Franz Kafka »In der Strafkolonie«

von
Armin A. Alexander

Interpretationen

Anfang Oktober 1914 gerieten die Arbeiten an dem Roman »Der Proceß« ins Stocken. Kafka entschied sich, einen zweiwöchigen Urlaub zu nehmen, um die Arbeit am »Proceß« voranzutreiben. Statt dessen schrieb er an verschiedenen kürzeren Texten, vollendete aber nur ein Kapitel des »Verschollenen« und eben »In der Strafkolonie«. 1916 bot er den Text dem Kurt Wolff Verlag an, in dem bereits »Die Verwandlung« erschienen war. Nach einigen Diskussionen zwischen ihm und Wolff über die mögliche Erscheinungsform und einer Überarbeitungen seitens des Autors, er­schien die Novelle im Oktober 1919 in einer einmaligen Auflage von 1000 Exemplaren. Eine von annähernd fünfzig Veröffentlichungen zu Kafkas Lebzeiten.

 

Inhalt

Ein namentlich nicht genannter ausländischer Forschungsreisender von Ruf besucht eine Strafkolonie irgendwo in den Tropen. Aufgrund der Bitte des neuen Kommandanten wohnt er einer Exekution bei. Zu dieser wird eine besondere Maschine verwendet, die dem Delinquenten das Urteil mit Nadeln qualvoll in die Haut schreibt, so daß er schließlich verblutet. Diese Maschine wurde vom verstorbenen Vorgänger des derzeitigen Kommandanten konstruiert. Während zu dessen Lebzeiten jede Exekution ein besonderes Ereignis war, ist der Forschungsreisende jetzt der einzige Zuschauer. Neben einem jungen Offizier, der sich nicht nur als einziger Bewahrer der Grundsätze des verstorbenen Kommandanten in der Kolonie sieht sondern es auch ist, sind nur der Verurteilte und ein ihn bewachender Soldat anwesend. Der junge Offizier besitzt ein fast sakrales Verhältnis zu der Maschine. Der Forschungsreisende folgt anfangs eher gelangweilt den Ausführungen des jungen Offiziers. Interesse erwacht erst, als er erfährt, wie die Maschine den Verurteilten tötet.

Der Offizier verkörpert trotz seines geringen Alters die sich eigentlich schon überlebte Form des Kolonialismus. Der Kolonialherr, der Offizier ist unfehlbare Autorität. Er allein fällt das Urteil und vollstreckt es auch. Der Offizier »[–] sagte: »Die Sache verhält sich folgendermaßen. Ich bin hier in der Strafkolonie zum Richter bestellt. Trotz meiner Jugend. Denn ich stand auch dem früheren Kommandanten in allen Strafsachen zur Seite und kenne auch den Apparat am besten. Der Grundsatz, nach dem ich entscheide, ist: Die Schuld ist immer zweifellos. Andere Gerichte können diesen Grundsatz nicht befolgen, denn sie sind vielköpfig und haben auch noch höhere Gerichte über sich. Das ist hier nicht der Fall, oder war es wenigstens nicht beim früheren Kommandanten. Der neue hat allerdings schon Lust gezeigt, in mein Gericht sich einzumischen, es ist mir aber bisher gelungen, ihn abzuwehren, und wird mir auch weiter gelingen. – Sie wollten diesen Fall erklärt haben; er ist so einfach, wie alle. Ein Hauptmann hat heute morgens die Anzeige erstattet, dass dieser Mann, der ihm als Diener zugeteilt ist und vor seiner Türe schläft, den Dienst verschlafen hat. Er hat nämlich die Pflicht, bei jedem Stundenschlag aufzustehen und vor der Tür des Hauptmanns zu salutieren. Gewiß keine schwere Pflicht und eine notwendige, denn er soll sowohl zur Bewachung als auch zur Bedienung frisch bleiben. Der Hauptmann wollte in der gestrigen Nacht nachsehen, ob der Diener seine Pflicht erfülle. Er öffnete Schlag zwei Uhr die Tür und fand ihn zusammengekrümmt schlafen. Er holte die Reitpeitsche und schlug ihm über das Gesicht. Statt nun aufzustehen und um Verzeihung zu bitten, faßte der Mann seinen Herrn bei den Beinen, schüttelte ihn und rief: ›Wirf die Peitsche weg, oder ich fresse dich.‹ – Das ist der Sachverhalt. Der Hauptmann kam vor einer Stunde zu mir, ich schrieb seine Angaben auf und anschließend gleich das Urteil. Dann ließ ich dem Mann die Ketten anlegen. Das alles war sehr einfach. Hätte ich den Mann zuerst vorgerufen und ausgefragt, so wäre nur Verwirrung entstanden. Er hätte gelogen, hätte, wenn es mir gelungen wäre, die Lügen zu widerlegen, diese durch neue Lügen ersetzt und so fort. Jetzt aber halte ich ihn und lasse ihn nicht mehr. – ist nun alles erklärt? [–]« Im selben Atemzug der Rechtfertigung des eigenen Handelns, bestätigt der Offizier, daß er letztlich auf verlorenem Posten steht und es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis der neue Kommandant diese Form des Urteils und der Bestrafung abschafft. Das Vergehen des Mannes liegt einzig im Ignorieren eines unsinnigen Befehls, der ihm gegeben wurde: Der Verurteilte »[–] hat nämlich die Pflicht, bei jedem Stundenschlag aufzustehen und vor der Tür des Hauptmanns zu salutieren. Gewiß keine schwere Pflicht und eine notwendige, denn er soll sowohl zur Bewachung als auch zur Bedienung frisch bleiben. Der Hauptmann wollte in der gestrigen Nacht nachsehen, ob der Diener seine Pflicht erfülle. Er öffnete Schlag zwei Uhr die Tür und fand ihn zusammengekrümmt schlafen. [–]«

Der Offizier versucht sich und die Strenge des Urteils zu rechtfertigen, den Forschungsreisenden dahingehend zu beeinflussen, daß er ein gutes Wort für ihn und seine Maschine einlegt. Doch dieser bleibt auf Distanz. Er selbst lehnt das Verfahren ab und ihm ist auch bewußt, daß »[–] der Kommandant wie er jetzt überdeutlich gehört hatte, kein Anhänger dieses Verfahrens war und sich gegenüber dem Offizier fast feindselig verhielt. [–]«

Während der Reisende darüber nachdenkt, wie er sich verhalten soll, versucht der Offizier den Verurteilten auf die Maschine zu binden. Doch die Lederriemen, mit denen der Verurteilte auf die Maschine gefesselt werden soll, reißen. Überhaupt macht sich das Alter der Maschine unangenehm bemerkbar. Wichtige Teile funktionieren nicht mehr richtig. Es gibt kaum noch Ersatzteile. Neuanschaffungen werden dem jungen Offizier nur widerwillig erlaubt. Er ist gezwungen, notdürftig zu reparieren.

Der Verurteile übergibt sich und während der Soldat die Maschine vom Erbrochenem reinigt, versucht der junge Offizier den Forschungsreisenden nun offener als bisher als Fürsprecher für sich zu gewinnen. Er bestätigt die Vermutung des Reisenden, daß »[–] Dieses Verfahren und diese Hinrichtung, die Sie jetzt zu bewundern Gelegenheit haben, hat gegenwärtig in unserer Kolonie keinen offenen Anhänger mehr. Ich bin ihr einziger Vertreter, gleichzeitig der einzige Vertreter des Erbes des alten Kommandanten. [–]«, es sogar feststeht, daß dieses Verfahren abgeschafft werden soll. »[–] man bereitet etwas gegen meine Gerichtsbarkeit vor; es finden schon Beratungen in der Kommandantur statt, zu denen ich nicht zugezogen werde; sogar Ihr heutiger Besuch scheint mir für die ganze Lage bezeichnend; man ist feig und schickt Sie, einen Fremden, vor. [–]«. Der junge Offizier schwärmt dem Reisenden vor, welch besonderes gesellschaftliches Ereignis die Exekutionen unter dem alten Kommandanten war. Er dringt immer mehr in den Reisenden, für ihn ein Wort beim neuen Kommandanten einzulegen. Dem Reisenden ist das unangenehm, er antwortet zuerst ausweichend, stellt sich als Privatmann hin, dessen Meinung nur wenig Gewicht besitzt, daß letztlich alles allein vom Willen des neuen Kommandanten abhängt.

Doch der junge Offizier gibt sich damit nicht zufrieden, er will den Reisenden auf seine Seite ziehen. Der Reisende unterbricht ihn in seinem Redefluß, beteuert noch einmal, daß seine Meinung unerheblich ist. »[–] Ich kann Ihnen ebensowenig nützen als ich Ihnen schaden kann. [–]«. Aber der junge Offizier läßt nicht locker, offenbart immer mehr seinen Fanatismus. Jedoch stärken seine Argumente im Reisenden nur die Überzeugung, daß diese Methode der Hinrichtung, die Todesstrafe überhaupt, abgeschafft gehört. »[–] Schließlich aber sagte er, wie er mußte: »Nein.« Der Offizier blinzelte mehrmals mit den Augen, ließ aber keinen Blick von ihm. »Wollen Sie eine Erklärung?« fragte der Reisende. Der Offizier nickte stumm. »Ich bin ein Gegner dieses Verfahrens,« sagte nun der Reisende, »noch ehe Sie mich ins Vertrauen zogen – dieses Vertrauen werde ich natürlich unter keinen Umständen mißbrauchen – habe ich schon überlegt, ob ich berechtigt wäre, gegen dieses Verfahren einzuschreiten und ob mein Einschreiten auch nur eine kleine Aussicht auf Erfolg haben könnte. An wen ich mich dabei zuerst wenden müßte, war mir klar: an den Kommandanten natürlich. Sie haben es mir noch klarer gemacht, ohne aber etwa meinen Entschluß erst befestigt zu haben, im Gegenteil, Ihre ehrliche Überzeugung geht mir nahe, wenn sie mich auch nicht beirren kann. [–]«

Die Reaktion des jungen Offiziers darauf mag zuerst vielleicht überraschend sein, ist aber in seiner ihm eigenen Logik folgerichtig. Er löst die Fesseln des Verurteilten, schenkt ihm die Freiheit. Dann verändert er die Einstellungen an der Maschine, so daß sie den Text »Sei gerecht!« schreibt. Anschließend kleidet er sich aus, behandelt dabei seine Uniform wie ein liturgisches Gewand. »[–] Trotz der offenbaren Eile, mit der er den Uniformrock auszog und sich dann vollständig entkleidete, behandelte er doch jedes Kleidungsstück sehr sorgfältig, über die Silberschnüre an seinem Waffenrock strich er sogar eigens mit den Fingern hin und schüttelte eine Troddel zurecht. [–]« Der Reisende erkennt das Vorhaben des Offiziers, kann es nachvollziehen. Denn »[–] dann handelte jetzt der Offizier vollständig richtig; der Reisende hätte an seiner Stelle nicht anders gehandelt. [–]«

Der Soldat und der Verurteilte, die vor Ort geblieben sind, begreifen zuerst nicht, was der Offizier vorhat. Erst als sich dieser nackt unter die Maschine legt, beginnen sie zu verstehen. »[–] Besonders der Verurteilte schien von der Ahnung irgendeines großen Umschwungs getroffen zu sein. Was ihm geschehen war, geschah nun dem Offizier. Vielleicht würde es so bis zum Äußersten gehen. Wahrscheinlich hatte der fremde Reisende den Befehl dazu gegeben. Das war also Rache. Ohne selbst bis zum Ende gelitten zu haben, wurde er doch bis zum Ende gerächt. Ein breites, lautloses Lachen erschien nun auf seinem Gesicht und verschwand nicht mehr. [–]«

Da der Offizier nicht angeschnallt ist, eilen der Verurteilte und der Soldat zur Maschine und holen das nach. Kaum sind sie damit fertig, beginnt die Maschine mit ihrer Arbeit. Der Verurteilte betrachtet die Maschine interessiert, die jetzt mit dem Offizier verfährt, wie sie ursprünglich mit ihm hätte verfahren sollen. Dem Reisenden ist das peinlich, er versucht beide wegzuschicken. Noch während der Reisende damit beschäftigt ist, kommen aus der Maschine eigenartige Geräusche. Der Reisende sieht, wie sie sich langsam in ihre Bestandteile zerlegt. Noch bevor der Reisende versuchen kann, die Maschine abzustellen, wird der Offizier von ihr getötet. Zugleich hört die Maschine für immer auf zuarbeiten, denn sie hat sich selbst in ihre Einzelteile zerlegt. Der Reisende will wenigstens die Leiche des Offiziers aus der Maschine holen. Aber Soldat und Verurteilter wollen ihm nicht so recht helfen. Dabei sieht der Reisende »[–] fast gegen Willen das Gesicht der Leiche. Es war, wie es im Leben gewesen war; kein Zeichen der versprochenen Erlösung war zu entdecken; was alle anderen in der Maschine gefunden hatten, der Offizier fand es nicht; die Lippen waren fest zusammengedrückt, die Augen waren offen, hatten den Ausdruck des Lebens, der Blick war ruhig und überzeugt, durch die Stirn ging die Spitze des großen eisernen Stachels. [–]«.

Nach dem Verlassen des Tals kommt der Reisende mit dem Soldaten und dem Verurteilten zu einem Teehaus, wo der alte Kommandant begraben liegt, denn »[–] ein Platz auf dem Friedhof ist ihm vom Geistlichen verweigert worden. [–]«

Der Soldat und der Verurteilte treffen im Teehaus Bekannte. Der Reisende läßt sich das Grab zeigen, das keiner der Anwesenden würdigt. Der Reisende macht sich auf den Weg. Als er im Boot sitzt, das ihn zu seinem Dampfer bringen soll, eilen der Verurteilte und der Soldat herbei und machen Anstalten ins Boot zu springen und ihm zu folgen, aber er »[–] hob ein schweres geknotetes Tau vom Boden, drohte ihnen damit und hielt sie dadurch von dem Sprunge ab. [–]«

 

Fazit

Obwohl dem jungen Offizier von allen Seiten Widerstand entgegengebracht wird, und entgegen seinen Behauptungen, ist auch dem alten Kommandant keine Sympathie entgegengebracht worden ist – wie und wo er begraben liegt, spricht für sich selbst. Er hängt mit einer Mischung aus Umgebungsblindheit und Fanatismus dem alten Verfahren an. Das nichts als reine Willkür ist und sich letztlich auch gar nicht die Mühe gibt, so etwas wie ein faires Verfahren zu simulieren, nicht einmal einen Schauprozeß aufzuführen dessen Ergebnis bereits vorher feststeht. Der Kolonialherr hat in jedem Falle Recht und die Beherrschten lügen sowieso, Punkt. Der Reisende verkörpert die aufgeklärte Moderne, die auf der Erkenntnis beruht, daß jeder Fall individuell behandelt werden muß, da sich nichts über einen Kamm scheren läßt. Willkür nicht Macht bedeutet, sondern Ausdruck von Ohnmacht ist. Die Brüchigkeit der Maschine symbolisiert die Brüchigkeit des alten Systems, daß es sich längst überlebt hat. Ein daran Festhalten nur unzureichendes Flickwerk ist und sich der Verfall nicht aufhalten läßt, so sehr man sich auch darum bemühen mag. Anstelle dies einzusehen und sich mit den Veränderungen abzufinden, geht der junge Offizier lieber gemeinsam mit seiner eigenen Maschine unter. Daß ihm das Ende der alten Zeit bewußt ist, zeigt wie er mit seiner Uniform und dem Degen umgeht, nachdem er sie so sorgfältig abgelegt hat: »[–]Wenig paßte es allerdings zu dieser Sorgfalt, daß er, sobald er mit der Behandlung eines Stückes fertig war, es dann sofort mit einem unwilligen Ruck in die Grube warf. Das letzte, was ihm übrig blieb, war sein kurzer Degen mit dem Tragriemen. Er zog den Degen aus der Scheide, zerbrach ihn, faßte dann alles zusammen, die Degenstücke, die Scheide und den Riemen und warf es so heftig weg, daß es unten in der Grube aneinander klang. [–]« Doch dieser Untergang ist nicht so heroisch, wie der junge Offizier es sich vorgestellt hat – der Schriftzug, den er sich in seinen Körper schreiben lassen will, spricht für sich –, sondern ein erbärmlicher Zusammenbruch. Die Maschine löst sich in ihre Einzelteile auf und macht kurzen Prozeß mit ihrem Bewahrer. Wie auch das Ende des Kolonialismus für die ehemaligen Kolonialherrn ein durchweg klägliches war.

So sehr der Reisende auch für die Freiheit und Unabhängigkeit an sich ist, so hindert er den Soldaten und den Verurteilten dran, zu ihm ins Boot springen, denn sie müssen lernen, allein mit ihren Problemen fertig zu werden.

 

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