Kurzes #55 – Ängste

von
Armin A. Alexander

Die Angst ist ein gefährliches Raubtier, das geduldig auf den Moment lauert, in dem sein Opfer am ahnungslosesten ist, um dann gnadenlos zuzupacken.

Die Leuchtziffern des Radioweckers zeigten 2:52 Uhr. Holger versuchte sich zu erinnern, was ihn geweckt hatte. Soweit er sich entsinnen konnte, waren seine Träume reichlich konfus gewesen. Er war aus einem erwacht, der irgendeinen Bezug zu einem längst vergangenen Abschnitt seines Lebens besaß. Er wollte aufstehen, doch schien es, als drücke ihn die unsichtbare Hand eines Riesen aufs Bett. Er war nicht in der Lage, auch nur ein Glied zu regen, obwohl er nicht den Eindruck besaß, plötzlich von einer Lähmung befallen worden zu sein. Er versuchte sich gegen diesen Druck zu stemmen, denn das Gefühl, unter dem Druck der Riesenhand zu ersticken, und einer sich ihm von hinten nähernden Bedrohung nicht ausweichen zu können, wurde immer stärker. So sehr er sich jedoch auch anstrengte, der Druck der unsichtbaren Hand war stärker. Ein Anflug von Panik stieg in ihm auf, die Angst nie mehr aufstehen zu können und hilflos der sich ihm unweigerlich nähernden Gefahr ausgeliefert zu sein, wurde immer stärker. Bevor es für ihn jedoch wirklich bedrohlich zu werden begann, war er schweißgebadet erwacht.
Doch war er jetzt tatsächlich wach? Schließlich hatte er zu Beginn jenes Traumes ja auch den Eindruck gehabt, wach zu sein. Oder befand er sich lediglich in einem erneuten Traum, der nur ein weiterer in einer Reihe von Träumen war, die ineinander verschachtelt zu sein schienen, wie diese berühmten russischen Puppen?
Wenigstens wußte er, daß ihn nichts daran hindern könnte, aufzustehen.
Holger lauschte auf Geräusche. Es war ruhig im Haus. Marianne schlief. Sie lag wie üblich auf der Seite, ihm den Rücken zugewandt. Ihre Atemzüge waren ruhig und gleichmäßig.
In seinem Traum hatte Marianne nicht neben ihm gelegen, das wußte er jetzt. Er hatte nicht einen Moment an sie gedacht. Doch davon abgesehen, war in seinem Traum alles wie jetzt gewesen – das Zimmer schwach erhellt von der Laterne auf der anderen Straßenseite, so daß im Zimmer alles mehr als nur schemenhaft zu erkennen war.
Holger hatte in seinem Leben bereits den einen oder anderen Alptraum gehabt, aber an einen derart beklemmenden konnte er sich nicht erinnern.
Er atmete tief durch und schlug vorsichtig die Decke zurück. Obwohl Mariannes Schlaf gewöhnlich tief war und es einiges bedurfte, um sie zu wecken, stand er so behutsam wie möglich auf.
Er blieb einen Augenblick auf der Bettkante sitzen, tastete mit den Füßen nach seinen bereits ein wenig ausgetretenen, aber gerade darum bequemen Pantoffeln, und schlüpfte hinein.
Erst als er stand, bemerkte er, daß er am ganzen Körper leicht zitterte. Der Alptraum hatte tiefere Spuren in ihm hinterlassen, als er zuerst geglaubt hatte. Die Schlafanzugjacke fühlte sich klamm an.
Auf dem Weg ins Bad wurde ihm bewußt, daß es im Grunde im Schlafzimmer viel zu kühl war, um ohne Grund ins Schwitzen zu geraten, schließlich war Mitte November und die Heizung blieb des Nachts grundsätzlich aus.
Bevor Holger das Licht einschaltete, schloß er die Badezimmertür. Das helle Lichte schmerzte in seinen noch an die Dunkelheit gewöhnten Augen. Er schloß sie reflexartig für einen Moment. Dann drehte er das Wasser auf. Kaltes Wasser würde sicherlich helfen, die Nachtmahre zu verscheuchen.
Nächtliche Schweißausbrüche können ein alarmierendes gesundheitliches Signal sein, schoß ihm plötzlich durch den Kopf. Er hatte den Satz erst vor kurzem im Zusammenhang mit Herzinfarkten gelesen. Er versuchte den Gedanken abzuschütteln.
Die plötzlich aufsteigende Übelkeit kam mit der Macht einer Flutwelle über ihn. Der kalte Schweiß brach ihm aus. Vor seinen Augen flimmerte es. In seinen Ohren rauschte es. Das Wasserrauschen schien von weither zu kommen. Er fürchtete, jeden Augenblick ohnmächtig zu werden, wenn nicht Schlimmeres. Sein Herz raste. Endlose Horden von Ameisen schienen durch seine Venen zu laufen.
Wie es ihm gelungen war, sich auf den Rand der Badewanne zu setzen, konnte er nicht mehr nachvollziehen. Er zitterte am ganzen Körper. Ihn fröstelte. Er versuchte ruhig ein- und auszuatmen und sich für den bevorstehenden Zusammenbruch zu wappnen.
Doch blieb die erwartete Herzattacke aus. Statt dessen besserte sich sein Zustand langsam. Das Flimmern vor den Augen verschwand. Er konnte wieder klarer sehen. Das Rauschen in den Ohren wurde schwächer, das Rauschen des Wassers drang wieder lauter zu ihm. Aber das Schwindelgefühl wollte nur zögerlich weichen. Er fror, obwohl es im Bad warm war, denn Marianne bestand darauf, daß die Heizung im Winter auch des Nachts nicht heruntergedreht wurde. Sie fror leicht, kam sie aus dem warmen Bett.
Sollte er soeben tatsächlich eine Herzattacke erlebt haben? Wenn auch eine leichte, andernfalls wäre er jetzt kaum in der Lage, diese Überlegung anzustellen. Bei dem Streß, dem er in der letzten Zeit ausgesetzt war, ließ sich das nicht ausschließen. Er befand sich ja durchaus im gefährlichen Alter. Andererseits hatte ihm sein Arzt bei der letzten Generaluntersuchung vor etwas mehr als einem Jahr versichert, daß bei ihm soweit alles in Ordnung, er für sein Alter in erstaunlich guter Verfassung sei und er ohnehin nicht zu den Risikogruppen gehörte. Aber was besagte das schon, wenn man sich auf einmal einer Gegebenheit gegenüber sieht, deren Folgen für das eigene Leben kaum abzusehen sind, die bislang sicher Geglaubtes von heute auf morgen infrage stellen und alles umwerfen kann? Zur Zeit der Untersuchung herrschten schließlich noch ganz andere Umstände.
Dennoch konnte er, bis auf den Schweißausbruch beim Aufwachen und dem soeben gehabten, keines der gewöhnlichen Symptome an sich entdecken, die seines Wissens einem Infarkt vorausgingen; kein beklemmendes Gefühl in der Brust – sah er von dem Gefühl aus seinem Traum einmal ab, aber das hatte seinen ganzen Körper erfaßt –, keine Schmerzen im linken Arm. Statt dessen rasten Puls und Herz und kribbelte es ihm in den Venen. Es war eher so, als hätte er sich beim Sport verausgabt.
Die Erinnerung an die Herzattacke seines Schwiegervaters vor vier Jahren während einer Familienfeier, die zum Glück glimpflich verlaufen war, stieg in ihm auf. Nein, da war alles anders verlaufen. Holger erinnerte sich noch gut daran, wie sich sein Schwiegervater, bevor er zusammengebrochen war, mit schmerzverzerrtem Gesicht an die Brust gefaßt hatte.
Doch beruhigte das Holger nicht wirklich. Aus heiterem Himmel stand ein Mensch nicht plötzlich am Rand einer Ohnmacht, wurde ihm übel und wachte in einem kühlen Schlafzimmer schweißgebadet auf.
Mit einer fahrigen Geste griff Holger nach einem Handtuch und wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn, der sich eigenartig ölig anfühlte.
Holger versuchte weiterhin ruhig ein- und auszuatmen. Seine Verfassung besserte sich spürbar. Er hielt die immer noch leicht zitternden Hände unter den kühlenden und belebenden Wasserstrahl, wusch sich durchs Gesicht. Dann drehte er das Wasser ab und rieb sich mit dem Handtuch ausgiebig durchs Gesicht. Er schaltete das Licht aus und verließ das Bad.
Die Knie zitterten ihm immer noch. Sein Mund fühlte sich trocken an. Er mußte unbedingt etwas trinken. Vorsichtig ging er die Treppe zur Küche hinunter.
Zwar war er erleichtert, daß er soeben keinen Infarkt, sondern nur eine Angstattacke gehabt hatte – wenn das denn die richtige Bezeichnung dafür war – aber das machte es für ihn nicht wirklich besser. Im Gegenteil, wäre er tatsächlich mitten in der Nacht im Bad mit einem Infarkt zusammengebrochen, wäre seiner Familie in der zu erwartenden Situation weitaus mehr geholfen. Vor halb sieben stand Marianne kaum auf. Es kam höchst selten vor, daß sie nachts das Bad aufsuchen mußte. Sein Sohn Daniel schlief in der Regel ebenfalls durch. Somit würde Holger mindestens drei Stunden unentdeckt auf den kalten Fliesen gelegen haben, bevor ihn jemand fand. Kein Arzt hätte ihm dann noch helfen können. Von der zu erwartenden Auszahlung der Lebensversicherung hätten Daniel und Bernadette ihr Studium beenden, wie auch Marianne die Zeit bis zum Erhalt der eigenen Rente einigermaßen problemlos hätte überbrücken können. Noch hatte sie ja ihre Halbtagsstelle. Es müßte ihnen sogar möglich sein, das Haus zu behalten.
Kaum hatte er die Überlegung angestellt, da wurde Holger auch schon der ihr innewohnende Zynismus und vor allem Egoismus bewußt. Das konnte er den Kindern und Marianne nicht antun, auch wenn das Verhältnis zwischen Marianne und ihm in den letzten Jahren spürbar zu einem geschwisterlichen geworden war, was jedoch für ihn nach fast dreißig Jahren Ehe ganz natürlich zu sein schien.
Holger tastete nach dem Lichtschalter in der Küche. Er hatte sich aus einem unerfindlichen Grund nicht getraut, das Licht im Flur einzuschalten. Andererseits, wie oft war er in den vergangenen fünfzehn Jahren die schmale Treppe bereits hinuntergegangen? Er kannte sich so gut im Haus aus, daß er im Grunde nachts nirgendwo Licht einschalten mußte.
Er wollte tief durchatmen, doch es wurde mehr ein tiefer Seufzer.
Holger holte eine angebrochene Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank und ein Glas aus dem Schrank über der Spüle. Mit beiden setzte er sich an den Küchentisch.
Die Anzeige des Küchenradios zeigte 3:15 Uhr. Also hatte sein »Schwächeanfall« – er hatte sich entschlossen ihn so zu bezeichnen – nur wenige Minuten gedauert, obwohl es ihm wesentlich länger erschienen war.
Er schraubte die Flasche auf und füllte das Glas. Das Mineralwasser schäumte schwach und leise zischend auf. Er stellte die Flasche unverschlossen auf den Tisch und trank einen Schluck aus dem Glas.
Als sich das Aggregat des Kühlschranks einschaltete, schrak er zusammen. Dermaßen laut war es ihm noch nie vorgekommen. Aber schienen nicht alle nächtlichen Geräusche in einem Haus unnatürlich laut zu sein? Die normalerweise kaum wahrnehmbaren Geräusche der gewöhnlichen Materialspannungen in Möbeln und anderen Gegenständen wurden auf einmal geheimnisvoll. So entstanden vermutlichen die Legenden von Poltergeistern.
Aus diesem Haus ausziehen zu müssen, wäre für Marianne und ihn die schlimmste Vorstellung, die sie sich machen konnten. Was hatten sie alles in Kauf genommen, um endlich aus jener kleinen Dreizimmerwohnung herauszukommen. Das Kinderzimmer war nicht nur für zwei Kinder zu klein, sondern insgesamt kaum mehr als ein Schuhkarton gewesen. Selbst Hühnern in Legebatterien wurde ein Minimum an Platz zugestanden, doch Kinderzimmer durften so klein sein, wie es dem Bauherrn gefiel. Als Bernadette und Daniel noch klein waren, war es es ja noch gegangen. Aber als Bernadette größer wurde, machte sie ihrem Ärger mit ihrem kleinen Bruder ein Zimmer teilen zu müssen, immer häufiger Luft. Sieben Jahre trennten die Geschwister. Dabei hätten es höchstens zwei sein sollen, doch wollte Marianne nach Bernadettes Geburt kein zweites Mal schwanger werden, obwohl sie sich bemüht hatten. Sie hatten schon die Hoffnung auf ein zweites Kind aufgeben wollen, da wurde Marianne schließlich doch noch schwanger.
Bernadettes Reaktion war ja zu verstehen gewesen. Schließlich war sie gewohnt ein Zimmer ganz für sich allein zu haben und die Rolle als Einzelkind schien ihr zu gefallen. Und auf einmal gab es da einen kleinen Bruder, der von einem Tag auf den anderen den ersten Platz in der Familie einzunehmen schien.
Selbstverständlich benötigt ein kleines Kind mehr Aufmerksamkeit als eine Siebenjährige, die zudem reichlich aufgeweckt für ihr Alter gewesen war. Allerdings schien Bernadette das nicht einsehen zu wollen. Sie sah nur, daß sie auf einmal nicht mehr zu jeder Tageszeit in ihr Zimmer durfte, hielt ihr kleiner Bruder seinen Mittagsschlaf, und dann sein nächtliches Schreien –
Daniel zählte kaum ein Jahr, da stand für seine Eltern fest, daß sie ein eigenes Haus bräuchten. Leicht war es nicht gewesen, eine adäquate Finanzierung auf die Beine zu stellen, obwohl Holgers Einkommen relativ gut war und auch Marianne wieder arbeiten gehen wollte, sobald Daniel alt genug für den Kindergarten wäre.
Und wenn er nun wirklich die Arbeit verlor? Nach fast fünfundzwanzig Jahren in der gleichen Firma einfach vor die Tür gesetzt wurde?
Lediglich noch fünf Jahre und das Haus wäre abbezahlt. Für sich allein eine überschaubare Zeit, doch eine unvorstellbar lange, war man ohne Arbeit. Mit dem zu erwartenden Arbeitslosengeld würde es gerade gelingen, die Raten zu begleichen. Auf ein eigenes Auto würde Holger problemlos verzichten können, Mariannes kleines altes genügte. Aber nach dem einen Jahr? Wenn sich bis dahin nichts finden lassen würde? Holger war schließlich Mitte Fünfzig und es gab genug jüngere und vergleichbar Qualifizierte, die seit Jahren eine Stelle suchten. Außerdem würde er ja nicht alleine gehen müssen. Langjährige Kollegen wurden von einem Tag auf den anderen zu Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt. Mit den zu erwartenden Hartz-IV-Bezügen würden sie das Haus nicht halten können. Zumal Holger ja nicht einmal wußte, wieviel von Mariannes Gehalt ihm angerechnet würde.
Holger schenkte sich noch etwas Wasser ein und nahm einen langen Schluck. Draußen wurde eine Autotür zugeschlagen und kurz darauf der Motor gestartet. Langsam fuhr das Auto am Haus vorbei.
Holger warf einen Blick auf die Anzeige des Küchenradios – 3:37 Uhr. Das mußte Berger sein, vier Häuser weiter. Berger war Bäcker bei einem großen Filialisten.
Im Haus war es immer noch still. Der Kühlschrank brummte leiste.
Wenigstens um Bernadette brauchte Holger sich keine Sorgen zu machen. Im Frühjahr würde sie ihr Studium abschließen. Sie benötigte die finanzielle Unterstützung ihrer Eltern längst nicht mehr. Allerdings war sie schon immer sehr selbständig gewesen. Kaum hatte sie ihr Abitur in der Tasche gehabt, da hatte sie ihren Eltern fast im selben Atemzug verkündet, daß sie bereits einen Studienplatz nebst einer kleinen Wohnung in Hannover in Aussicht hätte.
Zum Ausgleich war Daniel das typische Nesthäkchen. Er war spürbar zurückhaltender als seine Schwester. Zwar war ihm die Schule stets leicht gefallen und auch das Studium forderte ihm nicht allzuviel ab, aber es gelang ihm nur schwer, während der Ferien einen Job zu finden. Vielleicht war er auch immer zu sehr von seiner Mutter verwöhnt worden. Was würde er dazu sagen, wenn sie auf Grund von finanziellen Schwierigkeiten das Haus aufgeben mußten?
Holger dachte an die Nachbarn von schräg gegenüber. Der Mann war vor fünf Jahren arbeitslos geworden, seine Firma hatte gewissermaßen von einen Tag auf den anderen Konkurs angemeldet. Die Muttergesellschaft hatte den Betrieb einfach aufgelöst. Niemand, nicht einmal der örtliche Geschäftsführer hatte zuvor etwas davon erfahren. Der Betrieb hatte ja stets schwarze Zahlen geschrieben. Doch das zählte in den Augen der Muttergesellschaft nicht. Einzig die Höhe der Rendite war relevant und die war seit mehreren Jahren deutlich unter den gesteckten Erwartungen geblieben. Ein Käufer hatte sich nicht gefunden, weshalb der Standort kurzerhand geschlossen worden war. Fast die gesamte Belegschaft stand auf der Straße – immerhin rund achtzig Leute. Doch weil es letztlich nur ein kleiner Betrieb gewesen war, hatte das kaum jemanden interessiert. Im ersten Jahr hatten Holgers Nachbarn noch gehofft, daß der Mann wieder eine Arbeit finden würde, immerhin war er Ingenieur mit langjähriger Erfahrung. Dennoch war er potentiellen Arbeitgebern scheinbar zu alt. Ihrer Auffassung nach würden Menschen in seinem Alter sich nur noch schwer in neue Strukturen finden, besonders wenn sie zuvor, wie er, über zwanzig Jahre im selben Betrieb gewesen waren. Abgesehen davon stiegen mit zunehmenden Alter ja auch die krankheitsbedingten Ausfällen überproportional an. Die Frau war im Gegensatz zu Marianne nicht berufstätig gewesen. Sie waren ja überzeugt gewesen, daß sein Einkommen als Ingenieur mehr als ausreichend sei. Sie hatten das Haus noch etwas mehr als zwei Jahre nach dem Verlust seiner Arbeit halten können, dann war es zwangsversteigert worden. Die Arbeit eines halben Lebens für nichts. Je länger der Mann ohne Arbeit war, desto gedrückter wirkten beide. Irgendwann schlichen sie buchstäblich aus dem Haus, als fürchteten sie, daß mit Häme auf sie gezeigt würde, auf den »Versager«, der es nicht nur nicht geschafft hatte, seine Arbeit zu behalten, sondern nicht einmal in der Lage war, eine neue zu finden. Dabei spielte es überhaupt keine Rolle, ob die Anderen sie tatsächlich so ansahen oder ob sie nur glaubten, daß sie von ihnen so angesehen würden. Tatsächlich wußte Holger von niemandem, der auf sie hinuntergesehen hätte. Im Grunde war jeder nur froh – noch – nicht in einer vergleichbaren Lage zu sein.
Heute wohnten sie irgendwo in einer der Vorstädte. Mehr wußte Holger nicht. Allerdings hatten Marianne und er nie mehr als einige Worte mit ihnen gewechselt. Sie hatten keine Kinder gehabt. Alle Nachbarn mit denen Marianne und Holger Kontakt hatten, hatten selbst Kinder in Bernadettes oder Daniels Alter.
Jetzt bewohnte eine junge Migrantenfamilie mit fünf Kindern das ehemalige Haus des Ingenieurs, das von einer Wohnungsbaugesellschaft günstig ersteigert worden war. Soviel Holger wußte, vermietete diese Gesellschaft bevorzugt an vermeintlich sozial Schwache, die genau genommen ökonomisch schwach waren. Das war ein garantiertes Einkommen, da das Amt die Miete stets pünktlich überwies. Die Kinder hatten Leben in die ruhige Straße gebracht. Ansonsten waren es angenehme und freundliche Nachbarn, wenn auch anfangs ein wenig ungewohnt in einer Straße mit ausschließlich Einfamilienhäusern.
Holgers Firma war nur unwesentlich größer als die des Ingenieurs und wie die seine, war auch sie vor mehreren Jahren von einem Mischkonzern aufgekauft worden. In Holgers Fall jedoch war die Muttergesellschaft durch allzu ehrgeizige Expansionsbestrebungen in einem Metier, in dem die Marktanteile seit langem relativ fest vergeben waren, kräftig ins Trudeln geraten und die Banken hatten so gut wie alle Kredite gekündigt oder standen kurz davor es zu tun. Monatelang hatte die Geschäftsleitung herumgedruckst, obwohl es die Spatzen längst von den Dächern gepfiffen hatten, daß sich übernommen worden war, in der derzeitigen Konstellation kaum noch etwas zu machen sei und ein Konkurs unausweichlich sein würde.
Holger trank das Glas leer und stellte es in die Spüle. Bevor er die Küche verließ und das Deckenlicht ausschaltete, warf er einen beinahe wehmütigen Blick auf den Tisch, an dem während der ersten Jahre hier die ganze Familie jeden Morgen gemeinsam gefrühstückt hatte und, nachdem Bernadette nach Hannover übergesiedelt war, nur noch Marianne, Daniel und er. Aber auch Daniel frühstückte immer seltener gemeinsam mit seinen Eltern.
Nein, für den heute angesetzten Streik gab es keine Alternative. Die Geschäftsleitung mußte erkennen, daß sie mit ihren Leuten, die in guten Zeiten schließlich dafür gesorgt hatten, daß sich eine Menge Leute die Taschen hatten vollstopfen können, nicht nach Belieben umspringen konnte. Zwar würde der Verkauf des Betriebs an einen indischen Investor nicht alle Kollegen vor der Arbeitslosigkeit retten. Aber die Inder hatten wenigstens einigermaßen glaubhaft versichert, daß sie den Betrieb weiterführen wollten. Daran, daß sie die Mitarbeiter nicht vollem Umfang übernehmen konnten, hatten sie zudem nie einen Zweifel gelassen, und ebensowenig, daß sie von der jetzigen Geschäftsleitung niemanden behalten wollten, was nur zu verständlich war, dieser aber gar nicht gefiel und wahrscheinlich der Grund war, warum sie nicht ernsthaft über einen Verkauf nachdachte.
Die Entscheidung, solange als möglich die Arbeit niederzulegen, war richtig. Sie hatten alle einfach zuviel zu verlieren – abgesehen von der Geschäftsleitung.
Holger schaltete das Licht aus und ging wieder nach oben ins Schlafzimmer. Marianne schlief noch immer tief und fest.
So behutsam wie er aufgestanden war, legte er sich wieder ins Bett. Marianne bewegte sich kurz im Schlaf.
Holger sah auf die Uhr. Noch knapp zwei Stunden bis er aufstehen mußte. Vielleicht gelang es ihm noch ein wenig zu schlafen.

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