Mary Wollstonecraft (Godwin) Shelley »Frankenstein«

von
Armin A. Alexander

Interpretationen

Mary Wollstonecraft (Godwin) Shelleys 1818 erschienener Roman »Frankenstein« gilt als Urtyp des modernen Horrorromans, doch er ist weit mehr als das. Zur Zeit seiner Entstehung war die sogenannte »Gothic Novel« ein beliebtes Genre, in deren Tradition Shelleys Roman steht. Die »Gothic Novel« ist ebenso Schauerroman wie Phantastischer Roman, beschäftigt mit unerklärlichen Phänomenen, mit Geistererscheinungen. Als Äquivalente in der deutschen Literatur wären bspw. E. Th. A Hoffmann und Wilhelm Hauff zu nennen. Viele von E. A. Poes Erzählungen lassen sich ebenso in dieses Genres einordnen.

 

Inhalt

Robert, ein junger Engländer plant eine Forschungsreise in die Arktis. Er schreibt aus St. Petersburg seiner in England lebenden Schwester Margaret über die Umsetzung seiner Pläne. Dabei beklagt er sich immer wieder, wie sehr er einen echten Freund vermißt. Nach anfänglichen Schwierigkeiten macht sich die Expedition auf den Weg. Die Widrigkeiten der arktischen Witterung erschweren die Reise. Das Schiff droht im Eis festzusitzen. Eines Tages beobachten die Reisenden auf dem Eis einen Hundeschlitten, der von einem großen furchterregenden Wesen gesteuert wird. Am folgenden Tag entdecken sie auf einer zum Schiff getriebenen Eisscholle einen verletzten und erschöpften Mann mit einem zerstörten Schlitten. Er wird an Bord genommen und gepflegt. Robert ist von diesem Mann fasziniert und hofft in diesem den Freund gefunden zu haben, nach dem er sich immer gesehnt hat. Sobald der Mann einigermaßen wieder zu Kräften gekommen ist, erzählt er Robert seine Lebensgeschichte, nicht zuletzt um ihn davon überzeugen, daß er nicht der edle Mensch ist, für den ihn Robert hält.

Sein Name ist Victor Frankenstein, geboren als Nachfahre einer angesehenen alten Genfer Familie. Bereits früh entdeckt er seine Vorliebe für die Wissenschaft, jedoch zieht er sein erstes Wissen ausschließlich aus seit langem überholten alchimistischen Büchern. Als junger Mann geht er als Student nach Ingolstadt. Dort wird er zum ersten Mal mit den Erkenntnissen der modernen Wissenschaft konfrontiert. In ihm wächst der Wunsch, das Geheimnis des Lebens zu ergründen. Er richtet sich ein Laboratorium ein. Dort versucht er aus Leichenteilen neues Leben zu erschaffen. Das Experiment glückt. Doch das Ergebnis, ein abgrundtief häßliches Wesen, erschreckt ihn so sehr, daß er flieht und die von ihm geschaffene Kreatur sich selbst überläßt.

Während dessen widerfährt seiner Familie ein Unglück. Justine, eine junge Bedienstete die fast zur Familie gehört, wird des Mordes an Victors kleinem Bruder William verdächtigt. Da die Beweislast erdrückend scheint, verurteilt man sie zum Tode.

Victor kehrt nach Genf zurück und erlebt Justines Hinrichtung. Auf einer Bergwanderung begegnet er seiner Schöpfung. Statt eines Kampfes auf Leben und Tod erzählt die Kreatur Victor was sie erlebt hat, nachdem Victor sie sich selbst überließ.

Der Sprache noch unkundig, kaum mehr als zu elementaren Gefühlen wie Hunger und Durst fähig, irrt die Kreatur durch die Wälder, ernährt sich Eicheln und Wurzeln. Sie wird von Bauern verjagt, die über ihre Häßlichkeit erschrecken. Eine alte Scheune wird der Kreatur Unterschlupf. Diese Scheune gehört zu einem einfachen Bauernhaus, in dem ein alter blinder Mann mit Sohn und Tochter in großer Armut lebt. Die Kreatur, deren Empfindungen zu dieser Zeit noch von Sanftmut, Liebe und Freundschaft geprägt sind, wird stummer Zeuge des Lebens dieser Leute. Wie sich mit der Zeit herausstellt, handelt es sich um eine einst angesehene französische Familie, die Opfer einer Intrige wurde und die Heimat verlassen mußte. Als der junge Mann seiner Braut, einer türkischen Kaufmannstochter, Sprachunterricht erteilt, lernt auch die Kreatur das Sprechen und Lesen. Während der blinde alte Mann vorübergehend allein im Haus ist nutzt die Kreatur die Gelegenheit und offenbart sich ihm. Doch bevor die Kreatur ihr Anliegen vollständig vorbringen kann, kehren die Kinder zurück und verjagen entsetzt über ihr Aussehen die Kreatur. Aus Wut und Enttäuschung über die erlittene Demütigung zündet die Kreatur das alte jetzt leere Bauernhaus an und flieht. Sie will sich an ihrem Schöpfer rächen. Auf dem Weg in die Schweiz rettet sie ein Mädchen vorm Ertrinken, doch statt Dank zu erhalten schießt der Vater des Mädchens auf die Kreatur und verletzt die Kreatur, die von nun an nur noch Rache gegenüber ihrem Schöpfer will. Als sie einem kleinen Jungen bei Genf begegnet und erfährt, daß es Victors jüngster Bruder William ist, tötet sie ihn und steckt ein Medaillon, das William bei sich führte, Justine zu. Dieses Medaillon ist das Indiz, durch das das junge Mädchen als vermeidliche Mörderin überführt wird. Die Kreatur ringt Victor das Versprechen ab, eine Gefährtin für ihn zu erschaffen. Als Gegenleistung will sie sich mit dieser irgendwo in einer menschenleeren Gegend niederlassen. Sollte Victor nicht darauf eingehen, widerfährt ihm in seiner Hochzeitsnacht ein Unglück. Victor, der die Drohung so auffaßt, daß die Kreatur ihn töten will, geht darauf ein. Er begibt sich auf eine Reise nach England und Schottland um Forscher zu treffen, deren neueste Erkenntnisse er benötigt, um das Vorhaben in die Tat zu setzen. Dabei wird er von einem Freund aus Kindertagen begleitet. Victor kommen mehr und mehr Zweifel. Er weiß, daß die Kreatur ihm unbemerkt folgt. Seine Handlungen sind nur noch Schein, sollen diese beruhigen. Dagegen wird in ihm das Verlangen stärker, die Kreatur zu vernichten. Er zerstört die bereits begonnene Gefährtin der Kreatur. Die Kreatur beobachtet dies. In ohnmächtiger Wut tötet sie daraufhin Victors Freund. Victor kehrt nach Genf zurück und heiratet seine Cousine Elizabeth. In der Hochzeitsnacht tötet die Kreatur Victors Frau. Victor erkennt seinen Irrtum und macht sich auf die Jagd nach der Kreatur. Er folgt ihr bis ins Ewige Eis, wo er von Robert gerettet wird.

Nachdem Victor Robert alles erzählt hat, erleidet er einen Rückfall und stirbt. In der Nacht hört Robert ein Geräusch in der Kabine wo Victor aufgebahrt ist. Robert betritt die Kabine und sieht die Kreatur, wie sie wehklagend über Victors Leiche kniet. Nach dem die Kreatur Robert geschworen hat, sich selbst irgendwo in einer Einöde auf einem Scheiterhaufen zu verbrennen, damit niemals wieder jemand auf die Idee käme, noch einmal etwas Vergleichbaren zu erschaffen, verläßt die Kreatur das Schiff und verschwindet im Ewigen Eis.

 

Fazit

Mary Wollstonecraft (Godwin) Shelleys Roman ist weitaus mehr als der schlichte Gruselroman zu dem ihn das (Hollywood-)Kino bereits früh entstellt hat. Er warnt ebenso vor einem ungehemmten Fortschritts- und Machbarkeitswahn wie er ein Plädoyer für Menschlichkeit und gegen Rassismus ist und ist zugleich Mahnung, sich stets den Konsequenzen des eigenen Handelns zu stellen. Obwohl die Handlung oberflächlich betrachtet keinen anderen Verlauf hätte nehmen können, gibt es immer wieder Punkte, an denen Victor das Unglück für seine Familie hätte abwenden können, denn nur an ihm will sich die Kreatur ja für das erfahrene Leid rächen.

Banal; er hätte seinen Forscherdrang zügeln und die Kreatur nicht zum Leben erwecken sollen. Doch selbst danach hätte er weiterhin den Ereignissen einen anderen Verlauf geben können, wenn er sich der Verantwortung gestellt und die Kreatur unter seine Fittiche genommen hätte. Jedoch wäre es zu einfach und von Shelley in keiner Weise beabsichtigt, die ganze Schuld für die weiteren Ereignisse ausschließlich bei Victor zu suchen.

Nachdem die Kreatur auf sich gestellt auf der Suche nach Gesellschaft ist, wird sie, nur weil sie äußerlich so gänzlich anders ist als gewohnt, von den Bauern verjagt ohne daß sich einer von ihnen auch nur im Ansatz die Mühe macht, herausfinden, was die Kreatur überhaupt möchte. Während die Kreatur sich in der Scheune versteckt und die Familie beobachtet nimmt sie sich deren positives Sozialverhalten zum Vorbild, da es ihrer eigenen inneren Veranlagung entspricht. Doch ihre Hoffnungen werden zerschlagen als die Familie, die ja wie die Kreatur selbst Ausgestoßene sind, diese verjagen, nur weil sie – rein äußerlich! – so anders ist. Und selbst die spontan aus der Demütigung und Ohnmacht entstandenen Rachegedanken, die im Anzünden des leeren Bauernhauses ihre Entladung finden, genügen nicht, die Kreatur zu dem Unhold, dem Monster zu machen, das alle in ihm zu sehen meinen, denn die Kreatur rettet ein kleines Mädchen vor dem Ertrinken. Daß dessen Vater statt der Kreatur zu danken, versucht diese zu töten, gibt den Ausschlag; die Kreatur muß sich an ihrem Schöpfer zu rächen, denn ohne ihn gäbe es sie ja nicht. Es muß sich immer vor Augen gehalten werden: Alle Morde treffen ausschließlich Victor! Victor, der selbst nach dem Tod seines jüngsten Bruders weitere Morde hätte verhindern können, in dem er der Kreatur eine Gefährtin schafft mit der diese sich in die Einöde zurückziehen will, verweigert sich und fordert somit den Tod seines Freundes und seiner Frau heraus.

Die Kreatur verkörpert anschaulich die Ambivalenz von Täter und Opfer. Zuerst Opfer – Victor verstößt seine Schöpfung, verstößt faktisch sein Kind, die Gesellschaft, nur auf Äußerlichkeiten fixiert, Angst vor allem Fremden habend, verweigert der Kreatur die Anerkennung als gleichwertiges Mitgeschöpf, selbst die selbst Ausgestoßenen verweigern ihr ihr Mitgefühl und statt Dank, weil sie einem kleinen Mädchen das Leben rettet, will man ihres vernichten. Dann erst Täter und das nicht ohne Reue, wie der spätere Monolog an Victors Totenbett zeigt. Der zwar für den heutigen Leser etwas zu theatralisch wirkt, aber nichtsdestotrotz ein leidenschaftliches Plädoyer für Menschlichkeit und Toleranz ist.

 

Mary Wollstonecraft (Godwin) Shelleys Roman ist trotz seiner 190 Jahre, die er mittlerweile alt ist, aktueller denn je. Nicht allein vor dem Hintergrund der Gentechnik, sondern die Autorin vertritt auch die Erkenntnis, daß nicht die Herkunft sondern das soziale Umfeld den Mensch prägt, daß Menschen die an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden aus welchen fadenscheinigen Gründen auch immer und sei es nur weil sie anderes aussehen – z. B. Hautfarbe – anderes leben – z. B. Homosexuelle – denen man eine Zukunftsperspektive verweigert, weil man sie nicht mehr als Arbeitskräfte benötigt, aus der Ohnmacht ihrer Lage heraus kein anderes Mittel mehr als Gewalt gegen die Mehrheitsgesellschaft sehen, die an ihrer Misere Schuld ist. Man denke nur die Krawalle in mehreren französischen Vorstädten vor zwei Jahren.

Victor Frankenstein wurde am Ende nicht sein Machbarkeitswahn zum Verhängnis sondern seine Verantwortungslosigkeit.

 

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