Karl Mays »Waldröschen« – mehr als nur ein Kolportageroman

von
Armin A. Alexander

Interpretationen

Von den südlichen Ausläufern der Pyrenäen her trabte ein Reiter auf die altberühmte Stadt Manresa zu. Er ritt ein ungewöhnlich starkes Maulthier, und dies hatte seinen guten Grund, denn er selbst war von hoher, mächtiger Gestalt, und wer nur einen einzigen Blick auf ihn warf, der sah sofort, daß dieser riesige Reitersmann eine ganz ungewöhnliche Körperkraft besitzen müßte. Und wie man die Erfahrung macht, daß gerade solche Kraftgestalten das frömmste und friedfertigste Gemüth besitzen, so lag auch auf dem offenen und vertrauenerweckenden Gesichte, und in den treuen, grauen Augen dieses Mannes ein Ausdruck, der keinen Glauben an den Mißbrauch so außerordentlicher Körperstärke aufkommen ließ.

 

Mit dieser Charakterisierung einer der Hauptpersonen, des Doktor Sternau, beginnt der erfolgreichste deutsche Kolportageroman des 19. Jhd. Erschienen in 109 Lieferungen auf 2612 Druckseiten vom 2.12.1882–16.08.1884. Übersetzt unter anderem ins Englische, Tschechische, Niederländische, Italienische, Slowenische und Polnische.

Kolportageromane waren im 19. Jhd. das Äquivalent zu heutigen Fernsehserien wie »GZSZ«, »Lindenstraße«, um wahllos zwei zu nennen, mit in der Regel vergleichbarem Qualitätsniveau. Sie erschienen in wöchentlichen Lieferungen immer Samstags, weil dann die Arbeiter ihren Wochenlohn erhielten und sich mit Lesestoff für den Sonntag versorgten.

Die Mehrzahl jener Kolportageromane ist heute zu recht vergessen. Pseudonyme waren die Regel und nicht nur weil viele Autoren mit diesen Texten nicht in Verbindung gebracht werden wollten, sondern vor allem dem Verkaufserfolg geschuldet. »Das Waldröschen« nannte einen gewissen Capitain Ramon Diaz de la Escosura als Autor, was natürlich exotischer als der unverkennbar deutsche Name Karl May klingt. Auch wenn »Das Waldröschen« eine reine Auftragsarbeit war, geboren aus der finanziellen Not des Autors, so zeigt »Das Wäldröschen« bereits alle Merkmale der späteren Reiseromane, die Karl May zu einem anerkannten Autor werden ließen. Ebenso finden sich seine frühen Dorfgeschichten, Humoresken, Schwänke und historische Erzählungen darin wieder.

Der Erfolg des »Waldröschen« brachte May finanzielle Sicherheit. Und doch wollte er später nicht, daß »Das Waldröschen« wie auch seine anderen für Münchmeyer verfaßten Kolportageromane, mit seinem Namen in Verbindung gebracht wurden. Was wohl weniger damit dazu tun hatte, als als mittlerweile anerkannter Autor mit Trivialliteratur in Verbindung gebracht zu werden, sondern war Zeitumständen geschuldet. Schließlich fand sich »Das Waldröschen« auf dem Index des »Königlich Sächsischen Gendarmerieblatt« wieder.

»Das Waldröschen« ist in vielem ein Kind des Wilhelminischen Zeitalters, aber auch ein Werk, das sich mal versteckt mal offen gegen Intoleranz, Obrigkeitsgläubigkeit, der Willkür Herrschender und ihrer Vertreter richtet, die Unterdrückung des einfachen Menschen beschreibt, für Völkerverständigung eintritt, den Kolonialismus ächtet, gegen Rassismus ist. Anliegen von denen Mays gesamtes Werke durchdrungen ist.

»Das Waldröschen« enthält alle Elemente, die für eine spannende Lektüre notwendig sind, dazu von einem sprachgewandten und phantasievollen Autor verfaßt, so daß der Erfolg auch aus heutiger Sicht nicht überrascht. »Das Waldröschen« nur einen Roman zu nennen, hieße tiefstapeln, tatsächlich ist es ein Konglomerat aus verschiedenen Genreromanen, die durch eine Rahmenhandlung miteinander verbunden sind.

Es gibt die zu allem entschlossenen und bereiten Intrigenspinner in der Person der beiden Brüder Gasparino und Pablo Cortejo mit ihren Angehörigen und deren Helfer, u. a. den skrupellosen Kapitän Landola, ein spanisches gräfliches Bruderpaar, Ferdinando und Emanuel Rodrigandas, auf deren Untergang und Vermögen es die Brüder Cortejo abgesehen haben, einen um sein gräfliches Erbe betrogen werden sollender, Mariano alias Alfonzo de Rodriganda, den zufällig in dieses Abenteuer stolpernden (Über-)Helden Doktor Karl Sternau, seines Zeichens renommierter Arzt und berühmter Präriejäger, alias »Der Fürst des Felsens«, unverkennbar das Vorbild Old Shatterhands und Mays alter ego. Überhaupt wimmelt es im »Waldröschen« geradezu von berühmten Präriejägern, »Donnerpfeil« alias Anton Helmer, »Der kleine André« alias Andreas Straubenberger, das Original »Geierschnabel«, um nur die wichtigsten zu nennen. Büffelstirn und Bärenherz sind würdige Vorbilder für Winnetou. Der kleine Kurt Helmers verkörpert den Typus des Wunderkindes. Für den heutigen Leser befremdlich wird der kleine Kurt bereits im Alter von fünf Jahren als erfahrener Jäger geschildert, der es allein schafft, einen Wolf und einen Luchs zu erlegen. Selbstverständlich ist er auch intellektuell seinen Altersgenossen weit voraus. Zum jungen Mann gereift, macht er als Offizier schnell Karriere und wird zum Generalstab abkommandiert. Das muß im Zeitkontext gesehen werden, wo für eine (diplomatische) Karriere eine vorhergehende in der Armee Bedingung war. Das eigentlich Besondere ist, daß Kurt als Sohn eines einfachen Steuermanns eine Karriere macht, die seinerzeit in erster Linie dem Adel vorbehalten war. May thematisiert ausführlich die Ablehnung, die Kurt von seinen adligen Kameraden erfährt. Ebenso treten schöne Frauen, die Opfer der Intrigen werden, und die von wagemutigen Helden beschützt und befreit werden, fast en gros auf. Zum Ende trägt (fast) jeder Held seine Schöne am Arm nach Hause. Diese Frauen bewahren sich alle ihre Tugend, bis sie von ihren Helden zum Altar geführt werden, selbst wenn sie wie die schöne Emilia als Spionin tätig sind, für die gute Sache versteht sich, für die Freiheit Mexikos eintreten und ein Haus führen, in dem hohe französische Offizier ein- und ausgehen.

Die Handlungsorte sind um die halbe Erde verstreut. Sozusagen als Kontrapunkt für die aus damaliger Sicht für den Durchschnittsdeutschen exotischen Schauplätze Spanien, Mexiko und Arabien, spielt ein nicht unwesentlicher Teil in einem kleinen Dorf bei Mainz, das so etwas wie das Herz der Geschichte bildet, und in Berlin.

Der erste Teil könnte gut der Feder eines Alexandre Dumas entsprungen sein und erinnert vom Thema an den »Graf von Monte Christo«, denn wie dieser landet Sternau durch eine Intrige im Gefängnis und gelingt ihm die Flucht mittels einer List.

Der zweite Teil jedoch ist unverkennbar Karl May, der bereits alle Elemente der späteren Winnetou und Old Surehand-Romane aufweist. Selbst die Orientromane werden mit der Flucht des Grafen Ferdinando de Rodriganda aus der Sklaverei in Härär gestreift. Und sogar ein Hauch von Defoes »Robinson Crusoe« ist vorhanden, wenn mehrere Protagonisten unter ihnen Sternau, Büffelstirn, Bärenherz und Anton Helmers vom Kapitän Landola für sechzehn Jahre auf einer einsamen Insel ausgesetzt werden.

Ein großer Teil des Romans spielt vor dem Hintergrund der mexikanischen Befreiungskriege von 1866/67. May vermischt hier auf virtuose Weise seine späteren Reiseromane mit dem historischen Roman und dem sich wiederholenden Thema der unschuldig im Kerker Schmachtenden. Benito Juarez, von den Franzosen entmachteter Präsident Mexikos, unter dessen Führung die Mexikaner die Besatzer bekämpfen, und sein Gegenspieler Maximilian, der 1867 von den Mexikanern hingerichtet wurde, werden als Personen Teil des Romans, wobei Mays Sympathien offen bei den republikanischen Mexikanern und Juarez liegt, dessen Schilderung eine positive Überzeichnung erfährt. Ebenso tauchen Bismark und der König von Preußen kurz auf.

Vor diesem historischen Hintergrund spielt sich der Höhepunkt des Romans ab; die Aufklärung der Machenschaften der Brüder Cortejo. Dabei gerät ein Teil der Helden fast schon unmenschlich grausam von einer Gefangenschaft in die andere. Einem verbrecherischen Pater gelingt es für kurz, nach und nach fast alle in seinem Kloster gefangenzunehmen, selbst die, die den Bedrängten zu Hilfe eilen.

Die Erlebnisse des Präriejägers »Geierschnabel« in Mainz und Berlin sind eine wunderbare Humoreske mit stellenweise kabarettreifen Dialogen über Vorurteile, daß Leute nie nach ihrem Äußeren beurteilt werden sollen. Geierschnabel ist das Original, das Schlitzohr, der Schelm, der sich einen Spaß daraus macht, den Leuten den Spiegel vorzuhalten, ihnen bewußt macht, das nichts so trügerisch ist wie der äußere Schein und daß sich jeder Betrüger problemlos als Graf und Baron ausgeben kann, weil es genug Zeitgenossen gibt, die auf den (schönen) Schein hereinfallen. Er reist in einem unmöglichen alten Anzug, den er sich scheinbar von einem Schneider hat aufschwatzen lassen, nach Berlin. Der Schneider glaubt ihn zu übervorteilen und ist am Ende selbst der Geprellte, da von Geierschnabel von Anfang an durchschaut. Am Ende jedoch wird er selbst Opfer dieses Vorurteils, als er in Bismarks Berliner Residenz dem König begegnet und diesen für einen netten älteren Herrn hält.

Obwohl Mays Sympathie für Freiheit und Gleichheit der Menschen unübersehbar ist, ist seine Systemkritik scheinbar nur verhalten. Es darf aber nicht übersehen werden, daß in diesem Punkt seinerzeit behutsames Agieren notwendig war, andernfalls hätte nicht nur Verbot des Romans, sondern vor allem Verurteilung wegen Majestätsbeleidigung gedroht. Zensur war an der Tagesordnung. Alles was diese Problematik streift, verlegt er daher nach Mexiko.

Zwar werden die Franzosen, namentlich die französische Besatzerarmee in Mexiko äußerst negativ geschildert, doch unmittelbar darauf zu schließen, daß May in das damals übliche Ressentiment vom Erbfeind einstimmt, wäre wohl übertrieben. Denn in den Figuren des »Schwarzen Gérard« und der Emilia, ebenso wie in Professor Letourbier, Lehrmeister Sternaus, wie auch der Frankreichepisode, die zur Auffindung des entführten Graf Emanuel de Rodriganda führt, ist nichts davon zu spüren – Gérard ist zwar nicht gut auf seine Landsleute in Mexiko zu sprechen, doch ist das mehr dem Eindruck des Verhaltens der Besatzer zu schulden. Die Franzosen stehen eindeutig als Stellvertreter für den Kolonialismus an sich.

Immer wieder überrascht Mays umfangreiches historisches Wissen bezüglich Mexiko, den Lebensumständen und Gebräuchen der Ureinwohner, das wie selbstverständlich in die Handlung einfließt und Schulmeisterisches vermeidet.

Selbstverständlich besitzt »Das Waldröschen« auch Schwächen, die unter anderem dem Zeitdruck geschuldet sind, unter denen der Text entstand. Jede Woche eine Lieferung setzte jede Woche ein fertiges Manuskript voraus, das oft genug erst im letzten Moment zum Setzer kam. Dazu eine Handlung, die sich erst beim Schreiben entwickelte, wodurch die eine oder andere Ungereimtheit unvermeidlich ist, bei der der Autor seine ganze Phantasie in die Waagschale werfen mußte. Doch gerade das bildet die eigentliche Stärke des Romans. Ein fast schon intuitives Schreiben, wie es einige Jahrzehnte später die Surrealisten propagierten. Da sieht man gerne über Stellen hinweg, die uns heute als kitschig erscheinen mögen. Wenn von Frauen nur in verniedlichenderer Form geschrieben wird, »Köpfchen«, »Händchen«, etc. Andererseits haben die Schilderung der Liebeserklärung oft was Parodistisches, oder die Protagonisten bemerken selbst, wie albern sie sich doch benehmen, und besitzen nur selten das übertrieben Feierliche, wie es nicht nur für die damalige Zeit üblich war, sondern heute noch im sogenannten Trivialroman und durchschnittlichen Unterhaltungsfilm gang und gäbe ist. Aber so war das 19. Jhd. und sein Verhältnis zu Frauen. Das ist z. B. auch bei Dickens nicht viel anders. Den heute gewohnten Naturalismus in der Literatur gab es noch nicht oder war erst im Enstehen.

Wer jedoch Freude an klassischer, gut erzählter Abenteuerliteratur hat, wird eben so bedient, wie der, der einen der breiteren Leserschaft wenig bekannten Karl May kennenlernen möchte, den interessiert, was May vor seinen großen Reiseromanen verfaßt hat.

 

Der Roman kann in verschiedenen Formaten html und pdf unter: »Das Waldröschen« heruntergeladen werden.

 

Oder wer es lieber gedruckt haben möchte: Hier der erste Band der beginnenden Neuauflage: Karl May: Das Waldröschen Band I »Bei Amazon

 

Wer einen tieferen Blick in Karl Mays Kolportageromane werfen möchte, dem sei der Aufsatz »Karl May und seine Münchmeyer-Romane« von Ralf Harder empfohlen.

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