Franz Kafka »Ein Hungerkünstler«

von
Armin A. Alexander

Der »Hungerkünstler« war lange Zeit die Jahrmarktsattraktion schlechthin. Sobald er in eine neue Stadt kam war er das Gespräch schlechthin. Jeder wollte ihn zumindest einmal am Tag sehen, während er in seinem Käfig vor sich hungerte. Das Publikum wählte Wächter, die in Dreiergruppen Tag und Nacht darauf achteten, daß er auch tatsächlich hungerte und nicht heimlich etwas aß oder ihm Essen von mitleidigen Seelen zugesteckt wurde. Der Hungerkünstler empfand es Affront, nicht bloß weil ihm unterstellt wurde, er schummle, sondern weil man sein Hungern nicht wirklich ernst nahm, das ihm sportlicher Ehrgeiz war. Er fühlte sich jedoch nicht nur vom Publikum mißverstanden sondern ebenso von seinem Impresario, der ihm nicht erlaubte mehr als vierzig Tage an einem Stück zu hungern, weil dieser fürchtete, daß andernfalls das Interesse des Publikums erlahmen könnte. Dabei hätte der Hungerkünstler gerne allen gezeigt, daß er zu weitaus längerem Hungern in der Lage war als eben nur jene mageren vierzig Tage. Das Ende der Hungerperiode wurde immer mit großen Brimborium inszeniert. Nach einer kleinen Ruhepause zog der Hungerkünstler mit seinem Impresario über viele Jahre hinweg von einem Jahrmarkt zum nächsten. Doch kaum merklich schwand das Interesse des Publikums bis es auch in der Kasse des Impresarios nur deutlich zu spüren war. Die Besucher wurden immer weniger, man wandte sich anderen Attraktionen zu. Der Impresario wagte einen letzten Versuch, aber es gelang ihm nicht, das Interesse an dem Hungerkünstler wiederzuerwecken. Darauf trennten sich beide. Der Hungerkünstler, für den Hungern immer nur eine Kunst an sich war, heuerte bei einem Zirkus an und wunderte sich nicht darüber, daß man ihn in eine unbedeutende Ecke der Menagerie abschob. Anfangs war an seinem Käfig noch auf einem sauberen Schild die aktuelle Anzahl der Hungertage zu lesen, doch irgendwann kümmerte sich keiner mehr darum. Allenfalls wunderte man sich gelegentlich über den Käfig mit dem verfaulten Stroh unter dem der Hungerkünstler lag, der selbst nicht mehr wußte, wie lange er bereits in einem fort hungerte. Irgendwann bemerkt der Aufseher den völlig abgemagerten und vor Entkräftung im Sterben liegenden Hungerkünstler. Der Aufseher fragt den Hungerkünstler warum er denn hungere und erhält zur Antwort: »Weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt.« Darauf stirbt der Hungerkünstler. Er wird mit samt dem verfaulten Stroh in dem er liegt begraben und in seinen Käfig ein junger Panther gesteckt, der nun mit seiner Wildheit das Publikum fesselt.

 

Die Erzählung »Ein Hungerkünstler« erschien zuerst in der Oktoberausgabe von »Die neue Rundschau« Jahrgang 33, Berlin/Leipzig S. Fischer, 1922. Kafka beschreibt hier nicht nur wie jemand eigentlich etwas absolut Widersinniges tut – Hungern als reiner Selbstzweck – sondern zudem ausführlich wie mediale Mechanismen funktionieren. Das Interesse am Hungerkünstler wird langsam aufgebaut als Versuch vierzig Tage – vierzig Tage dauert auch die christliche Fastenzeit von Aschermittwoch bis Ostern! – an einem Stück zu hungern. Es wird somit unterschwellig die Botschaft ans Publikum vermittelt, das sich aus der persönlichen Lebenssituation ja nur schwer vorstellen kann länger als ein paar Tage zu hungern und das auch nur aus äußerster Not heraus, daß selbst diese vierzig Tage nach menschlichem Ermessen kaum durchzuhalten sind. Die Wächter sind ebenso Teil der Inszenierung. Sie garantieren weniger, daß der Hungerkünstler nicht doch heimlich ißt oder ihm etwas zugesteckt wird, sondern sie sollen vor allem dem Publikum glauben machen, daß diese Möglichkeit besteht, denn es dürfte wohl kaum einen unter diesem geben, der in vergleichbarer Lage nicht bereit wäre zu Schummeln. Das Ende der Hungerperiode wird mit großer Zeremonie gefeiert. Jedoch hungert der Hungerkünstler nicht deshalb maximal vierzig Tage hintereinander weil er nicht länger könnte, sondern einfach weil andernfalls das Interesse des Publikums schlagartig erlahmen würde. Der Hungerkünstler selbst genießt einerseits das Interesse, das ihm entgegengebracht wird, andererseits fühlt er sich zutiefst mißverstanden, daß man seine »Kunst« an sich nicht ernst nimmt, nicht nur weil man ihm Schummeln unterstellt, sondern weil man ihm nicht zutraut weit über diese vierzig Tage hinaus hungern zu können. Als das Interesse schwindet, wie an jeder Sensation, die zu oft einem auf pure Zerstreuung und Neuem ausseienden Publikum vorgeführt wird, glaubt der Hungerkünstler, daß es lediglich genügt zu zeigen, zu welcher (Hunger-)Leistung er imstande ist, um das Publikum erneut zu fesseln. Doch statt eines Triumphs über die kaum vorstellbare Zeit die er hungernd zugebracht hat, widerfährt ihm auf Grund seines Irrtums das größte denkbare Fiasko; es kostet ihn das Leben ohne daß sich jemand für seinen Ehrgeiz interessiert hätte.

 

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