Kurzes #19 – Eva muß nachdenken

von
Armin A. Alexander

Der folgende Text stellt einen kurzen Auszug aus dem noch mitten im Entstehen befindlichen Kriminalroman »Ein (fast) alltäglicher Fall«. In einer Siedlung, die abgebrochen werden soll um Neubauten Platz zu machen, wird die Leiche einer Frau gefunden, die nackt auf einem alten Bettgestellt gefesselt liegt. Wer hat sie gefesselt und mit einem Seidenschal gewürgt? Es wird in alle Richtungen ermittelt. Die Kommissarin Eva Gerbroth begibt sich im Rahmen ihrer Ermittlungen auch in die örtliche BDSM-Szene. Dabei erfährt sie mehr über sich selbst als über ihren Fall, der bald eine überraschende Wende nimmt.

Eva startete den Motor. Noch länger hier zu stehen, machte keinen Sinn. Sie fühlte sich einigermaßen in der Verfassung, fahren zu können. Langsam ließ sie den Wagen im Rückwärtsgang zur Straße zurückrollen.
Eva fuhr bedächtig. Sie konzentrierte sich ausschließlich auf den Verkehr, ließ gar keine andere Gedanken zu, als ihr Fahrzeug sicher zu lenken. Sie wußte bereits, wohin sie fahren wollte. Sie mied die Autobahn und nicht allein, weil sie fürchtete erneut in einen Stau zu geraten.
Sie fuhr stadtauswärts. Die Bebauung wurde spärlicher, der Verkehr insgesamt dünner. Eva beschleunigte etwas. Der Sechszylinder surrte ruhig und gleichmäßig wie eine geölte Nähmaschine, die Straßenlage war einfach traumhaft. Seit sie das Coupé besaß, empfand Eva Autofahren zum ersten Mal als etwas Sinnliches.
Die verregnete Sommerlandschaft zog an ihr vorbei. Die Straßen führten kontinuierlich bergauf, durchschnitten große Weideflächen, auf denen vereinzelt Kühe und Schafe weideten. Bewaldete Hänge schlossen an die Weideflächen an, die von schmalen Bächen zerteilt wurden. Das vom Dauerregen schwere Laub drückte die Äste nieder und war von einem intensiven Grün, wie es sich nur nach langen Regenperioden einstellt. Eine kurze örtliche Schauer ging nieder. Eva schaltete die Scheibenwischer ein. Daß es durch das leicht geöffnete Seitenfenster hereinregnete, störte sie nicht.
Es schien für sie kaum vorstellbar, daß die Großstadt lediglich eine halbe Autostunde entfernt lag.
Nur hin und wieder begegneten ihr andere Fahrzeuge. Sie drosselte das Tempo während sie durch einen kleinen Ort fuhr, der nur aus der Hauptstraße und einigen kleinen Häusern bestand, nahm eine Kurve mit kaum verminderter Geschwindigkeit, ohne daß ihr Wagen auch nur im Ansatz ausgebrochen wäre.
Der Verkäufer hatte nicht übertrieben, was die Fahreigenschaften betraf. Er hatte sie offenkundig für erfolgreiche Geschäftsfrau gehalten in dem eleganten hellen körperbetonenden Kostüm mit dem kurzen Rock, das sie damals getragen hatte. Eva mußte schmunzeln, wenn sie daran dachte, daß er ihr den Wagen auf eine Weise angepriesen hatte, als schildere er die Vorzüge eines potentiellen Liebhabers. Um ihm einen Gefallen zu tun und weil sie irgendwie Lust dazu gehabt hatte, die kokette aber auch distanzierte Dame zu spielen, war sie auf eine Weise in den Wagen gestiegen, hatte sie ihn am Anblick ihrer schönen langen, hellbestrumpften Beine teilhaben lassen, die ihm ein wenig den Atem geraubt hatte und in ihm erst recht die Überzeugung gefestigt haben muß, daß es sich bei ihr um eine kultivierte Frau handelte, die stets genau wußte, was sie wollte und sich niemals das Heft aus der Hand nehmen ließ. Von diesem Verkaufsgespräch würde er sicherlich noch lange schwärmen.
Die Straße machte eine langgezogene Kurve und führte durch ein Waldstück.
Eva drosselte kurz vor dem Ende der Kurve das Tempo und bremste vor einem schmalen asphaltierten rechter Hand in den Wald hineinführenden Weg ab. Sie bog in den Weg hinein und fuhr ihn im Schrittempo soweit entlang, bis der Wald aufhörte und den Blick auf ein kleines Tal freigab. Hier ging der Weg in einen unbefestigten Forstweg über.
Eva ließ den Wagen auf dem Forstweg ausrollen und stellte den Motor ab. Angenehme Stille umfing sie.
Sie hatte den Weg so sicher gefunden, als fahre sie täglich hierher. Sie hatte noch keinem von dieser Stelle erzählt, nicht einmal Birger mit dem sie solange wie noch mit keinem Mann zuvor zusammen gewesen war. Sie fuhr nicht oft hierher, nur wenn sie mit sich allein sein mußte.
Sie löste den Sicherheitsgurt, sah den Wassertropfen zu, wie sie vom Wagendach über die Windschutzscheibe hinunter zur Motorhaube liefen.
Eva atmete tief durch und stieg aus. Sie zog die Jacke dichter um den Körper. Es fielen nur noch wenige Tropfen. Für die Aussicht ins Tal, die sich ihr bot, hatte sie im Augenblick wenig Sinn. Ihr steckte die Panikattacke noch zu sehr in den Gliedern. Sie ging einige Schritte den Weg entlang vom Wagen weg. Der Regen hatte tiefe Pfützen in den Vertiefungen hinterlassen. Eva umrundete sie ohne großartig auf sie zu achten.
Sie blieb stehen und schaute in das kleine Tal hinunter. Der Rand neben dem Feldweg fiel ein Stück steil ab und war mit knorrigen alten Sträuchern bewachsen. Dann kam eine sanft abfallende Wiese, die bereits abgegrast war und die wiederum von einem Weidezaun begrenzt wurde, an den ebenfalls eine Wiese grenzte. Auf der anderen Seite des Feldweges stieg das Gelände sanft an und ging nach wenigen Metern in den Wald über, durch den sie zuvor gefahren war. Leise drang das Geräusch eines vorbeifahrenden Autos zu ihr. Von ihrem Standort aus war die Straße nicht zu sehen.
Schmutziggraue Wolkenfetzen zogen gemächlich am bleigrauen Himmel vorüber.
Das Bild der Toten im Abbruchhaus erinnerte Eva an eine Phantasie, die sie seit Monaten in den verschiedenen Variationen hatte; sie selbst von einem Mann gefesselt, die Augen verbunden, auf einem Bett, wenn auch nicht auf einem derart alten rostigen Gestell und ohne Matratze, sondern in einer einigermaßen gepflegten Wohnung mit weitgehend neuer Matratze. Sie war diesem Mann hilflos ausgeliefert, der sich an ihr »verlustierte«. Sie war für ihn ein reines Sexobjekt, das immer bereit war. Diese Phantasie erregte sie sehr.
Bisher hatte sie noch keinem Menschen von diesen sexuellen Phantasien erzählt, am allerwenigsten Birger mit seinem eingeschränkten sexuellen Horizont, seiner ausschließlichen Vorliebe für ›Hausmannskost‹, wie Eva dazu abschätzig sagte. Doch mit Birger darüber zu sprechen, hatte sich ja seit ein paar Wochen ohnehin von selbst erledigt – zum Glück.
Eva war sich durchaus bewußt, daß einige ihrer Phantasien bei einer realen Umsetzung ein gewisses Risiko in sich bargen, wenn sie auch nie derart drastisch enden konnten wie bei der Frau in dem Abbruchhaus. Und doch gelang es ihr nicht das Bild zu verscheuchen, daß sie dort auf dem Bett lag anstelle der Frau. Sollten unterschwellige Schuldgefühle der Auslöser für ihre Panikattacke gewesen sein? Eva konnte es sich nicht vorstellen, dafür hatte sie Sex einfach zu gerne.
Was mochte die Frau wohl dazu gebracht haben, sich mit einem Schal würgen zu lassen? Und was war das für ein Mann, der sang und klanglos verschwand, ohne nicht mindestens zu versuchen, Hilfe zu rufen. Und warum hatte er alle Sachen der Frau mitgenommen?
Auch wenn Evas Phantasien insgesamt weniger risikoreich bei einer Umsetzung wären – immer vorausgesetzt, sie würde sie tatsächlich einmal mit jemanden realisieren – wer sagte ihr denn, daß der andere nicht etwas mit ihr machte, was ihr gefährlich werden könnte? Vielleicht hatte die Frau es ja gar nicht so gewollt und der Mann hat eigenmächtig gehandelt. Dann wäre auch seine überstürzte Flucht zu verstehen. Grundsätzlich konnte es ihr ja selbst auch passieren, ließ sie sich fesseln. Und dann fände man sie so daliegen.
Der Gedanken, daß ihre nackte Leiche in vergleichbarer Lage gesehen werden könnte, ließ fast die Panikattacke wieder in Eva aufflackern.
Sein atmete tief durch und ging mit leicht unsicheren Schritten zum Auto zurück. Sie lehnte sich an die Motorhaube. Ein Raubvogel flog lautlos über sie hinweg.
Jedesmal wenn ihre Phantasien zurückkehrten, würde sich sofort das Bild jener Frau vor diese schieben. Eva begann sich vor ihren Gedanken und Phantasien zu fürchten, was ihr zuvor noch nie passiert war.
Noch nie war ihr die eigene Vergänglichkeit derart bewußt geworden wie an diesem Morgen, trotz der ganzen Toten, die sie bereits gesehen hatte. Aber es waren stets andere Umstände mit im Spiel gewesen. Selbstmord war für Eva undenkbar. Warum auch? Existenzängste waren ihr fremd. An Depressionen litt sie nicht, jedenfalls nicht mehr als andere Menschen. Zwar war manches in ihrem Leben durchaus als absolut beschissen zu bezeichnen – Birgers Verhalten und sein Abgang standen an erster Stelle. Aber in der Regel richtete sie ihre Aggressionen weniger gegen sich selbst als gegen andere, wovon gerade Lars ein Lied singen konnte.
Abgesehen davon hätte Eva sich nie vorstellen können, daß Birger sich einmal als derart großes Arschloch erweisen könnte. Wie gut, daß sie sich nicht von ihm hatte schwängern lassen. Zwar hatte sie es bisher auch nicht vorgehabt, aber wer sagte denn, daß sie in einigen Jahren, wenn der vierzigste Geburtstag unweigerlich vor der Tür stand, ihre Gene nicht doch weitergeben wollte? Aber nicht gemeinsam mit denen von einem Mann wie Birger. Einen solchen Vater könnte sie ihrem Kind nicht zumuten.
Eva atmete tief die frische Luft ein. Schneller zogen die schmutzigen Wolkenfetzen vor dem gleichmäßig grauen Himmel vorüber. Eva sah, wie in der Ferne über einer Anhöhe Regen niederging. Wind strich über die Wipfel der Bäume. Regentropfen wurden zu ihr hingeweht.
Eva wußte nicht, was sie mit dem Bild von heute morgen, mit ihren Phantasien machen sollte.
Daß sich ihre Phantasien nicht einfach unterdrücken ließen, wußte sie. Sie waren ein Teil von ihr, wenn sie auch die Ursache dafür nicht zu kennen schien. Sie hatte vor Jahren bereits ähnliche gehabt. Aber die waren relativ schnell wieder verschwunden. Auch waren sie seinerzeit noch nicht so detailliert gewesen. Vielleicht lag es auch daran, daß sie sich zu einer Zeit zurückgemeldet hatten, während der ihr Sex mit Birger bereits einzuschlafen begann, daß nun dominierender geworden waren. Birger war mit der Zeit immer träger geworden, was die Lust auf Sex betraf, und entzog sich ihr immer öfter, so daß sie häufiger zu onanieren begann und dabei ihre immer mehr Phantasien ausschmückte. Eva hatte schon immer viel zu gerne Sex gehabt. Sie genoß ihn und er ermöglichte ihr, auf wunderbare und einfache Weise abzuschalten, zu entspannen, Streß und Ärger des Tages zu vergessen. Nur teilten ihre bisherigen Männer nicht dieselbe Auffassung, so daß sie sich eigentlich immer hatte zurücknehmen und ihre Entspannung eigenhändig hatte suchen müssen. Traf sie tatsächlich einmal auf einen Mann, der wie sie über Sex dachte, dann stimmte irgend etwas anderes nicht überein. Am Ende war das Ergebnis das gleiche.
Die Regenfront kam näher und der Wind frischte merklich auf.
Das Läuten ihres Mobiltelephons riß Eva aus ihren Gedanken. Sie öffnete die Fahrertür und nahm das Telephon vom Beifahrersitz.

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