Kurzes #16 – Begegnung im »Pferdehof«

von
Armin A. Alexander

Der folgende Text ist ein Auszug aus dem noch in Bearbeitung befindlichen Roman »Adalberts Erbe«, dessen Erscheinungstermin noch nicht feststeht.

Malte folgte dem Wirt in den Salon, der als Café, Bar und Aufenthaltsraum zugleich diente. Erst an der breiten Theke sitzend und dem Wirt zusehend, wie dieser an der Kaffeemaschine hantierte, fiel ihm die junge Frau auf, die unweit von ihnen an einem Tisch am Fenster saß, die Beine lässig übereinander geschlagen, vor sich eine halbvolle Tasse Kaffee und in einem Wissenschaftsmagazin aufmerksam lesend – die unbekannte Schöne vom Friedhof.
Maltes Herzschlag beschleunigte sich bei ihrem Anblick unwillkürlich. Er versuchte unauffällig zu ihr hinüberzusehen. Sie schien derart in ihre Lektüre vertieft, daß sie nichts um sich herum wahrzunehmen schien. Sie trug heute keinen dunklen Rock sondern ein elegantes körperbetont geschnittenes knielanges Kleid aus blauchangierendem feinem Stoff, weiße Strümpfe und maßgefertigte farblich mit dem Kleid harmonierende Schuhe aus edlem Leder mit ungewöhnlich hohen Absätzen, was in ihm endgültig die Überzeugung festigte, daß sie eine auffällige Passion für hochhackiges Schuhwerk besaß. Zudem war sie weniger dezent geschminkt als auf dem Friedhof, die vollen Lippen hatte sie mit einem dunkelroten Lippenstift betont. Das Haar trug sie offen.
Der Wirt stellte die beiden Tassen mit dem frischen dampfenden Kaffee auf die Theke vor Malte und beugte sich zu ihm hinüber, denn die Aufmerksamkeit, die Malte der jungen Frau entgegenbrachte, war ihm als erfahrenen Wirt, der seine Augen schließlich überall haben mußte, wollte er seine Gäste zufriedenstellen, nicht entgangen.
»Eine so attraktive und elegante Frau ist leider nur selten bei uns zu Gast. Sie ist seit gut zwei Wochen hier. Sie ist mit dem eleganten schwarzen französischen Coupé gekommen, das Ihnen sicherlich beim Hereinkommen aufgefallen ist – Allein!« Dabei zwinkerte der Wirt Malte vielsagend zu. »Aus Ihrer Stadt übrigens. Sie verbringt ihre Tage entweder mit langen Spaziergängen, fährt hin und wieder mit dem Auto für einige Stunden weg oder sitzt hier oder auf der Terrasse und liest in ihren Magazinen. Sie ist – wenn ich sie richtig verstanden habe – Mathematikerin«, sagte der Wirt mit einer ehrfurchtsvollen Tonfall, »und verbringt einige Tage hier, um auszuspannen.« Maltes Blick verbarg seine Überraschung nicht, darum fuhr der Wirt fort. »Ich war auch überrascht. Bei einer Frau wie ihr hätte ich an eine Juristin, eine Ärztin oder auch eine Managerin gedacht, obwohl sie ja noch relativ jung ist, allerhöchstens Ende zwanzig, aber als allerletztes an eine Mathematikerin. Sie ist zwar freundlich, aber im allgemeinen doch zurückhaltend, spricht wenn überhaupt, mehr aus Höflichkeit mit meinen anderen Gästen.«
»Man soll die Leute nie nur nach dem Äußeren beurteilen«, zitierte Malte unwillkürlich Florian und fügte in Gedanken hinzu, während er Milch und Zucker in seine Tasse tat, dann ist sie nur ein paar Jahre jünger als ich.
»Wenn man sie so anschaut, verliert die Mathematik fast ihre Trockenheit«, fuhr der Wirt vertraulich fort.
Malte antwortete mit einem höflichen Lächeln und trank einen Schluck von seinem Kaffee. Obwohl Teetrinker hatte ihm der Kaffee des Pferdehofwirtes immer geschmeckt, so auch jetzt.
Mathematik war nie wirklich Maltes Ding gewesen. Er wunderte sich noch heute darüber, daß er dieses Fach während der Schulzeit einigermaßen erfolgreich gemeistert hatte. Naja, hätte Florian ihm nicht hin und wieder mit Engelsgeduld geholfen, wäre ihm während der letzten Jahre das eine oder andere Mangelhaft darin auf dem Zeugnis nicht erspart geblieben.
»Kann ich noch einen Kaffee haben«, riß die angenehm weiche Stimme der Schönen Malte aus seinen Gedanken.
Reflexartig wandte auch er sich ihr zu.
»Aber natürlich«, antwortete der Wirt mit mehr als nur beruflicher Höflichkeit und machte sich gleich an die Ausführung.
Als Malte ihr freundliches Lächeln sah, durchströmte ihn ein eigenartiges Gefühl der Wärme. Irgend etwas an dieser Frau erschien ihm seltsam vertraut. Ihre Blicke trafen sich. Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß sie ihn leicht belustigt ansah. Jedoch hatte er nicht das Gefühl, daß sie ihn wiederzuerkennen schien. Da ihr Blickwechsel etwas zu lange dauerte um als zufällig durchzugehen, sah er sich nicht nur aus Höflichkeit genötigt etwas zu sagen.
»Sind wir uns letzte Woche nicht zweimal auf dem Friedhof begegnet«, sagte er mit leicht klopfendem Herzen und wunderte sich deswegen.
»Ja, das kann durchaus sein«, erwiderte sie freundlich mit leicht schiefgelegtem Kopf und schien sich ein wenig mehr über ihn zu amüsieren, doch das entging ihm.
Sie hat braune Augen, stellte er beruhigt fest, konnte aber nicht sagen, warum es ihn beruhigte.
»Besser gesagt, es kann nicht nur sein; wir sind uns tatsächlich begegnet«, präzisierte sie und das leicht Amüsierte verschwand aus ihrem Blick um einem Ausdruck Platz zu machen, den er nicht recht zu deuten wußte.
Die Selbstverständlichkeit mit der sie sich zu erinnern schien, erstaunte Malte. Dabei hatte er angenommen, daß sie ihn überhaupt nicht bemerkt hatte.
»Sie leben hier im Ort«, fuhr sie freundlich fort und legte ihr Magazin aufgeschlagen beiseite.
»Ja und nein, je nachdem«, antwortete Malte und wurde sich bewußt, daß das auf sie etwas wirr klingen mußte. »Ich habe erst kürzlich hier das Haus meines verstorbenen Patenonkels geerbt. Zur Zeit lebe ich noch in der Stadt.«
»Dann schließe ich einmal aus Ihren Worten, daß Sie planen, hierher zu übersiedeln.« Malte nickte. »Ein schöner Flecken. Ich bin noch nicht einmal zwei Wochen hier und fühle mich schon wie zuhause. Es muß schön sein, hier wohnen zu können. – Ist das Haus Ihres Onkels– Ich meine natürlich Ihr Haus. – Liegt es mitten im Ort oder eher am Rand?«
»Nein, nicht im mitten im Ort. Es liegt keine zehn Minuten Fußweg von hier.«
»Stellen Sie die Tasse ruhig auf die Theke. Ich komme rüber«, sagte sie an den Wirt gewandt, der ihr gerade den bestellten Kaffee bringen wollte.
Der Wirt stellte die Tasse mit einem vertraulichen Zwinkern an Malte gerichtet neben die seine. Dann zog er sich diskret zurück. Seine langjährige Erfahrung sagte ihm, daß sich hier ein kleiner Flirt anbahnte, den er beiden gönnte, denn sie schienen gut zueinander zu passen.
Sie stand auf, trat neben Malte und lehnte sich mit einer gewissen damenhaften Lässigkeit an die Theke. Durch ihre hohen Absätze überragte sie Malte ein wenig, der alles andere als klein war. Aber es gefiel ihm. Obwohl er es nur ungern einem Dritten gegenüber eingestanden hätte, er bevorzugte große Frauen. Malte roch ihr Parfum nun intensiver. Sein erster Eindruck vom Friedhof wurde bestätigt; er hatte es tatsächlich bisher noch nie bei einer anderen Frau wahrgenommen. Ihre unmittelbare Nähe hatte eine sonderbare Wirkung auf Malte. Er glaubte ihre Wärme auf seiner Haut zu spüren, so als berührten sich ihre Körper. Fühlte sich zu ihr hingezogen, doch schien ihre physische Anziehungskraft nicht der alleinige Grund dafür zu sein. Malte konnte es sich nicht erklären, was ihn innerlich unruhig werden ließ.
»Dann haben Sie auf dem Friedhof das Grab Ihres verstorbenen Onkels besucht«, nahm sie den Faden wieder auf.
»Ja. Und was hat Sie auf den Friedhof geführt?« fragte Malte und wunderte sich, daß seine Stimme nicht hörbar zitterte.
Diese Frau brachte ihn irgendwie aus dem Konzept.
»Ich habe das Grab meines Vaters besucht, der auch erst vor kurzem verstarb. Ich bin nicht nur zur Erholung hier, auch wenn ich das dem Wirt gesagt habe«, sagte sie und über ihr hübsches Gesicht legte sich ein Anflug von tiefer Traurigkeit.
Malte empfand im gleichen Moment dasselbe Gefühl, als bestünde seelische Übereinstimmung zwischen ihnen. Am liebsten hätte er sie trösten in die Arme genommen. Doch gelang es ihm den Impuls zu unterdrücken. Es hätte andernfalls zu einer sehr peinlichen Situation führen können.
»Mein Beileid«, sagte Malte mit einem leichten Kratzen in der Stimme. Er konnte sich nicht erinnern, wann ihm jemals eine Beileidsbekundung derart von Herzen kam und nicht einfach nur eine höfliche Geste war. Und nicht nur, weil seine und ihre Situation vergleichbar waren.
»Danke«, erwiderte sie mit leicht zitternder und ein wenig tonloser Stimme und seufzte leicht. Sie wandte den Blick ab und Malte meinte eine Träne in ihren Augenwinkeln zu sehen.
Sie fing sich aber nach wenigen Augenblicken wieder und sah ihn mit einem leicht entschuldigenden schwachen Lächeln an.
»War Ihr Vater Witwer«, fragte Malte aus keinem besonderen Grund heraus.
»Nein, meine Mutter und er lebten schon lange voneinander getrennt«, auch hier gelang es ihr nicht, ihr Bedauern zu unterdrücken.
»Das tut mir leid«, sagte Malte vielleicht eine Spur zu teilnahmsvoll. Obwohl sie Selbstsicherheit ausstrahlte, verspürte er doch das Bedürfnis, sie schützend in den Arm zu wie ein kleines verängstigtes Mädchen.
»Das braucht es aber nicht«, meinte sie freundlich und von einem nachsichtigen Lächeln begleitet.
»Ihre Eltern werden sicherlich ihre Gründe für ihre Trennung gehabt haben«, fuhr er versöhnlich fort und ärgerte sich, daß es ihm nicht gelang dem Gespräch eine andere Richtung zu geben, um somit die Gefahr ins Fettnäpfchen zu treten, auszuschalten.
»Mein Vater war etwas – sagen wir einmal – eigen, doch kein schlechter Mensch. Vielleicht lag es auch nur im Altersunterschied begründet. Mein Vater war fast fünfzig bei meiner Geburt und meine Mutter mehr als zwanzig Jahre jünger. – Ich nehme an, Ihre Eltern leben noch zusammen?« fragte sie eine Spur zu interessiert für jemand, den er gerade kennengelernt hatte, aber es entging ihm.
»Meine Mutter starb überraschend vor drei Jahren. Seitdem lebt mein Vater allein.«
»Das tut mir aber leid«, sagte sie mit ehrlicher Anteilnahme und blickte nun ihn an, als wolle sie nun Malte tröstend in die Arme nehmen.
»Danke«, erwiderte Malte und wunderte sich, warum ihn ihr Mitgefühl so rührte.
Ab hier nahm ihre Unterhaltung nach einem Moment der Sprachlosigkeit, während der sie ihren Kaffee tranken und nach einem anderen Gesprächsthema suchten, einen allgemeineren Verlauf.

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