Heinrich Spoerl »Der Maulkorb«

von
Armin A. Alexander

Interpretationen

Eine beschauliche rheinische Kleinstadt im alten Kaiserreich. Jeder kennt jeden. Der Kreis der örtlichen Honoratioren ist überschaubar. Man trifft sich regelmäßig Samstagabends im gleichen Weinlokal. Man redet, debattiert über das, was der Landesvater gesagt haben soll und was die Zeitungen darüber nicht geschrieben haben. Man ereifert sich, erhitzt sich und löscht den Durst mit reichlich Wein. Es wird spät. Der Wein tut seine Wirkung. Staatsanwalt von Treskow verläßt mit starker Schlagseite begleitet von seiner Dogge August als letzter das Wirtshaus. Irgendwie gelangt er nach Hause. Der Sonntag beginnt mit einem schier unglaublichen Ereignis: Ein Streife gehender Polizist entdeckt etwas Ungeheuerliches: Das Denkmal des Landesvaters ist von einem Unbekannt mit einen ordinären abgenutzten Maulkorb »verziert« worden. Es herrscht kein Zweifel; das riecht nach vorsätzlicher Majestätsbeleidigung durch subversive Subjekte. Reaktion auf die Rede, die der Landesvater gehalten und in der er unter anderem gegen die notorischen Nörgler gewettert haben soll. Die Gerechtigkeit muß ihren Lauf nehmen, so etwas kann im Interesse der Allgemeinheit und der staatlichen Autorität nicht geduldet werden. Staatsanwalt von Treskow, der noch unter den Folgen seiner Zecherei leidet, wird mit der Untersuchung beauftragt. Von Treskow erkennt die Bedeutung des Falles und seine Chance, klärt er sie auf. Doch auch die örtliche Polizei in der Person von Kriminalkommissar Mühsam wittert ihre Chance, hier mit modernen Ermittlungsmethoden dem Staatsanwalt den Rang abzulaufen. Der Maulkorb alt und sichtbar abgewetzt, das einzige Beweisstück gibt an sich nicht viel her. Es gibt viele Zeugen, aber so viele auch etwas gesehen haben wollen, in Wahrheit hat niemand etwas Verwertbares gesehen. Mühsam bringt seinen neuerworbenen Spürhund zum Einsatz. Dieser nimmt Witterung auf. Eine eigenartig verlaufende Spurensuche, die auf einen stark alkoholisierten Täter schließen läßt, endet vor von Treskows Haus. Der Kommissar ist blamiert. Sein teurer Hund eine Fehlinvestition. Als ob ein Staatsanwalt des Nachts einen alten Maulkorb an ein Fürstendenkmal befestigt! Undenkbar! Was von Treskows Glück ist, denn seine Gattin erkennt in dem sichergestellten Maulkorb den ihres Hundes. Doch sie verschweigt es ihrem Mann, der sich nicht mehr an die Vorgänge der vergangenen Nacht erinnern kann. Sie weiht nur ihre Tochter Trude ein. Durch Indiskretion erfährt die Polizei, daß Rabanus, ein junger Kunstmaler, der auf einem nächtlichen Spaziergang beobachtet hat, wie der Maulkorb an dem Denkmal befestigt wurde. Er folgt der Vorladung. Dem Kommissar gibt er eine genaue Personenbeschreibung. Dann wird er zum Staatsanwalt gebracht, um seine Aussage zu wiederholen. Rabanus staunt nicht schlecht, als er von Treskow sieht. Er glaubt erst an eine Justizposse. Aber von Treskow scheint wirklich nicht mehr zu wissen, was er in jener Nacht auf dem Heimweg gemacht hat. Rabanus erkennt sofort die Brisanz seiner nächtlichen Beobachtung und gibt dem Staatsanwalt eine vollständig entgegengesetzte Personenbeschreibung. Natürlich macht er sich damit verdächtig. Um die Angelegenheit noch etwas zu verkomplizieren, verliebt er sich in Trude, was auf Gegenseitigkeit beruht. Die Maukorbsache wird immer verworrener. Es wird eine hohe Belohnung ausgesetzt. Doch außer etlichen unverwertbaren Zeugenaussagen, gibt kein greifbares Ergebnis. Dafür erhält von Treskow anonyme Briefe, die ihn der Täterschaft bezichtigen. Rabanus gerät als Urheber in Verdacht. Dabei unternimmt er alles, bis hin zu einem vertraulichen Gespräch mit dem Oberstaatsanwalt, damit von Treskow unerkannt aus der Sache kommt. Es gelingt ihm zwei Gelegenheitsarbeiter, die rheinischen Originale Bätes und Wimm, sich als Täter und Augenzeuge anzubieten. Die mittlerweile ausgesetzte Belohnung von dreitausend Reichsmark ist verlockend und Entschädigung genug für einige Zeit Gefängnisaufenthalt. Ihr Geständnis, so fadenscheinig es auch sein mag, ist mehr als willkommen. Selbst von Treskow beginnt schon sich selbst als Verdächtigen zu sehen. Dem Oberstaatsanwalt gelingt es, von Treskow zu überzeugen, die Angelegenheit bis zum Schluß durchzuziehen, zumal ja jetzt ein idealer Täter gefunden ist. Die Gerichtsverhandlung droht zur Farce zu werden, gar zu scheitern, denn als zum Eid kommt, machen Bätes und Wimm plötzlich einen Rückzieher. Am Ende gelingt es, Bätes zum Geständnis zu bringen, daß er es im Rausch und in Unkenntnis, daß es sich um ein fürstliches Denkmal handelt, getan zu haben. Wodurch aus der Majestätsbeleidigung einfacher grober Unfug wird. »[–] wenn er [Bätes] es nur für eine Art Goethe [das Denkmal] hielt: Bei Goethe ist es keine Majestätsbeleidigung. Bei Goethe ist es bloß grober Unfug. Urteil: Drei Mark Geldstrafe, durch die Untersuchungshaft verbüßt. [–]«. Alle sind zufrieden, die Autorität der Justiz ist nicht beschädigt worden und Rabanus, dessen Vater ein renommierter Münchner Augenarzt ist, bekommt die Trude zur Frau.

 

Heinrich Spoerls beschreibt auf humoristische Weise, wie eine losgelassene Bürokratie aus einer offenkundigen Lappalie – dem Hundemaulkorb am Denkmal – eine Staatsäffere macht. Wie selbst ein angesehener Bürger – der Staatsanwalt Treskow – nach einer durchzechten Nacht über die Stränge schlägt und sich an nichts mehr erinnert. Wie niemand glauben will, daß er der Täter sein könnte, obwohl alles gegen ihn spricht. Kurzer Hand wird der Spürhund als unfähig erklärt, denn es kann nicht sein, was nicht sein darf. Diejenigen, die die Wahrheit wissen, unternehmen alles, daß sie nicht bekannt wird. So grotesk es aus Sicht einer Gesellschaft auch erscheinen mag, in der die freie Meinungsäußerung per Verfassung garantiert ist; Majestätsbeleidigung war zur Zeit in der der Roman spielt, ein Kapitalverbrechen, das mit einer harten Gefängnisstrafe geahndet wurde. Was für von Treskow nicht nur mit dem Verlust seines Postens als Staatsanwalt geendet hätte, sondern er zudem eine weitaus härte Strafe als ein einfacher Bürger bekommen hätte, wie auch zu Ehr- und Ansehensverlust seiner ganzen Familie geführt. So gesehen wurde nicht einfach das Ansehen der Justiz gerettet, sondern vor allem von Treskow und seine Frau und Tochter. Heinrich Spoerl, selbst Jurist, beschreibt zudem anschaulich, wie ein einmal in Gang gesetzter Amtsapparat stur sich beinahe selbst lächerlich macht. Daß es in diesem auch Mitglieder gibt, die die Absurdität des ganzen erkennen, zeigt die Frage eines Beisitzers an den im Prozeß aussagenden Wachtmeister, der den Maulkorb am Denkmal als erster entdeckte. »[–] »Warum haben Sie das Ding nicht einfach heruntergenommen?« fragte ein Beisitzer [–]. Der Schutzmann ist durch die Zumutung tiefst erschüttert und schnappt nach Luft. »Ja, dann wäre – dann wäre ja gar nichts –« Er kann sich nicht vorstellen, was dann wäre. [–]« So ergeht es fast allen. Sie können sich nicht vorstellen, daß einfach jemand den Maulkorb entfernt hätte, wie es das naheliegendste wäre. Zum Schluß glaubt von Treskow selbst, daß es tatsächlich Bätes gewesen ist. Bezeichnend ist die Reaktion des Landesvater auf das Urteil und die Rede, an der sich alles entzündet und die nie gehalten hat; er hat nur schallend gelacht. Mag Spoerl die Monarchie auch etwas unkritisch sehen, eine losgelassene Bürokratie, die beginnt sich selbst als Zweck zu sehen, ist jeder Zeit in der Lage aus einer Lappalie eine Staatsaffäre zu machen und scheut sich dabei nicht, sich der Lächerlichkeit preiszugeben, und läuft somit Gefahr, das eigene Ansehen nachhaltiger zu schädigen als es Außenstehenden jemals gelingen könnte.

 

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