Heinrich Böll »Ende einer Dienstfahrt«

von
Armin A. Alexander

Interpretationen

Eine verschlafene rheinische Kleinstadt im Spätsommer Mitte der 1960er Jahre. Vater und Sohn Gruhl, die in ihrem Heimatort Ansehen und Sympathie genießen, werden vor dem örtlichen Amtsgericht, das im alten Schulgebäude des Ortes untergebracht ist, wegen »[–] Sachbeschädigung und groben Unfug [–]« angeklagt und zur Entschädigungszahlung nebst sechs Wochen Haft verurteilt, letztere ist mit der Untersuchungshaft abgegolten. Im Vorfeld wird alles unternommen, damit die Öffentlichkeit nichts von dem Prozeß erfährt. Zum Glück wird zur selben Zeit in der nahen Großstadt der Strafprozeß des Kindermörders Schewen verhandelt, so daß sich die lokale und überregionale Presse ausschließlich darauf konzentriert. Obwohl nur wegen Sachbeschädigung und groben Unfug verhandelt wird, mischen sich hohe und höchste Stellen in den Fall ein, emsig bemüht, der Sache einen so unbedeutenden Rang zu geben, wie nur irgend möglich. Über diese Bemühungen wissen nur drei Personen im Gerichtssaal Bescheid; der von seiner Dienststelle als Prozeßbeobachter abgestellte Bergnolte, die Ehefrau des Staatsanwalts Dr. Kugl-Egger und die Ehefrau des Verteidigers Dr. Hermes. Den Vorsitz erhält der kurz vor seiner Pension stehende Richter Dr. Stollfuss, »[–] der seiner humanen Vergangenheit und Gegenwart wegen berühmt und berüchtigt war [–]«. Der Prozeß wird im kleinsten Verhandlungsraum abgehalten. Es verfolgen lediglich zehn Zuschauer den Prozeß, »[–] die fast alle mit den Angeklagten, Zeugen, Gutachtern, Gerichtspersonen oder anderen mit dem Prozeß befaßten Personen verwandt [–]« sind. Bergnolte soll sicherstellen, daß alles so unauffällig und unkompliziert wie möglich verläuft, denn die Tat der beiden Gruhls ist weit mehr als nur »Sachbeschädigung und grober Unfug«. Vater und Sohn Gruhl haben an einem heißen Augustnachmittag in der Nähe des Ortes an einer Stelle namens »Küppers Baum« einen Jeep der Bundeswehr in Brand gesetzt. Sohn Gruhl, einer Versorgungseinheit zugeteilt, sollte den Jeep durch zielloses Herumfahren auf die zur Inspektion nötige Kilometerzahl bringen. Ein Vorgang, der, wie sich während des Prozeß zeigt, üblich ist. Die erforderlichen Inspektionen werden nicht nach erreichtem Kilometerstand durchgeführt, sondern sie müssen zu einem bestimmten Zeitpunkt den zur Inspektion erforderlichen Kilometerstand aufweisen. Damit diese Praktiken in der Öffentlichkeit nicht ruchbar werden, wird alles unternommen, das zu verhindern. Dem kommt zur Hilfe, daß auf Grund eines Irrtums, der Wehrdienst des jungen Gruhls zur Tatzeit eigentlich beendet war. Während des Prozeß kommen weitere Ungereimtheiten des bürokratischen Alltags zur Sprache. Unter anderem warum der alte Gruhl trotz einer gutgehenden Schreinerei hoffnungslos beim Finanzamt verschuldet ist und seine Schulden immer weiter steigen. Über einen Kunstsachverständigen gelingt es, der Jeepverbrennung den Charakter eines Kunstwerks, dem in den 1960er Jahren oft benutzten Bezeichnung des »Happenings« zu geben, was die Verurteilung wegen groben Unfugs und Sachbeschädigung zusätzlich vereinfacht. Darüber hinaus erklärt sich Agnes Hall, Stollfuss’ Kusine ersten Grades, bereit, Gruhls Steuerschulden zu übernehmen und der junge Gruhl wird die Tochter des Inhabers der »Duhr-Terrassen«, dem ersten Restaurant am Ort, heiraten, dessen Kind sie erwartet, das die beiden wahrscheinlich während der ersten Tagen der Untersuchungshaft gezeugt haben. Die junge Frau brachte den beiden Gruhls während der Untersuchungshaft täglich das Essen.

 

Heinrich Böll beschreibt mit den Mitteln des humoristischen Romans einen in seinen eigenen Vorgaben gefangenen Amtsapparat, in dem alles bis ins kleinste organisiert ist, aber der den Kontakt zur Praxis längst verloren hat. Fahrzeuge gehen nicht zur Inspektion sobald die erforderliche Fahrleistung erbracht ist, sondern sie haben zu festgelegten Terminen die erforderliche Fahrleistung aufzuweisen. Da im Alltag naturgemäß das eine Fahrzeug einmal mehr das andere einmal weniger benutzt wird, müssen eben hin und wieder die weniger genutzten Fahrzeuge mit ziellosen Spazierfahrten auf die erforderliche Kilometerzahl gebracht werden. Doch nicht nur dieser Aberwitz findet im Roman Widerhall, sondern auch ein Steuersystem, das dazu neigt, die Unternehmer zu belohnen, die Kosten verursachen obwohl kein Grund dazu besteht. Verständlich, daß mehrere Dienststellen kein Interesse daran haben, daß der Fall Gruhl öffentliche Aufmerksamkeit erregt. Alles wird betont niedrig angesetzt, die Verhandlung besitzt mehr den Charakter eines Familientreffens. Irgendwie sind alle, die auf irgendeine Weise mit dem Fall zu tun haben, miteinander verwandt, befreundet oder verschwägert.

Doch Böll schildert nicht nur den Prozeß, er beschreibt auch die Menschen dahinter, ihre Persönlichkeiten. Stollfuss, der väterliche Richter ist mit einer Frau verheiratet, die darunter leidet, daß sie keine Kinder bekommen konnte. Agnes Hall, früher wäre sie als alte Jungfer bezeichnet worden, war Zeit ihres Lebens in Stollfuss verliebt, aber es hat sich keine Ehe mit ihm ergeben. Es sind diese Abschnitte, die die Ernsthaftigkeit der Handlung betonen, als Kontrast zur streckenweise mehr an eine Posse erinnernden Schilderung der Verhandlung. Nicht umsonst ist das Gericht in einem alten Schulhaus untergebracht, was sofort bestimmte Assoziationen aufdrängt.

Der Auftritt des jungen Kunstprofessors Büren, der einerseits als den gesellschaftlichen Konventionen skeptisch Gegenüberstehenden beschrieben wird, andererseits selbst Teil der bürgerlichen Gesellschaft ist – mit einer vom Ministerpräsidenten unterschiebenden Bestallungsurkunde ist er sogar pensionsberechtigt – demonstriert anschaulich, daß es lediglich eine Frage der Einstellung ist, ob etwas als Kunst bezeichnet wird oder nicht.

Die Welt dieser beschaulichen rheinischen Kleinstadt stellt mehr oder weniger nur einen Spiegel der großen Städte dar, selbst sie besitzt ein Vergnügungslokal, ein Bordell, das in der Person der Sanni Seiffert ihren Niederschlag findet.

Heinrich Böll schildert eindrucksvoll wie nah Heiterkeit und Nachdenklichkeit doch zusammenliegen und daß sich die Absurdität mancher alltäglicher amtlicher Vorgänge adäquat nur mit den Mitteln der Satire beschreiben läßt.

 

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