Wolfgang Borchert »Nachts schlafen die Ratten doch«

von
Armin A. Alexander

Interpretationen

Abends nach einem Bombenangriff. Ein neunjähriger Junge sitzt vor einem zerstörten Haus. Plötzlich taucht ein Schatten vor ihm auf. Der Junge befürchtet, daß man ihn entdeckt hat und wegbringen will. Doch es ist nur ein alter Mann, der zwischen den Schuttbergen nach Grünfutter für seine Kaninchen sucht. Der alte Mann verwickelt den Jungen in ein Gespräch und erfährt, daß der Junge, der lediglich ein halbes Brot bei sich hat und halb verhungert ist, bereits seit einigen Tagen an diesem Ort Wache hält, da im Keller des zerstörten Hauses sein toter kleiner Bruder läge und er die Ratten vertreiben wolle, damit sie die Leiche seines Bruder nicht anfräßen und seine Eltern noch leben. Darauf erklärt der alte Mann dem Jungen, daß er nachts nicht wachen müsse, denn »[–] hat euer Lehrer euch denn nicht gesagt, daß die Ratten nachts schlafen?[–]« und macht ihn auf seine Kaninchen neugierig, will ihm sogar eins schenken. Der Junge möchte auch die Kaninchen sehen, aber erst nach der Dämmerung. Der alte Mann verspricht dem Jungen, ihn, sobald es dunkel ist, abzuholen und zu seinen Eltern zurückzubringen, und will ihnen zeigen, wie man einen Kaninchenstall baut, doch vorher müsse er noch seine Kaninchen füttern. Der Junge sieht im aufziehenden Abendrot wie der alte Mann geht und daß das Grünfütter seiner Kaninchen »[–] etwas grau vom Schutt [–]« war.

 

Wolfgang Borchert beginnt seine Erzählung über eine in den zerbombten Städten des Zweiten Weltkriegs fast alltägliche Situation mit einer poetischen Beschreibung, wie sie häufig in romantischen Texten zu finden ist: »Das hohle Fenstern in der vereinsamten Mauer gähnte blaurot voll früher Abendsonne. Staubgewölke flimmerte zwischen den steilgereckten Schornsteinresten. Die Schuttwüste döste. [–]«. Im ersten Moment ist man versucht, sich die Ruine einer alten gotischen Kathedrale im Abendlicht eines lauen Sommertages vorzustellen. Doch wird man sich schnell bewußt, daß es sich um ein zerbombtes Haus handelt. Der alte Mann könnte ebensogut in Schatten der zuerst assoziierten Kirchenruine das Grünfutter für seine Kaninchen suchen, das in der Nähe einer solchen zuhauf zu finden wäre. Doch in einer Schuttwüste dürfte wenig zu finden sein und verdeutlich damit die Mühseligkeit seiner Bemühungen. Der Junge könnte ebensogut ein einsamer Wanderer sein, der sich im Schatten der Ruine ausruht. Aber der Junge ist halbverhungert, weil er sich nicht von dem zerbombten Haus wegtraut, da sich sonst die Ratten an der Leiche seines kleinen Bruders zu schaffen machen könnten.

Mit den Stilmitteln des Idylls beschreibt Wolfgang Borchert ein Bild der Zerstörung, der Hilflosigkeit gegenüber Machtmißbrauch, entfesselte Gewalt und Willkür Mächtiger. Und läßt so die Szene beim Leser lebendig werden.

Der alte Mann, der von Anfang an zu ahnen schien, was den Jungen hier festhält, lockt ihn mit einem ebenso einfachen wie wirkungsvollen Mittel fort; die Faszination, die Haustiere wie Kaninchen auf Kinder ausüben. Wie er auch die natürliche Autorität Erwachsener Kinder gegenüber ausnutzt, in dem er ihm versichert, »[–] daß die Ratten nachts schlafen [–]« würden, was der Junge ihm – gerne – glaubt. Die Kaninchen stehen hier auch als Symbol für das Leben, der Bau des Stalls für das Kaninchen, das der alte Mann dem Jungen schenken will, für zukunftsorientiertes Handeln. Der Junge soll seinen toten kleinen Bruder selbstverständlich nicht vergessen, doch er soll nicht in der Vergangenheit leben, sondern er muß an die Zukunft, an die Lebenden denken, die Hilfe nötiger haben.

Mit derselben poetischen Beschreibung mit der Wolfgang Borchert seine Erzählung eingeleitet hat, beendet er sie auch: Der alte Mann »lief mit seinen krummen Beinen auf die Sonne zu. Die war schon rot vom Abend und Jürgen konnte sehen, wie sie durch die Beine hindurchschien, so krumm waren sie. [–]«.

 

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Ein Kommentar zu „Wolfgang Borchert »Nachts schlafen die Ratten doch«

  1. sinem sagt:

    diese geschichte ist sehr traurig, weil der junge tat mir leid als ich das gelesen habe. ein bombenangriff das ist richtig schlimm

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