Charles Dickens »Ein Weihnachtslied /-abend«

von
Armin A. Alexander

Interpretationen

Ein Heiligabend in London Mitte des 19. Jhd. Es ist frostig und neblig. Auf den Tag genau vor sieben Jahren verstarb Jakob Marley, der Kompagnon des alten Ebenezer Scrooge. Scrooge ist ein ebenso erfolgreicher wie unerbittlicher Geschäftsmann, dessen einziger Lebensinhalt die Mehrung seines Reichtum ist. Menschen, die dies nicht schaffen oder – schlimmer noch – für die andere Dinge wichtig sind, verachtet er. Was er seinem einzigen Angestellten Robert Cratchit bezahlt, reicht für ihn und dessen Familie kaum zum Leben, nicht einmal für einen wärmenden Mantel oder neue Kleider für sich und seine Familie. Seinen Neffen, der in bescheidenen Verhältnissen lebt, und der seinem Onkel trotz allem freundlich gesinnt ist, weist Scrooge die Tür als dieser ihn zum Weihnachtsessen bei sich und seiner jungen Frau einladen will. Zwei Herren, die für wohltätige Zwecke sammeln und ihn um eine Spende für die Ärmsten bitten, brüskiert er. Er gibt ihnen zu verstehen, daß er Gefängnisse und Armenhäuser für sinnvolle Einrichtungen hält, außerdem unterstütze er bereits diese Institution und »[–] wem es schlecht geht, der mag sich dorthin [in die Armenhäuser Anm. d. A.] begeben![–]«. Auf die Entgegnung eines der beiden Herrn, daß viele lieber streben würden, als dorthin zu gehen, erwidert Scrooge kalt, stürben sie, dann würden sie die überflüssige Bevölkerung vermindern. Darauf erkennen die beiden Herrn die Vergeblichkeit ihrer Bemühungen und gehen.

Scrooge geht, nachdem er seinem Angestellten nur widerwillig den morgigen Weihnachtstag freigegeben hat, in sein Haus, das einsam und dunkel in einem Hof liegt. Alles scheint wie immer zu sein, doch dann erscheint ihm der Geist seines verstorbenen Kompagnon. Er schildert Scrooge, wie er gezwungen ist, wie viele andere arme Seelen gleich ihm, durch die Welt zu irren, weil »[–]mein Geist immer in den engen Grenzen unserer Wucherhöhle [blieb] [–]«. Die Ketten, die Jakob Marley als Geist tragen muß, habe er sich im Leben selbst geschmiedet, weil sein Streben einzig auf Materielles konzentriert war und nicht auch auf Soziales. Scrooge beginnt die Angst zu packen, doch Marleys Geist erklärt, daß sich für Scrooge ein vergleichbares Schicksal noch abwenden kann, wenn er sich ehrlich ändert. Scrooge würde in den folgenden Nächten von drei Geistern Besuch erhalten, die ihm seine Vergangenheit, seine Gegenwart und seine Zukunft vor Augen führten. Daraufhin verschwindet Marleys Geist und läßt Scrooge verstört zurück.

Scrooge schläft ein und erwacht zur angegebenen Stunde. Der erste Geist – der Geist der zurückliegenden Weihnachten – erscheint und führt Scrooge in dessen Vergangenheit. Er zeigt Scrooge wie er als kleiner Junge Weihnachten in einem heruntergekommenen Internat verbringen mußte, wie der kleine Scrooge Freude daran besaß, in die Phantasiewelten seiner Bücher hineinzutauchen. Wie er einige Jahre später von seiner jünger und einzigen Schwester der Mutter seines Neffen nach Haus geholt wird, weil es ihr Vater es jetzt erlaube. Wie er als aufgeweckter und lebensfroher Lehrling an einem Fest seines damaligen Lehrherrn teilnimmt. Wie er selbst an den kleinsten Dingen – an Bagatellen, wie der Geist sagt – Freude findet. Wie Scrooges Braut die Verlobung löst, weil Scrooge begonnen hat, das Gold mehr alles andere zu schätzen. Der Geist zeigt Scrooge ehemalige Braut als glückliche Ehefrau und Mutter, während Scrooge in Einsamkeit leben muß. Scrooge wird sich bewußt, daß sein Leben eigentlich leer ist. Der Geist verschwindet. Scrooge wird vom Schlaf übermannt.

Der zweite Geist erscheint und zeigt ihm die Gegenwart. Er führt ihn ins Heim seines Angestellten, wo dieser von Freude und Glück erfüllt in Harmonie Weihnachten feiert, obwohl es an allen Ecken und Enden fehlt. Außer seinem Angestellten empfindet die ganze Familie Verachtung für den hartherzigen Scrooge. Scrooge erfährt zudem, daß der jüngste körperbehinderte Sohn stirbt, wenn er keine bessere ärztliche Behandlung bekommt. Scrooge bedauert das ehrlich. Doch der Geist zitiert ihn: »[–]Wenn es [das Kind] sterben soll, ist es besser, es tut es gleich und verringert die überflüssige Bevölkerung[–]«. Scrooge ist beschämt, doch der Geist redet ihm sogleich ins Gewissen. »[–] nimmt dich in acht vor solchen verfluchungswürdigen Reden, bis du entdeckt hast, was ›überflüssig‹ eigentlich besagen will und wo man es findet! Maßest du dir an zu entscheiden, welche Menschen leben und welche Menschen sterben sollen? Vielleicht bist du in den Augen des Himmels unwürdiger und ungeeigneter zu leben, als Millionen wie dieses armen Mannes Kind. [–]«. Worauf Scrooge demütig das Haupt senkt. Nachdem der Geist Scrooge noch andere Menschen zeigt, wie sie an unterschiedlichen Orten unter unterschiedlichen Umständen fröhlich Weihnachten begehen, führt er ihn zum Haus seines Neffen. Dieser feiert inmitten seiner Freunde und seiner Frau ausgelassen Weihnachten und bemitleidet seinen Onkel aber verurteilt ihn nicht, während die anderen eine weniger positive Meinung von Scrooge besitzen. Scrooge lebt auf, nimmt mit Freuden an den Spielen der Bewohner teil, obwohl sie ihn nicht sehen oder hören können. Auf dem Höhepunkt seines Glücksgefühl führt der Geist ihn wieder in Scrooges Haus zurück. Hier bemerkt Scrooge, wie stark der Geist gealtert ist und die beiden ärmlichen Kinder an seiner Seite, deren Namen »Unwissenheit« und »Not« sind. Auf Scrooges Frage, ob die Kinder denn keine Zufluchtsstätte hätten, zitiert der Geist ihn erneut »Gibt es keine Gefängnisse? [–] Gibt es keine Armenhäuser?« Scrooge ist beschämt und voller Angst vor seiner Zukunft.

Der Geist verschwindet und unmittelbar darauf erscheint der dritte, furchterregend und bedrohlich: Der Geist der Zukunft. Dieser zeigt Scrooge wie nach dessen Tod niemand ein freundliches Wort für ihn besitzt, wie seine Leiche gefleddert wird. Wie einer seiner Schuldner erleichtert über seinen Tod ist, weil er ihm Aufschub ermöglicht und weiß, daß sein Erbe humaner mit ihm umgehen wird. Wie Scrooges Neffe mit dem von ihm geerbten Geld verantwortungsvoller umgeht. Zum Schluß führt ihn der Geist zu einem heruntergekommenen vergessenen Grab. Scrooge liest den Namen des Verstorbenen auf dem Grabstein – es ist seiner. Scrooge erkennt, daß sein bisheriges Verhalten falsch war und daß er nur eine einzige Chance hat, dieser Zukunft zu entgehen.

Als der Geist verschwunden ist, bemerkt Scrooge erleichtert, daß er noch lebt, daß es früh am Weihnachtsmorgen ist und daß alles was er zuvor erlebt hat innerhalb einer einzigen Nacht geschehen ist. Er ist wie ausgewechselt. Er beauftragt einen am Haus vorbeikommenden Jungen den großen Puter im Geschäft um die Ecke zu kaufen, verspricht ihm ein fürstliches Trinkgeld wenn er sich beeilt. Diesen Puter schickt er seinem Angestellten, aber der darf nicht wissen, wer der Wohltäter ist. Scrooge zieht seinen besten Anzug an und geht aus. Er grüßt alle, die ihm begegnen und nach anfänglichem Zögern wird er auch gegrüßt. Er trifft einen der beiden Herren, die ihn um eine Spende für die Armen gebeten hat. Scrooge entschuldigt sich bei ihm und macht eine mehr als großzügige Spende, denn »[–] es sind viele Rückstände dabei [–]«. Scrooges Weg endet vor dem Haus seines Neffen. Er benötigt einige Zeit bis er sich traut, an dessen Tür zu läuten. Er wird herzlich empfangen und genießt das Weihnachtsfest im Kreis seiner Familie.

Am nächsten Morgen ist Scrooge früh im Kontor, er will seinen Angestellten abfangen, wie dieser zu spät zum Dienst kommt, was tatsächlich geschieht. Doch statt ihn zu rügen, erhöht er dessen Gehalt und sorgt dafür, daß sein kleiner körperbehinderter Sohn die notwendige Betreuung erhält. Scrooge wird zu einem geachteten Bürger und Geschäftsmann. Daß ihn einige Unbelehrbare ob seiner Freigiebig belächeln, kümmert ihn nicht weiter.

 

Charles Dickens Erzählung – auch unter dem Titel »Ein Weihnachtsabend« bekannt – kommt als romantische Weihnachtsgeschichte daher ist aber harte Gesellschafts- und Kapitalismuskritik. Die Figur des Ebenezer Scrooge ist zu recht als Prototyp des eiskalten, nur auf den eigenen Vorteil bedachten Kapitalisten, der für alle, die es aus welchen Gründen auch immer nicht selbst zu Reichtum gebracht haben, lediglich Verachtung übrig hat, in die Literaturgeschichte eingegangen. Dickens demonstriert mit Scrooges Aussage »Wenn sie [die Armen] eher lieber sterben würden [–] so wäre es gut, wenn sie das ausführten und die überflüssige Bevölkerung verminderten.[–]« die menschenverachtende Seite eines sich ungehemmt ausbreitenden Wirtschaftsliberalismus, der zu Dickens Zeiten bereits Realität war und noch nicht die Vorsilbe Neo- besaß. Bezeichnend die Antwort die Dickens dieser Einstellung erteilt, indem er den zweiten Geist sagen läßt: »[–] nimmt dich in acht vor solchen verfluchungswürdigen Reden, bis du entdeckt hast, was ›überflüssig‹ eigentlich besagen will und wo man es findet! Maßest du dir an zu entscheiden, welche Menschen leben und welche Menschen sterben sollen? Vielleicht bist du in den Augen des Himmels unwürdiger und ungeeigneter zu leben, als Millionen wie dieses armen Mannes Kind. [–]« Dickens verdeutlicht damit, wer die eigentliche Belastung für die Gemeinschaft ist, wer sich wirklich asozial verhält und daß nicht die Armen sondern die Reichen das Problem sind, die ihren Reichtum auf Kosten anderer erwerben und zugleich meinen sich der sozialen Verantwortung, die jeder Mensch den Anderen gegenüber besitzt, entziehen zu können.

Die drei Geister zeigen Scrooge nicht einfach Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern in erster Linie Scrooge Sozialisierung, die Alternative zu Scrooges bisherigem Leben und die – möglichen! – Folgen.

Scrooge war einst das lebensfrohe Kind eines strengen selbstherrlichen Vaters, der seinen Sohn über Weihnachten in einem heruntergekommenen Internat ließ. – Dickens hat mehrfach Kritik am Schulsystem seiner Zeit geübt. – Dieser Vater scheint seine Meinung geändert zu haben »[–]Der Vater ist soviel freundlicher als sonst, daß es bei uns wie im Himmel zugeht[–]« und erlaubt der Tochter, den jungen Scrooge heimzuholen. Noch als Lehrling hat Scrooge nichts von seiner späteren Einstellung an sich. Doch nur wenige Jahre später löst seine Braut die Verlobung weil ein »[–]anderes Götzenbild[–]« sie verdrängt hat ein »[–]goldenes[–]«, was als offene Anspielung auf den in der Bibel erwähnten »Tanz ums goldene Kalb« und auf Mammon zu sehen ist.

Der zweite Geist zeigt Scrooge, daß Glück, Liebe und Freundschaft nicht vom Geld abhängig sind, daß nur wer viel und gerne gibt auch viel zurückbekommt.

Zwar wird Scrooge Zukunft vom dritten Geist als scheinbar hoffnungslos geschildert, dennoch läßt Dickens keinerlei Zweifel daran, daß die Zukunft immer nur ein Kann-sein ist und nicht zwingend feststeht sondern einzig von den Handlungen der Gegenwart abhängt. Daß negative Zukunftsprognosen nicht unabwendbar sind, sondern ihren Sinn einzig darin haben, sich der aktuellen Probleme bewußt zu werden und Strategien zu deren Bewältigung zu entwickeln. Eine Chance die Scrooge ergreift.

Scrooge ist zwar geläutert, aber Dickens erschöpft sich nicht in Sozialromantik, sondern betont, daß es auch Unbelehrbare gibt, bei denen nichts greift, »[–]daß solcherlei Leute doch blind bleiben würden[–]« und daß nur der ein wirklich erfolgreicher Geschäftsmann ist, der sich seiner sozialen Verantwortung bewußt und bereit ist, sie zu tragen.

 

Auch über 170 Jahre nach ihrer Entstehung 1843 hat Dickens’ Erzählung vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Lage nichts von ihrer Aktualität eingebüßt.

 

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