück einen Löwenzahn – die Hundeblume. Zuerst blickt er zaghaft zu ihr hinüber, damit niemand der anderen sie entdeckt. In ihm entwickelt sich der Wunsch diese kleine unscheinbare gelbe Blume zu besitzen. Er überlegt, wie es ihm gelingt, sich ihr zu nähern und sie zu pflücken, ohne daß weder einer seiner Mitgefangenen noch einer der Wärter es bemerkt. Kurz vor seinem Ziel bekommt sein Vordermann, die Perücke, einen Herz- oder Schlaganfall und ist auf der Stelle tot. Die kleine Blume rückt wieder aus der Reichweite des jungen Gefangenen, der am nächsten Morgen einen neuen Vordermann hat, dessen Gewohnheit es ist, sobald er an einem Wächter vorbeikommt »Gesegnetes Fest, Herr Wachtmeister« zu sagen und sich dabei leicht zu verbeugen. Der junge Gefangene rechnet aus, daß sein Vordermann, dem er den Namen Theologe gibt, zweihundertundvierzig Verbeugungen am Tag macht und er sich deshalb ebensooft konzentrieren muß, darüber nicht verrückt zu werden. Mit einer harmlosen List gelingt es ihm, zu einem neuen Vordermann zu kommen, einem schlaksigen Riesen. Im Schutz dieses phlegmatischen Vordermanns gelingt es ihm endlich, die kleine Blume zu pflücken und unbemerkt mit in die Zelle zu nehmen. Dort stellt er sie in seinen Trinkbecher und betrachtet sie sehr lange. Sie gibt ihm den inneren Frieden zurück.

 

In seiner ersten größeren Prosaarbeit, entstanden im Winter 1945/46 im Hamburger Elisabeth-Krankenhaus, verarbeitet Wolfgang Borchert Erfahrungen aus seiner Haftzeit. Nachdem er in eine Zelle gesperrt wurde, macht sein Protagonist sich Gedanken über Türen, das Schließen von (Haus-)Türen hinter einem im allgemeinen und über die »[–] häßliche Tür mit der Nummer 432 [–]« im besonderen. Seine Gedanken wandern zu der Problematik, was es heißt wirklich mit sich allein sein zu müssen ohne Aussicht auf Gesellschaft eines anderen Menschen, allein mit sich und seiner Angst. Der Gefangene erkennt seine Ohnmacht. »[–] Man schlägt wohl ein paar Stunden an Wand und Tür – aber wenn sie sich nicht auftun, sind die Fäuste bald wund, und der kleine Schmerz ist dann die einzige Lust in dieser Öde. [–]« Aber »[–]Es gibt wohl nichts Endgültiges auf dieser Welt. Denn die eingebildete Tür hatte sich aufgetan und viele andere dazu [–]«. Der Gefangene 432 – Einem Menschen statt eines Namens eine Nummer zugeben ist der Versuch ihm seine Individualität abzusprechen, was aber niemals vollständig gelingen wird, denn Individualität hängt nicht von einem Namen allein ab. Der Gefangene 432 wird mit seinen Mitgefangenen zum morgendlichen Rundgang im Hof abgeholt. Bei Borchert sind nicht nur die Gefangenen anonyme Wesen in dieser Umgebung, sondern ihre Bewacher ebenso. Borchert vergleicht sie mit (Wach-)Hunden »[–] ein heiseres Bellen von blauen Hunden mit Lederriemen um den Bauch. [–]«, womit er zugleich ihre einschüchterne Wirkung auf die ihnen hilflos ausgelieferten Gefangenen unterstreicht. Borchert beschreibt in seiner bildreichen Sprache eindrucksvoll die Eintönigkeit der morgendlichen Rundgänge, aber auch die willkommene Abwechslung, die die Gefangen dabei zuerst empfinden. »[–] Fast ein Fest, ein kleines Glück [–]«. An das sich aber gewöhnt werden kann und mit der Zeit wird der »[–] Rundgang im Kreis eine Qual [–]«. Die Hoffnungslosigkeit jemals aus dieser Situation entkommen zu können, läßt aggressiv werden, den »[–] Vordermann und Hintermann nicht mehr als Brüder und Mitleidende [–]« zu empfinden, »[–] sondern als wandernde Leichen, die nur dazu da sind, uns anzuekeln [–]«. Und Borchert vergleicht die Runde der Gefangenen mit einem »endlosen Lattenzaun« in dem jeder Gefangene eine Latte darstellt. Die Lattenzaun-Metapher bekommt durch die Beschreibung des kleinen Rasenstücks, das die Gefangenen umrunden eine besondere Bedeutung. Mit einem Zaun wird schließlich ein Beet vor dem Betreten und somit Zerstören geschützt, somit schützen die Gefangenen den die Sonne symbolisierenden Löwenzahn, den der Gefangene 432 unbedingt besitzen will. Zuerst aber reflektiert Borchert über seinen Vordermann, gesteht offen seinen Haß gegen ihn, erkennt aber auch, daß hier jeder zugleich Vorder- und Hintermann ist und somit automatisch Hasser und Gehaßter, daß jeder zugleich Täter und Opfer sein kann und die augenblickliche Lage bestimmt, welche Stellung einer einnimmt. Der Löwenzahn – die Hundeblume wie Wolfgang Borchert sie volkstümlich nennt – ist hier nicht einfach als Abwechslung innerhalb eines hoffnungslosen immergleichen auswegslosen Daseins zu sehen, sondern Symbol des Lebens, der Hoffnung, das auch in der trostlosesten Umgebung wachsen kann. Zugleich symbolisiert das Gelb, die Form des Löwenzahns – der ja wie miniaturisierte Ausführung der Sonnenblume erscheint – die leben spendende Sonne, das Licht und somit auch die Freiheit. Sie soll nicht nur die Zelle dekorieren. Diese kleine Blume gibt dem Gefangenen Kraft, auch die ihm bevorstehende Hinrichtung gefaßt entgegen zu blicken, woran Borchert im letzten Absatz keinen Zweifel läßt, daß seinem Protagonisten dies bevorsteht: »[–] Die ganze Nacht umspannten seine glücklichen Hände das vertraute Blech seines Trinkbechers [in das er den Löwenzahn gestellt hat. Anm. d. A.], und er fühlte im Schlaf, wie sie Erde auf ihn häuften, dunkle, gute Erde, und wie er sich der Erde angewöhnte und wurde wie sie – und wie aus ihm Blumen brachen: Anemonen, Akelei und Löwenzahn – winzige, unscheinbare Sonnen.«

Wolfgang Borchert konnte einem solchen Schicksal entkommen, wenn er es auch nicht lange überlebte, Millionen andere nicht. Durch die Schilderung seiner Erfahrungen hat er ihnen eine Stimme gegeben.

 

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2 Kommentare zu „Wolfgang Borchert »Die Hundeblume«

  1. Spaeterpeter sagt:

    Schön, dass sich noch Leute mit Borchert auseinandersetzen. Ich habe immer das Gefühl, dass er doch allzu häufig vergessen wird.

    An dieser Stelle aber mal eine Frage: Weiß jemand, warum der Löwenzahn auch Hundblume genannt wird?

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