Kurzes #10 – Überraschender Besuch

von
Armin A. Alexander

Marius und sein Freund, die ihn am Abend zuvor besucht hatten, waren erst in den frühen Morgenstunden gegangen. Als er sie zum Wagen begleitet hatte, zeigte sich im Osten bereits ein heller Streifen.
Unsinnigerweise war er zur selben Zeit wie gewöhnlich aufgestanden. Doch schon bald forderte die durchwachte Nacht ihren Tribut. Herzhaft gähnend hatte er nachgegeben und sich für ein Stündchen oder zwei aufs Sofa im Arbeitszimmer gelegt. Er war kaum in einen wohligen Halbschlummer hinübergeglitten, als es klingelte. Schlaftrunken sah er zum Telephon hinüber, glaubte im ersten Moment, das Klingeln sei von dort gekommen. Ein zweites, diesmal länger andauerndes Läuten belehrte ihn eines besseren. Träge und verschlafen stand er auf und ging nach unten.
»Ich dachte schon du wärst nicht da.«
»Lydia«, rief er erstaunt aus, als sähe er einen Geist, und war sofort hellwach.
»Danke. Begrüßt man so seine alte Freundin?« meinte sie trocken und trat an ihm vorbei ins Haus.
Anscheinend gelang es ihm seit er hier wohnte nicht, seine Besucherinnen adäquat und zu deren Zufriedenheit zu empfangen. Etwas schuldbewußt schloß er die Tür hinter ihr.
Lydia bei sich zu sehen war eine Überraschung und bedeutete letztlich nur eines; selten suchte sie ihn aus einem anderen Grund auf, zumindest wenn sie nicht vorher anrief. Manchmal sah er sie wochen-, ja fast monatelang nicht, immer wenn sie gerade in einer glücklichen Beziehung steckte, oder es glaubte zu sein; meistens traf letzteres zu. Lydia verliebte sich fast so schnell wie Marius, nur häufiger. Allerdings waren Marius’ Liebhaber treuer. Während Marius jede Trennung halbwegs mit Würde bewältigte – er kam zu ihm und klagte ihm einen ganzen Tag lang sein Leid, aber dann war die Sache auch durchgestanden –, löste Lydia ihren Liebeskummer stets in drei Phasen auf; zuerst kompensierte sie die Trennung oral; sie plünderte den Kühlschrank, kaufte dann den halben örtlichen Supermarkt leer. Weil das naturgemäß nicht ohne Folgen bleiben konnte, intensivierte sie ihr regelmäßiges Fitneßprogramm, das sie während ihrer Beziehungen nur sporadisch betrieb – klugerweise war sie vor über zehn Jahren Mitinhaberin eines Fitneß-Studios geworden und längst ihre beste Kundin, nur so schaffte sie es, ihr Gewicht trotz dieser Eß-kapaden zu halten, denn sie war alles andere als eine schlanke Elfe, dafür eine bildhübsche, große muskulöse Üppige, rund einsachtzig messend, an der kein Gramm zu viel und nichts an der falschen Stelle war, auf deren straffen, wenn auch leicht gewölbten Bauch und festen Po manche Gertenschlanke durchaus neidisch werden konnte. Nur ihre üppigen Brüste waren etwas schwer. Hatte sie ihren Körper und vor allem ihre Seele wieder einigermaßen in Form gebracht, suchte sie in der dritten und letzten Phase bei ihm Trost und Aufmunterung. Das selbstredend mit der gleichen Intensität, mit der sie die beiden ersten Phasen bewältigte. Ihre entspannte Mimik, ihre Fröhlichkeit und daß sie mal wieder wirkte, als sei sie gerade von der Titelseite eines Hochglanzmodemagazins entstiegen, waren untrügliche Zeichen für den Beginn jener dritten Phase.
Während sie den Weg in sein Wohnzimmer alleine fand, folgte er ihr gemächlich, war er doch noch nicht wirklich wach. Ihre blaue Lederhose lag wie eine zweite Haut an ihr, betonte ihre muskulösen Beine mit den schmalen Fesseln und das wunderschöne, runde feste Gesäß. Das fast taillenlange braune dichte Haar, durch das er gerne mit den Fingern glitt, fiel weich über ihre runden Schultern, direktes Sonnenlicht überzog es stets mit einem kupfernen Schimmer. Wie üblich duftete es wie die Fülle des Frühlings draußen. Auf den ungewöhnlich hohen Absätzen ihrer Stiefeletten, die sie noch größer erscheinen ließen, schritt sie sicher dahin.
In ihrer Gegenwart vergaß er, daß er ihr zwischendurch gerne grollte, weil sie sich nur selten und vor allem lediglich unter dem obengenannten Anlaß bei ihm blicken ließ.
»Schön hast du es hier«, meinte sie nach einem kurzen Rundblick.
Sie zog die kurze taillierte Lederjacke aus, unter der sie nur ein ärmelloses hellseidenes Top trug, durch das sich ihre Brustwarzen sanft hindurchmodellierten – Lydia verzichtete bisweilen gerne auf einen BH, vor allem während der dritten Phase –, und legte sie nachlässig über die Sessellehne. Sein Blick fiel nicht sogleich auf ihre üppigen Brüste, sondern auf ihre muskulösen Arme, die ein beredtes Zeugnis davon abgaben, daß sie Phase Zwei diesmal besonders intensiv betrieben hatte, was auf eine gleichfalls intensive erste Phase hindeutete, den möglichen Verlauf der dritten ließ er erst einmal außer acht. Zwar wußte er nicht, mit wem sie zusammengewesen war, aber es muß eine andere Qualität als sonst gehabt haben.
Er konnte nicht umhin, zum ungezählten Male festzustellen, daß sie eine der schönsten Frauen war, die er kannte – Saskia und Vivian und Maria und einige andere, ihm auf die eine oder andere Weise nahestehende Frauen mochten es ihm verzeihen –, trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer ausgeprägt weiblichen Rundungen.
»Ich bin auch sehr zufrieden«, meinte er und sah ihr zu, wie sie zum Fenster ging und kurz hinausschaute.
Seinem Tonfall nach konnte es sich gleichermaßen auf das Haus wie auf ihre Anwesenheit beziehen.
»Dein Garten ist ein richtiger kleiner Park. Also hat Marius doch nicht übertrieben«, sagte sie mehr zu sich selbst.
Sie drehte sich um und kam auf ihn zu. Sie umarmte und küßte ihn, wegen ihrer hohen Absätze mußte sie sich ein wenig zu ihm hinunterbeugen, obwohl er eigentlich etwas größer als sie war, was ihm aber keinesfalls mißfiel.
Er hatte den üblichen leidenschaftlichen Kuß erwartet, als hätte sie monatelang auf ein erotisches Zungenspiel warten müssen, doch wurde es ein fast freundschaftlicher Kuß. Das konnte nur bedeuten, daß sie nicht wie üblich bloß für eine Aussprache und anschließend etwas Zärtlichkeit gekommen war. Er war gespannt. Sie ließ ihn auch nicht lange im unklaren.
»Kann ich ein paar Tage bei dir bleiben?« fragte sie ungewohnt zurückhaltend. »Naja, ich war so unklug vorübergehend zu Florian, diesem Ekel«, ihr Tonfall an dieser Stelle drängten ihm Assoziationen zu Mordgelüsten auf, »zu ziehen und meine Wohnung derweil einer Freundin zu überlassen. Und solange bis sie etwas Neues hat, bin ich ohne Wohnung. Es ist auch nicht für lange. Für eine, höchstens aber zwei Wochen«, beeilte sie sich zu versichern und lächelte etwas verlegen.
Er fragte sie nicht, warum sie ihre eigene Wohnung nicht mit dieser Freundin teilen konnte oder auch wollte, wahrscheinlich war jene nicht allein dort. Wollte sie darüber sprechen, würde sie es schon früh genug tun. Unabhängig davon hatte er absolut nichts dagegen einzuwenden, blieb sie eine Zeitlang bei ihm. Wie lange war sie schon nicht mehr länger als ein oder zwei Nächte bei ihm geblieben?
»Von mir aus kannst du auch ein halbes Jahr bleiben. Du weißt, daß du mir immer willkommen bist«, sagte er eine Spur zu begeistert, wie er fand, umarmte sie und drückte sie mit fast schon mit übertriebener zärtlicher Leidenschaft an sich.
Auch wenn es tiefen Egoismus ausdrückte, er war froh, daß ihre Beziehungen selten länger als ein paar Monate hielten und sie anschließend stets bei ihm Trost und Aufmunterung suchte.
»Du bist lieb«, sagte sie, ließ sich seine zärtlich feste Umarmung gefallen und küßte ihn nun mit der ihr eigenen Leidenschaft, mit der sie letztlich alles tat. Ihm blieb nichts anderes übrig, als es über sich ergehen zu lassen.
Während Lydia sich mit einem Papiertuch die Spuren der soeben auf der Couch genossenen Lust entfernte – wie bereits erwähnt, war Lydia stark oralorientiert – und ihr Make-up auffrischte, genauer gesagt ihren Lippenstift erneuerte, ansonsten benutzte sie nur noch einen Kajalstift, mit dem sie ihre tiefbraunen Augen betonte, holte er, sichtlich mit sich und der Welt zufrieden, ihr Gepäck aus dem Wagen, das eher für zwei Monate denn für zwei Wochen kalkuliert war, wenn sie nicht gar ihren ganzen Hausstand mit sich führte.
»Wo bringst du mich unter?« fragte sie, während sie im Türrahmen des Wohnzimmers stehend ihr Top in den Hosenbund schob.
Den kleinen roten Fleck unterhalb ihrer rechten Schulter würde sie mit einem Papiertaschentuch nicht so leicht wegbekommen, aber er hatte diese Frau wirklich zum Fressen gern, dachte er, während er sagte:
»Wohin wohl schon? In mein Schlafzimmer selbstverständlich.«
»Hast du kein Gästezimmer?« Es war eine reine Anstandsfrage und nach der vergangenen halben Stunde auf seiner Couch auch eine reichlich überflüssige.
Aber so war Lydia nun einmal, sie drängte sich ungern auf, konnte vor allem schlecht Nein sagen, was ihre Männer in einem atemberaubenden Tempo erkannten und in der Regel noch schneller ausnutzten. Erkannte sie es, war es meist schon zu spät für eine gütige Trennung. Dabei war sie in der Redaktion als reißende Tigerin gefürchtet, wenn es darum ging, eine Sache an die sie glaubte, durchzusetzen.
»Doch, habe ich. Aber was willst du dort? Wir wissen beide, daß du es ohnehin nicht benutzen wirst. Außerdem fürchte ich mich allein im Dunkeln«, fügte er scherzhaft hinzu.
Es war seine Art zu zeigen, wie überflüssig er ihre Frage fand.
Er ging mit einem großen Koffer und einer Reisetasche, die Ziegelsteine zu enthalten schien, nach oben.
Lydia nahm die anderen beiden Reisetaschen und das Beauty-case, die er im Flur abgestellt hatte und folgte ihm.
»Dein Arsch ist immer noch so herrlich knackig«, meinte sie fröhlich, als sie hinter ihm die Treppe hinaufstieg. »Das macht mich richtig scharf.«
»Man dankt«, erwiderte er trocken.
Derart direkte Komplimente würden ihm immer etwas unangenehm bleiben, obwohl er längst nicht mehr sagen konnte, wie oft und von wie vielen Frauen er sie schon vernommen hatte.
In seinem Schlafzimmer angekommen, stellte er den Koffer und die Reisetasche vor dem Bett ab. Dann öffnete er die letzte Tür des Kleiderschranks, die zwei älteren Jacken, die dort hingen, nahm er heraus und brachte sie im Fach nebenan unter.
»So, hier kannst du deine Sachen einräumen, und den Rest in die obere Kommodenschublade.«
Lydia zog besagte Schublade auf und holte ein blauseidenes Höschen heraus.
»Vivian hat dich also auch mal wieder besucht«, meinte sie schmunzelnd, während sie das Höschen hochhielt. Sie roch kurz daran. »Muß aber schon etwas her sein. Das riecht nur noch nach Schublade.«
»Gut beobachtet«, meinte er lachend und auch ein bißchen verlegen.
Zwar mochte er es, wenn Vivian ihm diese kleinen ›Präsente‹ daließ, aber vor anderen, besonders vor einer anderen Frau, war es ihm doch ein wenig peinlich.
»Sie ist die einzige Frau, die ich kenne, die dir das Höschen überläßt, in dem sie feucht geworden ist«, meinte Lydia salopp, zog die Schublade darunter auf und legte es zu seinen Unterhosen. »Hier ist es besser aufgehoben«, meinte sie fast schon teilnahmsvoll und begann auszupacken.
»Wenn etwas ist, rufe mich. Ich mache uns einen Tee und eine Kleinigkeit zu essen«, sagte er und ging nach unten.
Mit Lydia kam eine angenehme Abwechslung in sein Heim. Auch während der drei Tage in der Woche, die sie halbtags in der Redaktion war, war doch stets etwas von ihr im Haus. Dort wo sie war, erfüllte sie alles mit Leben. Zudem profitierte er von ihrem deutlichen Hang zum Exhibitionismus, in den aber auch ein gesundes Maß von Eigenliebe mit hineinspielte – er kannte keine Frau, die so mit sich und mit ihrem Körper in Einklang war –, was sich vor allem in ihrer Vorliebe für körperbetonte Kleidung zeigte. Hautenge Lederhosen trug sie ebenso gerne wie enge Röcke, tiefe Dekolletés, hauchzarte Strümpfe und hochhackige Schuhe. Lydia war Strumpfliebhaberin. Er kannte keine Frau, die so viele verschiedene Strümpfe besaß und mit einer Selbstvergessenheit anzog wie sie.
Oft machte sie, während er schrieb, es sich auf dem Sofa in seinem Arbeitszimmer bequem, nur mit einem leichten Négligé bekleidet, die langen, selbstverständlich bestrumpften Beine mit hochhackigen Riemchensandaletten an den Füßen, leicht angewinkelt, das lange Haar weich über die runden Schultern fließend, seitlich liegend und in einem Buch lesend. Ein Bild voller Sinnlichkeit und Schönheit, das in ihm nicht unbedingt nur Begehrlichkeit weckte, sondern vor allem ein überaus ästhetischer Anblick war. So hatte er sich immer seine persönliche Muse vorgestellt. Und in der Tat ging ihm das Schreiben in ihrer Gegenwart leicht von der Hand.
Noch mehr genoß er es, an der Seite dieser so klugen wie schönen und sehr liebenswerten Frau einzuschlafen und vor allem aufzuwachen. Mußte sie morgens nicht in die Redaktion, blieben sie sogar etwas länger gemütlich aneinandergekuschelt liegen, plauderten oder lauschten einfach auf die hereindringenden Naturgeräusche, beobachteten das Spiel der Gardine im hereinströmenden Luftzug, sahen wie der Lichtfleck, den die Morgensonne ins Zimmer warf, langsam über den Boden von der gegenüberliegenden Wand bis zum Fenster wanderte. Arbeitete er nicht an seiner Erzählung, widmete er sich ganz ihr. Die Rollen von Muse und Künstler zwischen ihnen hätte für ihn auch ruhig vertauscht sein können. Was er auch an ihr mochte und noch mehr bewunderte, waren ihre phantasievollen erotischen Ideen. Es wurde nie langweilig mit ihr. Verständlich, daß sie sich bisweilen bis zur wirklichen Erschöpfung liebten, so daß beide kaum noch die Kraft aufbrachten, auch nur das kleinste Glied zu bewegen.
Nahm er alles zusammen, fiel es ihm schwer zu verstehen, warum sie mit ihren Männern nicht klar kam, oder besser, warum diese nicht mit ihr. Oder war es gerade weil sie so viel Phantasie und Eigeninitiative entwickelte? Weil sie so eine starke Persönlichkeit und überdurchschnittlich intelligent und gebildet war? Und weil sie zu allem Überfluß auch noch die Inkarnation eines feuchten Traumes unzähliger Männer verkörperte? Er dagegen hatte bei ihr nie das Gefühl, daß sie ihm nicht nur im erotischen Bereich das Heft aus der Hand nahm. Aber wurden die meisten Männer nicht von Angst und Hilflosigkeit befallen, wenn sie den Eindruck hatten, daß dies geschah? Es lag sicherlich nicht allein daran, daß Lydia mit ihrer Aktivität die Initiative beanspruchte, sondern viel mehr daran, daß sie sich zugleich weit öffnete, ihr Innerstes zeigte, ihre ›Schwächen‹ – insofern man es als Schwäche bezeichnen will, wenn ein Mensch zu seinen Gefühlen, seinen Wünschen steht –, was vielen Männern, und nicht nur denen, mindestens suspekt ist. Allerdings konnte er sich eine Beziehung auch nur zu intelligenten und selbstbewußten Frauen vorstellen.

Auszug aus dem Roman: »Die Villa nebenan« »Bei Amazon

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